Parlamentskorrespondenz Nr. 290 vom 09.04.2013

Direkte Demokratie als Chance für Länder und Gemeinden

Enquete des Bundesrats zur BürgerInnenbeteiligung

Wien (PK) – Die BürgerInnenbeteiligung auf Landes- und Gemeindeebene war heute Gegenstand einer parlamentarischen Enquete, zu der die Länderkammer in den Bundesratssitzungssaal des Hohen Hauses lud. Der Titel "Mehr direkte Demokratie, mehr Chancen für die Bürgerinnen und Bürger in den Ländern und Gemeinden" gab dabei den Ton für die Veranstaltung vor, bei der Referentinnen und Referenten in drei Themenblöcken – "Grundsatzfragen", "Praxis und neue Instrumente", "Europa und benachbarte Staaten" – die rechtlichen und politischen Möglichkeiten der Partizipation auf Ebene der Länder und Gemeinden ausloteten.

Mayer: Bürgerbeteiligung braucht regionale und föderale Strukturen

Bundesratspräsident Edgar Mayer begründete in seinen Begrüßungsworten die Einladung zu dieser Enquete mit dem Auftrag an den Bundesrat, als Stimme der Länder aufzutreten. Die Erkenntnis, dass vor allem in Konzepten des Regionalismus und des Föderalismus großes Potential für die Lösung vieler Probleme liegt, führe unmittelbar zu mehr Bürgerbeteiligung und mehr direkter Demokratie, betonte er und verwies dabei auf die Erfahrungen in seinem Bundesland Vorarlberg. Kritisch nahm Mayer in diesem Zusammenhang zu Forderungen nach Abschaffung des Bundesrats Stellung, wobei er zu bedenken gab, dies würde das bundesstaatliche Prinzip in Frage stellen und mehr Zentralisierung hervorrufen, mit der, wie er sagte, niemandem gedient wäre. Bürgerbeteiligung brauche vielmehr regionale Strukturen und föderale Voraussetzungen, stand für Mayer fest, der daraus für den Bundesrat die Devise ableitete: "Aufwerten statt abschaffen!"  

Wallner: Partizipation als Aktivierung von positivem Sozialkapital

Der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner sah das steigende Interesse an direkter Demokratie vor allem auch als Folge des rasanten Vertrauensverlusts in die Politik und meinte, mehr Bürgerbeteiligung und der Ausbau von Volksbegehren seien eine von mehreren Möglichkeiten, gegen diese Politikverdrossenheit anzukämpfen. Wesentlicher war für Wallner dabei aber die Frage, wie es gelingen könne, in einer Zeit der "Verhinderungskultur" die positiven Kräfte der Gesellschaft zu aktivieren und neue Instrumente der Partizipation zu finden, um wieder Vertrauen aufzubauen und eine bessere Beteiligung am politischen Prozess zu ermöglichen.

Gerade in Vorarlberg habe man der Aktivierung von positivem Sozialkapital besondere Bedeutung beigemessen, unterstrich Wallner und erinnerte an das Modell des Bürgerrates. Sein Bundesland habe die partizipative Demokratie bewusst in die Landesverfassung aufgenommen und setze damit ein Zeichen für mehr Bürgerbeteiligung auf Basis neuer Instrumente. Wallner sprach von positiven Erfahrungen Vorarlbergs mit der verstärkten Partizipation und meinte unter Hinweis auf den Bürgerrat, vieles an Negativem könne dadurch neutralisiert werden. Der Landeshauptmann schloss in diesem Sinn mit einem Bekenntnis zu mehr Bürgerbeteiligung und versicherte, Vorarlberg werde diesen Weg weiter beschreiten.   

