Parlamentskorrespondenz Nr. 460 vom 05.05.2015

Unermesslich ist der Dank, den wir ihnen schulden

Das Parlament gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus

Wien (PK) – "Als das Konzentrationslager Mauthausen errichtet wurde, war ich fast zwei Jahre alt. Als die letzten Überlebenden von der US-Armee befreit wurden, war ich acht Jahre alt. Man könnte also denken, dass in meinen Erinnerungen an diese Jahre das KZ-Mauthausen kein Thema wäre. Dem ist aber nicht so." Mit diesen Worten eröffnete die Schriftstellerin Christine Nöstlinger ihre Rede bei der heutigen Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Historischen Sitzungssaal des Parlaments (siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 459). Die Veranstaltung stand heuer – am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen – im Zeichen der Überlebenden der NS-Verbrechen.

Neben Christine Nöstlinger sprachen Nationalratspräsidentin Doris Bures und Bundesratspräsidentin Sonja Zwazl zu den rund 600 Gästen. Im Anschluss wurden Lebensgeschichten der NS-Überlebenden Rudolf Gelbart, Lucia Heilman, Suzanne-Lucienne Rabinovici und Ari Rath vorgetragen - teils von den Überlebenden selbst, teils von SchauspielerInnen des Burgtheaters. Die Aufführung fand im Rahmen der eigens für das Parlament adaptierten Fassung der Burgtheater-Produktion "Die letzten Zeugen" statt.

Nöstlinger: Nicht allzu viel zum Positiven verändert

Nöstlinger thematisierte in ihrer Rede ihre persönlichen kindlichen Erlebnisse mit dem Unrecht der NS-Zeit. Etwa wenn sie von ihrer Mutter hörte, wie SA-Männer den "Herrn Fischl" abführten, in dessen Wohnung und Werkstatt kurz darauf ein "arischer Schuster" einzog. Als Nöstlinger ihre Mutter fragte, wohin denn der "Herr Fischl" gebracht worden sei, bekam sie als Antwort: "Na, ins KZ."

Die Nachkriegsregierungen seien "nicht besonders emsig bemüht" gewesen, die Täter der NS-Zeit zu verfolgen, sagte Nöstlinger weiters. Die Schriftstellerin mahnte, dass sich bis heute "nicht allzu viel zum Positiven verändert" habe. Heutiger Rassismus lehne "schlicht alles Fremde" ab, sehe das eigene Volk durch "Überfremdung" in Gefahr, wittere sogar "Bevorzugung der Ausländer". 

"Wer so denkt, und unter gleich Gesinnten auch so redet", fuhr Nöstlinger fort, "schmiert noch lange keine rassistischen Parolen, wirft keine jüdischen Grabsteine um, beschimpft keine Frauen, die Kopftuch tragen, verprügelt keinen Schwarzen und zündet kein Asylantenheim an. Aber den Menschen, die es tun, geben sie die Sicherheit, auch in ihrem Interesse zu agieren. Sie sind der Nährboden, aus dem Gewalt wächst".    

Bures: Niemals vergessen – eine Bürde und ein Versprechen

Nationalratspräsidentin Doris Bures bedankte sich in ihrer Rede bei den Überlebenden der NS-Verbrechen dafür, dass sie ihre furchtbaren Erlebnisse an die nächsten Generationen weitergegeben haben (siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 457).

"Heutige Generationen haben das Privileg, das Geschehene aus dem Mund jener zu hören, die es selbst erlebt haben", sagte Bures. Diese persönlichen Erzählungen seien für die Nationalratspräsidentin und für viele andere der stärkste Impuls für die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gewesen.

"Es muss den Zeugen dieser schrecklichen Zeit unermessliche, unvorstellbare Kraft kosten, das Erlebte immer und immer wieder zu erzählen und damit immer und immer wieder zu durchleben", fuhr Bures fort. "Unermesslich ist daher auch der Dank, den wir ihnen dafür schulden!"

Die Nationalratspräsidentin schloss ihre Rede mit den Worten: "Nur, wenn wir wissen, was war, und nur, wenn wir wissen, warum es war, können wir verhindern, dass wieder kommt, was niemals wieder sein darf. Niemals vergessen – das ist unser Versprechen. Es entstand aus der Bürde der Überlebenden, niemals vergessen zu können."

Zwazl: Sprache ist das Alarmsignal

Bundesratspräsidentin Sonja Zwazl warnte in ihrer Rede vor einer Verrohung der Sprache (siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 458). "Sprache ist verräterisch", sagte Zwazl. Sprache zeige, wenn in einer Gesellschaft etwas schief laufe. Sprache sei das erste Zeichen, wenn sich Menschen und Gesellschaften radikalisieren würden. "Die Verrohung der Sprache ist das Alarmsignal, das dringend zu Umkehr mahnt."

Zwazl rief weiters dazu auf, "immer und immer wieder aufzustehen und ein klares Nein zu sagen, wenn Radikalismus ein friedvolles Zusammenleben bedroht. Aufzustehen und Nein zu sagen, wenn die Sprache und damit der Umgang der Menschen miteinander verroht". Diese Mahnung, sagte Zwazl, kenne "kein Gestern, Heute oder Morgen". Diese Mahnung sei zeitlos gültig und notwendig. "Das Nein zu Rassismus und Gewalt ist ein Dauerauftrag – für heute, für morgen, für immer."

Der 5. Mai, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, ist seit 1997 der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Nationalratspräsidentin Bures und Bundesratspräsidentin Zwazl begrüßten zur diesjährigen Veranstaltung im Historischen Sitzungssaal des Parlaments zahlreiche Gäste, unter ihnen Überlebende der NS-Verbrechen, der Bundespräsident, der Bundeskanzler und Mitglieder der Bundesregierung. 

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung im Historischen Sitzungssaal kam es im Palais Epstein noch zu einer Veranstaltung mit Überlebenden. Zwei Schulklassen bekamen die Gelegenheit, mit den vier NS-Überlebenden Rudolf Gelbart, Lucia Heilman, Suzanne-Lucienne Rabinovici und Ari Rath ins Gespräch zu kommen.

Am 9. Mai 2015 findet überdies die voraussichtlich letzte Vorstellung des Stückes "Die letzten Zeugen" unter Ehrenschutz von Nationalratspräsidentin Doris Bures im Burgtheater statt. (Schluss) wz

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung  finden Sie im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at.