Parlamentskorrespondenz Nr. 975 vom 23.09.2015

Flüchtlingsströme: Breite Mehrheit im NR für europäische Lösungen

EU-Abgeordnete nützten heute erstmals Rederecht in Europastunde des Nationalrats

Wien (PK) – Die Flüchtlingsbewegungen sind zu bewältigen, aber nur gemeinsam. Davon waren heute in der Aktuellen Europastunde des Nationalrats jedenfalls vier der österreichischen EU-Abgeordneten - nämlich Evelyn Regner (S), Othmar Karas (V), Ulrike Lunacek (G) und Angelika Mlinar (N) - überzeugt. Im Gegensatz dazu sah Harald Vilimsky (F) keinerlei Lösungskompetenz innerhalb der EU.

Einzelmaßnahmen reichen nicht aus, man brauche für die Zukunft ein Gesamtpaket, sagte etwa Karas. Für Regner ist die Flüchtlingskrise ein europäisches Problem, das man nur solidarisch lösen könne. In diesem Sinne begrüßte Lunacek, wie später auch einige Nationalratsabgeordnete, die gestrige Mehrheitsentscheidung der InnenministerInnen zur Aufteilung von 120.000 Flüchtlingen. Das sei ein wichtiger Schritt gegen die Blockadepolitik, meinte sie. Mlinar appellierte wiederum für eine vorausschauende europäische Politik. Europa habe zur Zeit der EG bestens funktioniert, mit dem zentraleuropäischen Kurs hätte die Probleme begonnen, meinte hingegen Vilimsky.

Das Thema der Europastunde lautete: "Die europäische und internationale Dimension der Flüchtlingskrise". Anwesend waren nur fünf EU-Abgeordnete, weil das Team Stronach über keine Vertretung im Europäischen Parlament verfügt.

Bures: Rederecht der EU-Abgeordneten wird heute mit Leben erfüllt

Österreichische Mitglieder des Europäischen Parlaments hatten heute erstmals die Möglichkeit, während einer Aktuellen Europastunde das Wort zu ergreifen. Möglich gemacht hat dies eine Änderung der Geschäftsordnung, die mit 1. August 2015 in Kraft getreten ist.

"Wir erfüllen nun dieses Recht mit Leben", betonte die Vorsitz führende Nationalratspräsidentin Doris Bures. Dieser direkte Meinungsaustausch europäischer und österreichischer Mandatare und Mandatarinnen wurde auch im Laufe der Debatte des Öfteren von RednerInnen ausdrücklich begrüßt. Nicht ganz zufrieden zeigten sich die EU-Abgeordneten mit ihren Sitzplätzen rechts und links des Präsidiums. Diese Regelung ist auch noch nicht fix. Wie die Nationalratspräsidentin bereits im Vorfeld anagekündigt hatte, wird man den Verlauf der heutigen Debatte evaluieren und eine endgültige Entscheidung in der nächsten Präsidiale treffen, wo die EU-Abgeordneten bei künftigen Nationalratsdebatten ihren Sitz einnehmen.

Karas für neuen "Wiener Kongress"

Gerade bei der aktuellen Diskussion über die Flüchtlingsströme sehe man, wohin fehlende Entscheidungsmechanismen und Egoismen führen, übte Othmar Karas (V) Kritik an manchen Äußerungen und Vorgangsweisen seitens einiger Mitgliedstaaten und zeigte sich überzeugt davon, dass diese große Herausforderung nur gemeinsam bewältigbar ist, und zwar mit einem Gesamtpaket. Einzelmaßnahmen reichten nicht aus. Flüchtlingsaufnahme, Unterbringung und Schlepperbekämpfung seien nur die Spitze des Eisbergs. Notwendig seien Grenzschutz, Ursachenbekämpfung, legale Migrationsmöglichkeiten, Antragszentren in Krisenregionen, einheitliche Asyl- und Sozialstandards, eine gemeinsame Liste sicherer Drittstaaten, neue Ansätze in der Integrationspolitik, eine Änderung der Entscheidungsmechanismen. Dazu gehöre ferner, die Einstimmigkeit im Rat durch Mehrstimmigkeit zu ersetzen und den Rat zu einem Senat zu machen, fasste Karas die aus seiner Sicht notwendigen Schritte zusammen.  

