Parlamentskorrespondenz Nr. 1044 vom 10.11.2014

Kinder und Jugendliche sollen ihre Lebenswelten mitgestalten können

Parlamentarische Enquete setzt sich mit Partizipation in Familie und Schule auseinander

Wien (PK) – Familie und Schule sind zentrale Elemente im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen. Beide Bereiche wurden daher heute bei der Parlamentarischen Enquete "25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention" ausführlich mit ExpertInnen diskutiert, zu denen auch Jugendliche gehörten.

Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen – mit und ohne Familie

Die Lebens- und Gestaltungsräume von Kindern und Jugendlichen im familiären Umfeld waren Thema des ersten Diskussionspanels der Enquete. Angesprochen wurde dabei auch die Verantwortung der staatlichen Kinder- und Jugendhilfe.

Monika Pinterits, Kinder- und Jugendanwältin in Wien, hielt fest, dass Kinder und Jugendliche die ExpertInnen für ihre eigene Lebenswelt sind. Als solche müssten sie auch von der Politik betrachtet und gehört werden, forderte sie. Kinder- und Jugendrechte seien daher nicht im Familienausschuss als bloßes "Anhängsel" der Familienpolitik zu behandeln, sondern müssten einen eigenen parlamentarischen Ausschuss erhalten.

Olaf Kapella (Österreichisches Institut für Familienforschung) verwies darauf, dass gesellschaftliche Veränderungen auch die Familienformen und das Leben der Kinder und Jugendlichen beeinflussen. Die hohe Scheidungsrate bedeute, dass junge Menschen im Lauf des Lebens mit verschiedenen Familien- und Lebensformen konfrontiert werden. Bereits 9 % der Familien seien Patchwork-Familien. Durchschnittlich 13 % der Kinder und Jugendlichen lebten in Haushalten von AlleinerzieherInnen. Wichtig war für Kapella auch das Thema Gewaltprävention. Die Familie sei auch der Ort, wo viele Kinder und Jugendliche psychische, physische und sexuelle Gewalt erleben. Auch die Schule sei für viele ein Ort von Gewalterfahrungen.

Hilfe auch über das 18. Lebensjahr hinaus

Eine zentrale Forderung des Panels war, dass die Hilfe für Jugendliche in Betreuung nicht mit dem 18. Lebensjahr abrupt enden solle. Gerade von Jugendlichen, die erschwerte Ausgangsbedingungen vorfinden, werde erwartet, dass sie besonders schnell selbständig werden, sagte Elisabeth Hauser (SOS-Kinderdorf). Die Vortragende sprach sich zudem dafür aus, Kinder- und Jugendhilfe nicht nur als Angelegenheit der Länder zu betrachten. Die Vorstellung eines "Corporate Parenting", der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen, müsste gestärkt werden.

Ende 2013 befanden sich rund 40.000 junge Menschen, knapp 2 % aller Minderjährigen in Österreich, in einer Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe, hielt Elisabeth Hauser fest. Ein Mangel der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung sei, dass sie es von vielen Zufällen abhängig mache, ob Hilfe über das 18. Lebensjahr hinaus weiter gewährt wird. Sie warb daher um Unterstützung für die von der Organisation SOS-Kinderdorf gestartete Petition "18plus-Hilfe", die das Recht von über 18-Jährigen auf Unterstützung fordert.

Der aus Afghanistan stammende Mostafa Noori berichtete in diesem Zusammenhang von seinem Leben als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Er sei Österreich zutiefst dankbar, dass ihm eine neue Lebensperspektive gegeben wurde. Leider stehe er seit Vollendung des 18. Lebensjahres vor riesigen Schwierigkeiten. So dürfe er als Ausländer nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Österreich sollte mehr Vertrauen in Menschen wie ihn haben und ihnen ermöglichen, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, sagte er.

Sebastian Merten sprach als jugendlicher Experte das Problem der Betreuung von Jugendlichen an, die Gewalt in der Familie erlebt haben und in Betreuungseinrichtungen untergebracht werden. Es sei ein großes Problem, wenn diese mit achtzehn Jahren keinen Betreuungsanspruch mehr haben, denn gerade sie seien schweren psychischen Belastungen ausgesetzt, wie der Sorge um jüngere Geschwister, die in der Familie zurückgeblieben sind.

Die Forderungen der Jugendlichen nach Gleichbehandlung

Benjamin Kaspar stellte als Rollstuhlfahrer die Situation von Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen in den Mittelpunkt und berichtete seinen Problemen am Schulweg und in der Schule. Züge und Straßenbahnen sind wenig benutzerfreundlich, stellte er fest. Er wünsche sich eine bessere Schulung für ZugbegleiterInnen und LehrerInnen im Umgang mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Er wolle weder Diskriminierung noch Überfürsorglichkeit, stellte er klar.

Michaela Felbauer sprach die in der Verfassung verankerten Rechte von Kindern und Jugendlichen als Frage der Gleichbehandlung an. Das politische Handeln müsse grundsätzlich auch die Bedürfnisse der jungen Menschen berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sah sie es als diskriminierend an, dass gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption nicht erlaubt ist. Wenn die Gesetzgebung das Kindeswohl in den Mittelpunkt stelle, dann müsse sie auch anerkennen, dass gleichgeschlechtliche Paare Kindern dieselbe Fürsorge bieten können, wie andere Familien es tun, argumentierte sie.