Öhlinger: Direkte Demokratie muss von unten wachsen

Einen ausführlichen Überblick über die Instrumente der direkten Demokratie, die in der Bundesverfassung verankert sind, gab sodann der emeritierte Universitätsprofessor Theo Öhlinger. Volksabstimmungen gab es in der Geschichte der demokratischen Republik auf Bundesebene bislang nur zweimal (Zwentendorf und EU-Beitritt), eine Volksbefragung überhaupt nur ein einziges Mal unlängst bei der Wehrpflicht, erinnerte er. Lediglich Volksbegehren kamen bereits mehr als dreißig Mal zustande, die allerdings bislang regelmäßig mit einem für die Initiatoren enttäuschenden Ergebnis endeten. Als Beispiel nannte Öhlinger das Bildungsvolksbegehren. Der Nationalrat habe auf dieses Begehren zwar mit der Einsetzung eines besonderen Ausschusses reagiert, letztendlich war der Nationalrat – wie bei allen früheren Volksbegehren – offensichtlich aber nicht bereit oder nicht in der Lage, ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren einzuleiten.

Damit aus einem Volksbegehren im Parlament selbst ein Gesetz entstehen kann (was der verfassungsrechtliche Sinn eines Volksbegehrens ist), müssen nach Auffassung von Öhlinger zwei Voraussetzungen erfüllt werden: Der Gegenstand des Volksbegehrens sollte rechtlich einigermaßen präzise sein und die legislatorische Kompetenz des Parlaments müsste erheblich gesteigert werden. Eine Verbesserung und ein Ausbau der direkten Demokratie würde daher auch eine Stärkung des Parlaments bedingen, meinte Öhlinger. Als problematisch bezeichnete er, dass sich die aktuelle Diskussion zu sehr auf die Bundesebene konzentriert. Bürgerbeteiligung, die ein viel weiterer Begriff als direkte Demokratie ist, müsse von unten wachsen, das zeige gerade das Beispiel der Schweiz. Auf den unteren Ebenen des Staates könne das Interesse, aber auch das Verständnis der Bürger sowie der Politiker für die Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie am besten entwickelt werden.

Haller: Alle Bevölkerungsgruppen befürworten direkte Demokratie

Universitätsprofessor Max Haller (Institut für Soziologie, Karl-Franzens-Universität Graz) präsentierte in seinem Kurzreferat vor allem die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2012 zum Thema direkte Demokratie. Einleitend stellte der Wissenschaftler fest, dass das generelle politische Interesse sehr gering und weiter rückläufig sei. Wenig Zufriedenheit gebe es auch mit den gewählten VolksvertreterInnen und der Arbeit des Nationalrats. Ein wichtiges Resultat der Umfrage sei jedoch, dass über alle Gruppen hinweg eine sehr starke Befürwortung zum Ausbau der direkten Demokratie erkennbar ist. Besonders starke Unterstützer finden sich dabei in den Gruppen der politisch Interessierten (84 %), den Anhängern der Oppositionsparteien (90 %), der mit der aktuellen Demokratie Unzufriedenen (82 %) und den VorarlbergerInnen (88 %).

Die Ergebnisse der Umfrage zeigten zudem eindeutig, dass es durch die Anwendung von mehr direktdemokratischen Instrumenten zu einer Steigerung des Interesses der Bevölkerung an den zur Abstimmung gebrachten Themen komme und sich die Chancen der weniger gebildeten Schichten erhöhen würden, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Um diese positiven Effekte zu erreichen, müssten allerdings einige Voraussetzungen erfüllt werden: Die Hürden für die Einleitung von Abstimmungen dürfen nicht zu hoch sein (in der Schweiz derzeit 100.000 bzw. 50.000); die Fragen müssen allgemein verständlich und eindeutig formuliert und mit Ja oder Nein zu beantworten sein (negatives Beispiel: Italien); es müssen auch die klar absehbaren Implikationen einer Entscheidung dargestellt werden; vor jeder Abstimmung muss die Bevölkerung umfassend informiert werden und die Abstimmung muss direkt zu Konsequenzen führen. Die Umfrage belege auch deutlich, dass ein Mehr an direkter Demokratie nicht automatisch zu fragwürdigen, chauvinistisch-nationalistischen Resultaten oder zu menschenrechtlich problematischen Entscheidungen führen würde, unterstrich Haller, wie dies oft von Kritikern vorgebracht werde.