Karas appellierte, die aktuelle Situation als eine "Geburtsstunde der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik" zu nützen. Er rief den Nationalrat dazu auf, als Motor für diese Entwicklung zu fungieren und einen "Wiener Kongress" zur Zukunft Europas einzuladen.

Regner: Notwendig ist Hilfe vor Ort

Ähnlich die Linie von Evelin Regner (S), die explizit auf die Beschlüsse des Europäischen Parlaments hinwies, die den Weg zum gestrigen Beschluss der InnenministerInnen geebnet hätten. Ein einheitliches Migrations- und Asylsystem, sichere Korridore und Hilfe vor Ort stehen auch ganz oben auf der Prioritätenliste Regners. Von größter Notwendigkeit erachtet sie Hilfe vor Ort, vor allem in Jordanien, im Libanon und in der Türkei. Regner forderte daher eine entsprechende Aufstockung der finanziellen Mittel.

Lunacek: "Solidarität ist in den Primärverträgen verankert"

"Solidarität ist in den Primärverträgen verankert", unterstrich die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Ulrike Lunacek (G), die sich ausdrücklich hinter den gestrigen Mehrheitsbeschluss der InnenministerInnen stellte und vor allem eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik einforderte. Europa sei ein Einwanderungskontinent, unterstrich sie und zeigte auch großes Verständnis für jene Menschen, die in anderen Ländern bessere wirtschaftliche Bedingungen suchen. In diesem Sinne kritisierte sie einmal mehr die ihrer Ansicht nach zu geringen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit.

Mlinar: Europa ist bisher den Problemen hinterhergelaufen

Die europäische Politik sei nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage den realen Ereignissen hinterhergelaufen, bemängelte Angelika Mlinar (N) und forderte eindringlich, alle Anstrengungen zu unternehmen, um in Hinkunft zwei bis drei Schritte voraus zu machen. Eine Schließung der Grenzen und die Errichtung von Zäunen funktioniert nicht, so die EU-Abgeordnete, eine solche Vorgangsweise verschaffe nur Schleppern Arbeit. Mlinar trat insbesondere für die Öffnung der Botschaften zur Annahme von Asylanträgen ein. Auch sie zeigte sich mit der von den InnenministerInnen beschlossenen Aufteilung der Flüchtlinge zufrieden.

Vilimsky: Österreich hat alle Regeln gebrochen

Ganz und gar nicht in diesen Kanon gemeinsamer europäischer Politik passte die Wortmeldung des freiheitlichen EU-Abgeordneten Harald Vilimsky. Er hält den Schritt von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union für falsch und ortet darin den Grund für vielfache Probleme. Europa manifestiere sich derzeit durch Zank und Hader zwischen Ländern, die früher in Freundschaft verbunden waren, so Vilimsky, der scharfe Kritik auch am Vorgehen der österreichischen Regierung übte. Diese verwechselt ihm zufolge Asylsuchende mit Einwanderern und lässt alle herein. Damit breche man alle Regeln. Grundsätzlich ist für Vilimsky Asyl nur Schuss auf Zeit.

Außenminister Kurz: Flüchtlinge können sich Zielland nicht aussuchen

Ebenso unterstrich Außenminister Sebastian Kurz die Notwendigkeit, Strategien zu entwickeln, um mehr humanitäre Hilfe vor Ort bereitzustellen. Er sprach sich auch dafür aus, in den betroffenen Regionen Asylanträge stellen zu können, denn derzeit kämen nur jene nach Europa, die an fittesten sind und über das Geld verfügen, um Schlepper zu bezahlen. Ferner drängte er darauf, bei der Ursache anzusetzen, nämlich beim IS-Terror und beim Krieg in Syrien. Der Außenminister machte zudem klar, dass es in Zukunft für Flüchtlinge nicht mehr möglich sein dürfe, sich das Zielland auszusuchen. Kurz forderte weiters eine funktionierende Kontrolle der Außengrenzen.