In den an die Referate anschließenden Diskussionsbeiträgen wurde ein breites Spektrum weiterer Themen angesprochen. Sie reichten vom Recht der Kinder und Jugendlichen auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung bis zur Stadtgestaltung, die mehr Rücksicht auf junge Menschen nehmen müsse.

Schule als Ort der Demokratievermittlung

Wie Schulen demokratisches Denken und Handeln vermitteln, beleuchtete die Kinderrechte-Enquete bei der Gesprächsrunde zu "Schule und Partizipation". Kernfrage dabei war, wo und wie SchülerInnen aktiv den Schulalltag mitgestalten können. Bildungspsychologin Christiane Spiel und Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann von der Universität Wien sowie Dorothea Steurer, Menschenrechtsexpertin des "Zentrum Polis" für politische Bildung, umrissen ihre Sicht der Thematik in der Diskussion mit SchülerInnen. Allgemeines Credo war: Die Mitgestaltungsrechte der Schülerinnen und Schüler in Österreich sind im Sinne der Gesamtgesellschaft zu stärken.

"Partizipation in der Schule legt den Grundstein für demokratisches Bewusstsein und solidarisches Handeln im Erwachsenenleben", unterstrich Universitätsprofessorin Spiel. SchülerInnen, die an der Gestaltung des Schulalltags mitwirken und Verantwortung übernehmen, würden davon nicht nur in ihrer schulischen Entwicklung profitieren. Sie zeigen später auch mehr Bereitschaft zur politischen Teilhabe und zur Solidarität gegenüber den Mitmenschen, so die Bildungspsychologin. Die Schule müsse daher konkrete Erfahrungen der Partizipation zulassen, inklusive begleitender Reflexion über die Auswirkungen der Mitgestaltung." Partizipation muss die Schulkultur kennzeichnen". Allerdings, betonte Spiel, benötigen die Schulen dafür die nötige Autonomie, genauso sollten Kompetenzen zur Gestaltung partizipativer Unterrichts- und Schulkultur in der PädagogInnenbildung vermittelt werden.

Bildungsexpertin Steurer bekräftigte, PädagogInnen müssten schon während ihrer Ausbildung erfahren, wie SchülerInnen in der schulischen Mitgestaltung professionell begleitet werden. Ziel sei, gelebte Partizipation an allen österreichischen Schulen zu etablieren. "Partizipation ist ein ganz zentrales Kinderrecht", hielt Steurer mit Verweis auf die UN-Kinderrechtskonvention fest. Kinder und Jugendliche hätten also ein Recht auf angemessene Beteiligung in allen Bereichen, die sie betreffen. Um Demokratie an der Schule erfolgreich zu verwirklichen, braucht es ausreichend Zeit und die richtigen Rahmenbedingungen, betonte die Expertin und nannte die Einbindung von politischer Bildung in den Unterricht als wesentliches Element.

Benachteiligung im Bildungsbereich: Ursachen und Folgen

Universitätsprofessor Stefan Hopmann ging näher auf das Problem der Ungleichbehandlung im Schulwesen ein. Österreich habe Nachholbedarf bei den Mitwirkungschancen. Gründe dafür seien das Fehlen an gleichwertiger Inklusion von SchülerInnen mit und ohne Behinderung, außerschulische Faktoren wie die soziale Prägung im Elternhaus und die politische Benachteiligung, vor allem von Kindern mit Migrationshintergrund. "Wer benachteiligt wird, hat weniger Mitbestimmungsmöglichkeit und zeigt weniger Engagement", resümierte Hopmann. Hierzulande stagniere die Bildungs- und Partizipationsentwicklung bestenfalls, konstatierte er, dabei sei Österreich vor hundert Jahren noch Vorreiter in Bezug auf die Mitbestimmungsrechte von SchülerInnen gewesen.

In ihren Eingangsstatements hielten auch die jugendlichen VertreterInnen in der Expertenrunde fest, Mitbestimmung und politische Bildung sollten als Grundprinzip im Schulwesen verankert sein. Für die Ausbildung mündiger BürgerInnen sei ein Pflichtfach "Politische Bildung" unabdingbar, meinte etwa Nicolas Hofbauer. Magdalena Trauner schlug vor, als Unterrichtsprinzip Politische Bildung schon in den Volksschulklassen einen Platz einzuräumen und Matthias Rudischer wünscht sich eine Stärkung der Schülervertretung. Konkret drängte er auf die gesetzliche Verankerung einer Schülervollversammlung und auf vermehrte Mitbestimmungsrechte des Schulgemeinschaftsausschusses an jeder Schule.

Die Barrierefreiheit in Schulbauten als Basis für gleichberechtigten Zugang zu Bildung war in der folgenden Diskussion ebenso Thema wie der Ausgleich sozioökonomischer Unterschiede. (Fortsetzung Enquete) sox/rei

HINWEIS: Fotos von dieser Enquete finden Sie im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at.