Hellrigl: Positive Erfahrungen mit Vorarlberger Bürgerräten

Die Entstehungsgeschichte und die Funktionsweise der "Vorarlberger Bürgerräte" erläuterte sodann Manfred Hellrigl (Zukunftsbüro im Amt der Vorarlberger Landesregierung). Dieses Modell wurde ursprünglich in Amerika entwickelt ("wisdom councils") und stehe für ein Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und staatlichen Stellen, erläuterte der Referent. Bereits seit über 20 Jahren habe man sich von Seiten des Landes die Frage gestellt, wie man mit den BürgerInnen besser kooperieren und sie für Themen begeistern könne, da große Veränderungsprozesse nur gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden könnten. Tatsache sei, dass die Gesellschaft vor gewaltigen Herausforderungen stehe und man Antworten darauf finden müsse, wie mit der wachsenden Demokratie- und Politikverdrossenheit umgegangen werden soll. In Vorarlberg wurden daher neue Formen der partizipativen Demokratie entwickelt, die auch in der Landesverfassung verankert wurden.

Die Bürgerräte sind eine kleine Gruppe von Personen (ca. 12-16), die streng nach dem Zufallsprinzip ausgesucht werden und die an einem Wochenende an einem bestimmten Thema arbeiten. Die Herausforderung für diese Gruppe besteht darin, eine gemeinsam getragene Erklärung zu verfassen. Die zahlreichen praktischen Erfahrungen damit – in den letzten sieben Jahren wurden über 40 Bürgerräte zu den verschiedensten Themen auf lokaler, kommunaler und Landesebene durchgeführt – zeigen, dass durch oft simple Mittel große Fortschritte erreicht werden können. Nach Ansicht von Hellrigl ist die Politik generell gefordert, loszulassen und mehr Freiräume für die BürgerInnen zu schaffen, damit diese sich aktiv einbringen können. Bürgerbeteiligung dürfe nicht als lästig betrachtet werden, sondern als unglaubliche Chance, mehr Vertrauen zwischen allen Beteiligten zu schaffen und zu einer starken Zivilgesellschaft beizutragen.

Poier: Instrumente für BürgerInnen

Den Fokus seiner Ausführungen legte Universitätsprofessor Klaus Poier von der Universität Graz auf die Instrumente direkter Demokratie und deren tatsächliche Ausgestaltung auf Länder- und Gemeindeebene. Dabei skizzierte das Mitglied des Österreich-Konvents eingangs die Entwicklung der direkten Demokratie im Bereich der Länder bis zum flächendeckenden Ausbau der Initiativrechte in allen österreichischen Bundesländern. Es gebe in Österreich im internationalen Vergleich auf Länder- und Gemeindeebene eine durchaus beachtliche Palette an Instrumenten, aber einen einheitlichen Katalog an direktdemokratischen Maßnahmen für alle Bundesländer gebe es nicht.

Problemfelder hinsichtlich direkter Demokratie auf Länder- und Gemeindeebene ortete Poier zum einen in den bundesverfassungsrechtlichen Grenzen der Ausgestaltung. Es bestehe hier nach wie vor Unklarheit sowie die Hemmschwelle eines  verfassungsrechtlichen Freiraums. Zum anderen sei die eher bescheiden ausfallende Praxis direkter Demokratie in Österreich und der Dominanz der repräsentativen Vertretungsorgane problematisch. Eine Kultur des Etatismus in Österreich sei ausschlaggebend für das eher unterentwickelte zivilgesellschaftliche Engagement, was sich wiederum auf die Praxis direktdemokratischer Partizipation auswirke, warnte Poier. Instrumente zur direkten Demokratie sollten im Sinne echter Partizipation im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und nicht zur Legitimation bereits getroffener Entscheidungen auf repräsentativer Ebene oder zur Mobilisierung von Parteien im Hinblick auf bevorstehende Parteien eingesetzt werden.  Er empfiehlt, die Initiierung viel stärker in die Hände der BürgerInnen zu legen.