SPÖ: Schlüssel der aktuellen Problematik liegt in der Türkei

Die Wortmeldungen der Europa-Abgeordneten spiegelten sich in den Redebeiträge der jeweiligen Fraktionen wieder. So unterstrich SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder die Genfer Flüchtlingskonvention sowie die EMRK als unverrückbare Grundlagen fundamentaler Menschenrechte, die auch eine Verantwortung darstellen. Die Flüchtlingsströme sind ihm zufolge eine Frage, die man bewältigen könne. Es habe sich aber gezeigt, dass das Europäische System so nicht funktioniert, wie man sich das erwartet hat, stellte er fest. Schieder kritisierte in diesem Zusammenhang die Kürzungen für das UNHCR und das Welternährungsprogramm der UNO und sprach sich dezidiert gegen die Errichtung neuer Grenzzäune in Europa aus.

In gleicher Weise liegt für Josef Cap (S) der Schlüssel für die aktuelle Problematik in der Türkei, die man finanziell unterstützen müsse. Cap lenkte in seiner Rede jedoch den Blick auf die globale Politik und appellierte, das Problem an der Wurzel anzugehen. Die aktuelle Flüchtlingssituation ergebe sich aus dem "postkolonialen Murx" und der Politik der Großmächte USA und Russland, sagte Cap. Die EU wiederum habe es verabsäumt, einen entsprechenden Druck zur Einberufung einer internationalen Konferenz auszuüben, wo alle an einem Tisch sitzen. Als zynisch bewertete er die Politik der Golfstaaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen, aber Geld für 250 Moscheen in Deutschland bereitstellen wollen.

ÖVP: Kein Asyl à la carte

"Die einfachen Lösungen sind nicht immer die richtigen und die richtigen Lösungen nicht immer die einfachen." So leitete ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka seine Rede mit Kritik an der FPÖ ein und setzte dem die Linie der ÖVP entgegen, die ehrliche Antworten geben wolle. In diesem Zusammenhang wies Lopatka auf das 8-Punkteprogramm seiner Partei hin. Darin wird die Solidarität mit den Notleidenden gefordert und dem Asylmissbrauch wie dem Asyl à la carte eine klare Absage erteilt. Ferner setzt sich die ÖVP für eine verstärkte Bekämpfung der Schlepper, eine Konfliktlösung vor Ort, den Aufbau von Schutzzonen, einen verstärkten Schutz der EU-Außengrenzen und eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas ein. Man müsse alle Schritte unternehmen, und alle Bestregungen unterstützen, um den Krieg in Syrien einzudämmen. Lopatka hält es für unerlässlich, die EU-Außengrenzen zu schützen. Auf Grund der gegenwärtiger Ausnahmesituation und im Interesse der inneren Ordnung verteidigte er, dass Schengen kurzfristig außer Kraft gesetzt wurde. Lopatka ließ keinen Zweifel daran, dass nur jene Schutz bekommen können, die vor Krieg fliehen und politisch verfolgt werden. Alle illegal Einreisenden müssten wissen, dass sie zurückgeführt werden.

Ähnlich argumentierte sein Klubkollege Werner Amon, der meinte, es gehe um eine humanitäre Lösung, aber auch darum, die Rechtsstaatlichkeit zu sichern. Amon plädierte dafür, das Problem gemeinsam und jenseits der politischen Farbenkonstellation zu lösen und zeigte Verständnis dafür, dass Ungarn versucht, seine Grenzen zu schützen. Für klare Spielregeln sprach sich seitens der ÖVP Claudia Durchschlag aus. Österreich und die EU können nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen, sagte sie und trat für Asyl auf Zeit sowie eine faire Verteilung, eine gemeinsame Sicherung der Außengrenzen sowie Ursachenbekämpfung und Hilfe vor Ort ein.

FPÖ: Wir haben eine Völkerwanderungskrise

Um ein Problem zu lösen ist es wichtig, das Problem zu erkennen. Das sei aber derzeit nicht der Fall, umriss Johannes Hübner (F) die Sicht seiner Fraktion. Roman Haider (F) sprach von einer "Völkerwanderungskrise".

Man habe seit Jahren den Flüchtlingen signalisiert, dass sie nicht zurückgeschickt werden, sagte Hübner. Ob tatsächlich ein Asylgrund vorliegt, ist seiner Meinung nach nicht wirklich feststellbar. Hübner zeichnete ein Bedrohungsszenario von mehreren Millionen potentiellen Flüchtlingen und Einwanderern nach Europa, was man mit der Errichtung von Hotspots nicht bewältigen könne. Er rief daher dazu auf, den Mut zu haben, ehrlich zu sagen, dass Europa kein Einwanderungskontinent ist.

