Parlamentskorrespondenz Nr. 472 vom 09.05.2016

Gedenkveranstaltung im Parlament: Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures

Wir müssen auf der Hut sein! Auf der Hut sein, wenn unantastbar geglaubte Tabugrenzen überschritten werden

Wien (PK) – Die Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures anlässlich der diesjährigen Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in vollem Wortlaut:

"Gestern war ein Tag der Freude! Einige von Ihnen waren vielleicht selbst am Heldenplatz. Andere haben die Bilder im Fernsehen gesehen: Tausende Menschen, die gemeinsam ein Fest der Freude feiern, am 8. Mai – jenem Tag, an dem die Wehrmacht vor den Alliierten kapitulierte und der verbrecherische Vernichtungskrieg in Europa sein Ende fand.

Das war nicht immer so: Vor wenigen Jahren noch haben sich am Heldenplatz jedes Jahr eine Handvoll Menschen versammelt, die diesem Tag mit Trauer begegnet sind. Aber heute ist rund um die Hofburg kein Platz mehr für Menschen, die die Niederlage der Nationalsozialisten beklagen. Und das ist gut so!

Drei Tage vor der Kapitulation der Wehrmacht, am 5. Mai 1945, haben amerikanische Truppen das KZ Mauthausen befreit. Die unfassbaren Bilder von damals haben sich in all ihrer Entsetzlichkeit in das kollektive Gedächtnis unseres Landes eingegraben.

Seit fast 20 Jahren ist der 5. Mai der offizielle österreichische Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Rund um diesen Tag verneigen wir uns im Parlament jedes Jahr vor den Opfern und halten die Erinnerung an sie hoch. Ich glaube wir dürfen heute zu Recht sagen: Österreich hat viele Lehren aus der Vergangenheit gezogen.

Wir haben beschönigende Geschichtsmythen hinter uns gelassen, versteckte Winkel ausgeleuchtet, haben uns unserer Verantwortung gestellt. Wir sind damit die Verpflichtung eingegangen, auch im Hier und Jetzt ganz besonders wachsam zu sein. Und wir haben allen Grund dazu: Zahlen des Innenministeriums belegen einen Anstieg rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Aktivitäten in Österreich. Im Vorjahr wurden rund 1.200 Fälle bekannt.

Wir müssen auf der Hut sein! Auf der Hut sein, wenn unantastbar geglaubte Tabugrenzen überschritten werden. Auf der Hut sein, wenn ein Autor Mauthausen-Überlebende als "Massenmörder", "Landplage" und "Kriminelle" bezeichnet und dafür nicht belangt wird. Auf der Hut sein, wenn Rechtsextreme die Aufführung eines Bühnenstücks von Elfriede Jelinek verhindern wollen, die Universität stürmen und dabei Publikum und Schauspielerinnen drangsalieren.

Ja, wir müssen auf der Hut sein. Heute ganz besonders. Denn im Windschatten der großen europäischen Herausforderungen gedeihen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus überall besonders gut. Um es mit den Worten Erich Kästners zu sagen: "Wir dürfen nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf."

Einer, der genau dies leidvoll erfahren musste, ist heute unter uns. Wir sind dankbar, dass Sie, sehr geschätzter Herr Hofrat, den Weg nach Wien auf sich genommen haben. Lieber Marko Feingold, herzlich Willkommen im Parlament!

Als Marko Feingold 1913 geboren wurde, fanden hier – in diesem Saal – noch Sitzungen des Reichsrates in der Donaumonarchie statt. Heute ist er hier – im Herzen unserer Demokratie – um seine Geschichte zu erzählen: als Zeitzeuge eines ganzen Jahrhunderts.

Der nationalsozialistische Terror hat sein Leben in jungen Jahren geprägt: Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald haben sich tief in seine Biographie eingeschrieben. Noch heute sind Sie, lieber Herr Feingold, unermüdlich im Einsatz, um das Vergangene vor dem Vergessen zu bewahren. In einem Interview zu ihrem 100. Geburtstag haben Sie gesagt: "Das Erzählen hält mich auf den Beinen. Das ist mein Stolz." Und wer Ihnen schon einmal zuhören durfte, weiß: Sie erzählen Ihre Geschichte in aller Klarheit und Deutlichkeit.

In den vergangenen Jahrzehnten haben Sie damit unzählige Menschen, besonders auch Jugendliche, erreicht und bewegt. Sie fördern damit den Mut junger Generationen, dort aufzustehen, wo sie die Demokratie und unser friedliches Zusammenleben gefährdet sehen.

Wir haben nun gleich die Gelegenheit, einem Gespräch mit Ihnen, Herr Feingold, zuzuhören. Und es gibt wenige Menschen in Österreich, die berufener wären, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen als die hochgeschätzte Direktorin des Jüdischen Museums Wien, Danielle Spera! Herzlich Willkommen!

Wir haben die diesjährige Gedenkveranstaltung mit einem berühmten Gedicht von Paul Celan eröffnet: "Die Todesfuge" ist ein in Lyrik gegossenes Mahnmal für den Holocaust. Anne Bennent und Otto Lechner haben sie für den heutigen Anlass ganz besonders bewegend interpretiert und vertont. Wir dürfen heute auch noch weitere Interpretationen von Ihnen hören.

Liebe Frau Bennent, lieber Herr Lechner! Herzlichen Dank für die künstlerische Gestaltung dieser Veranstaltung!

Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben sie mir, dass ich abschließend ein Wort des Dankes an unseren Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer richte! Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Du hast dich in allen Stationen deines politischen Lebens für die Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt. Der Nationalfonds für die NS-Opfer hat unter deiner Leitung als Nationalratspräsident seine Arbeit aufgenommen – und du hast ihn geprägt. Die 1. Gedenktagveranstaltung 1998 hier im Parlament fiel in deine Amtszeit. Und ich glaube, du hast seit 1998 nur einen einzigen Gedenktag versäumt. Ich weiß, es war dir niemals bloß Verpflichtung, sondern ein ehrliches Bedürfnis und Ausdruck deiner tiefen politischen Überzeugung.

Als Bundespräsident beehrst du den Gedenktag heute das letzte Mal. Sei auf das allerherzlichste Willkommen – heute und in all den nächsten Jahren!" (Schluss) red

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at.