Bachofner: Angebot zur Partizipation wird angenommen

Welche Erfahrungen Wien mit dem Instrument der Volksbefragung gemacht hat, wo Probleme und Grenzen direkter Demokratie diagnostiziert werden konnten und wie sich die Akzeptanz der BürgerInnen auf dieses Initiativrecht gestaltete, waren Themenschwerpunkte, die Christine Bachofner vom Magistrat Wien den anwesenden Enquete-Gästen näherbrachte. Die Stadt Wien pflege bereits seit langer Zeit eine Tradition der direkten Demokratie, wobei sich das Instrument der Volksbefragung seit 40 Jahren zu einem zentralen Element herausgebildet hätte. Besonderes Augenmerk legte Bachofner auf die beiden aktuellsten Volksbefragungen 2010 und 2013 mit dem Titel "Wien will's wissen", mit Themen wie Ganztagsschulen, Nacht-U-Bahn oder Parkraumbewirtschaftung. Eine der zentralsten Erfahrungen sei im Bereich der Stimmabgabe zu verzeichnen, resümierte die Rednerin, denn weit über 90 Prozent der BefragungsteilnehmerInnen hätten die Möglichkeit der Briefwahl genutzt. Ein weiteres Novum zeigte sich im Jahr 2013 im Bereich Information. So sei im Internet weniger auf eigens eingerichteten Diskussionsplattformen diskutiert worden als vielmehr in sozialen Netzwerken wie Facebook. Abschließend meinte Bachofner, dass das Angebot für BürgerInnen, sich demokratiepolitisch zu engagieren und sich stadtpolitisch einzubringen, angenommen wird.

BürgerInnen sollen besser eingebunden werden

In einer anschließenden kurzen Diskussionsrunde meldete sich zunächst Bundesrat Gottfried Kneifel (V/O) zu Wort, der von einer sehr wichtigen Veranstaltung zum richtigen Zeitpunkt sprach. Man müsse sich permanent damit auseinandersetzen, wie der demokratische Prozess verbessert, verfeinert und für die BürgerInnen interessanter gestaltet werden könne. Er, als Politiker, habe überhaupt keine Angst vor mehr Mitbestimmung, betonte Kneifel, vielmehr könnte das Risiko einer schlechten Entscheidung verringert werden. Josef Taucher (S/W) setzte sich dafür ein, vor allem der jungen Generation die Werte und Prinzipien der Demokratie noch besser zu vermitteln. Außerdem müsse man gewährleisten, dass sich wirklich alle Schichten am politischen Prozess und der Weiterentwicklung der Gesellschaft beteiligen können.

Hermann Brückl (F/O) war fest davon überzeugt, dass ein weiterer Ausbau an direkter Demokratie nur mit einem Mehr an Föderalismus zu verwirklichen sei. Er hält das Schweizer Modell für einen guten Lösungsansatz, weil damit die Verantwortung dort hingebracht werde, wo die Menschen zu Hause sind. Bundesrätin Elisabeth Kerschbaum (A/N) hielt es für entscheidend, dass die BürgerInnen im Vorfeld umfassend informiert werden und eine echte Mitsprache erhalten, da sie sonst kaum zu einer höheren Beteiligung an den diversen direktdemokratischen Instrumenten motiviert werden könnten. Nationalratsabgeordneter Christoph Hagen (T) berichtete über seine persönlichen politischen Erfahrungen auf kommunaler Ebene in Vorarlberg und war der Auffassung, dass man mit direkter Demokratie sehr viel bewirken könne. Nachdenken sollte man auch über eine Abschaffung des Bundesrats und darüber, diesen durch die Landeshauptleutekonferenz zu ersetzen, die mit einem absoluten Vetorecht in verschiedenen Bereichen ausgestattet werden könnte. (Schluss) hof/sue/keg

HINWEIS: Fotos finden Sie nach dieser Enquete im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at.


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