Haider wies darauf hin, dass Asyl klar definiert sei und es bereits nach geltendem Recht nur auf Zeit vergeben werden könne. Asyl in Österreich könne syrischen Flüchtlingen deshalb nicht gewährt werden, weil sie aus sicheren Drittstaaten kommen, stellte Haider fest. Viele kämen nur aus wirtschaftlichen Interessen. Österreich habe durch seine Vorgangsweise in den letzten Tagen daher sein eigenes Asylgesetz, die Genfer Flüchtlingskonvention und das Völkerrecht gebrochen und den illegalen Weitertransport von Flüchtlingen organisiert. Österreich habe seine Souveränität aufgegeben, so das Fazit Haiders.

Grüne: Wir haben eine Verantwortungskrise

Wir haben eine Verantwortungskrise, konterte Tanja Windbüchler-Souschill (G). Die internationale Staatengemeinschaft habe zu lange zugesehen und Lösungsvorschläge nicht weiter verfolgt, so ihr Vorwurf. Gleichzeitig prangerte sie den Stellvertreterkrieg in Syrien an sowie die vermehrten Waffenlieferungen. Windüchler-Souschill zeigte zwar Verständnis für die Schwierigkeiten Ungarns, die Errichtung von Zäunen hält sie aber für nicht akzeptabel.

Wie bereits Ulrike Lunacek begrüßte auch Alev Korun (G) die gestrige Mehrheitsentscheidung der EU-InnenministerInnen. Das ist ihrer Ansicht nach ein Schritt in Richtung gemeinsame Asylpolitik und gemeinsame Verantwortung. Gemeinsame Asylpolitik ist machbar, zeigte sie sich überzeugt und forderte einheitliche Asylstandards, einen einheitlichen Asylstatus, legale Fluchtwege und die Wiedereinführung des Botschafts-Asyls. Sowohl Korun als auch Windbüchler-Souschill drängten auf mehr Hilfe vor Ort und die Aufstockung der Gelder für das Welternährungsprogramm.

NEOS: Legale Wege für Asylwerbende

Große Versäumnisse orteten auch die Redner der NEOS. Man müsse wissen, wer über die Grenze kommt, sagte Matthias Strolz und forderte eindringlich, gemeinsam Verantwortung für die EU-Außengrenzen zu übernehmen und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren. Wie einige Redner zuvor plädierte er für legale Wege für AsylwerberInnen da man heute die Betroffenen in die Illegalität und in die Hände der Schlepper zwinge. Gleichzeitig müsse man deutlich sagen, dass illegal Einreisende nicht bleiben können. In diesem Sinne trat Gerald Loacker (N) für eine Steuerung der Zuwanderung ein und nannte Kanada und Schweden als beispielgebend. Europa habe noch keinen Zugang zum Thema Migration gefunden, bedauerte er.

Team Stronach: Hilflosigkeit nationaler und europäischer Politik

Ähnlich wie die FPÖ kritisierte auch das Team Stronach die Öffnung der Grenzen für die Flüchtlingen aus sicheren Drittstaaten. Für Christoph Hagen (T) liegt das Grundproblem in der "Einladung" von Bundeskanzlerin Merkel, auf die Europa nicht vorbereitet gewesen sei. In Österreich sei es ein Trugschluss gewesen, dass alle Flüchtlinge nach Deutschland gehen, sagte Hagen und warnte vor der großen Zahl der Wirtschaftsflüchtlingen, die vor allem aufgrund der sozialen Versorgung kommen. Hagen möchte auch viel mehr Griechenland in die Pflicht bei der Registrierung der Flüchtlinge nehmen. Was wir jetzt erleben, ist die Hilflosigkeit nationaler und europäischer Politik, fasste Waltraud Dietrich die Sicht des Team Stronach zusammen. Man wisse nicht, was noch komme und man dürfe die Augen nicht davor verschließen, dass der Flüchtlingsstrom Europa und Österreich verändern werde. Dietrich verteidigte den Weg Ungarns als legitim, weil die EU ihren Verpflichtungen nicht nachkomme.

Als letzte zu Wort meldete sich Jessi Lintl (o.F.), die Hilfe vor Ort, die Sicherung der Außengrenzen, eine faire Verteilung der Flüchtlinge und einen Migrationsplan einforderte.

(Schluss Europastunde, Fortsetzung Nationalrat) jan