Parlamentskorrespondenz Nr. 1111 vom 07.11.2017

BR-Enquete: Subsidiaritätsprinzip ist zentraler Schlüssel für die Länder

Die starke Stimme der Regionen bei der Weiterentwicklung der EU

Wien (PK) – Die Enquete des Bundesrats setzte ihre Beratungen mit den Stellungnahmen der Präsidenten der Landtage von Niederösterreich, Burgenland, Oberösterreich und Vorarlberg fort, wobei vor allem das Subsidiaritätsprinzip im Mittelpunkt stand. Einig waren sich die Vortragenden, dass es starke Regionen brauche, weil Reformen nicht von oben verordnet werden können. Es sei wichtig, dass die Länder ihre Positionen zum Weißbuch "Zukunft der EU" aktiv einbringen und ihre Forderungen präsentieren, meinte Hans Penz (Niederösterreich). Der Vorarlberger Harald Sonderegger plädierte dafür, "das Richtige effizienter zu tun". Aus oberösterreichischer Sicht heißt das, dass die Union nur dort tätig sein soll, wo die angestrebten Ziele nicht durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Regionen besser erreicht werden können, betonte Viktor Sigl. Die institutionellen Rechte der Regionen mit Gesetzgebungskompetenz müssen nach Auffassung von Christian Illedits (Burgenland) jedenfalls gewahrt werden.

Hans Penz: Gelebte Subsidiarität statt europäischer Super-Staat

Der niederösterreichische Landtagspräsident Hans Penz bedauerte, dass Europa in den letzten Jahren "zu einem geschundenen Wort geworden ist, zu einem Synonym für Krise". Auch wenn es durchaus berechtigte Kritik gebe, so sei er sicher, dass die BürgerInnen grundsätzlich Europa wollen. Sie wollen aber ein anderes – eines, das sozial, solidarisch, human und bürgernah ist. Penz hielt es daher für sehr wichtig, dass sich die Regionen intensiv in die Diskussion über die Zukunft der EU einbringen, da sie nahe an den Menschen dran sind. Im Hinblick auf den Rechtssetzungsprozess gebe es konkrete Forderungen von Seiten der Regionen, wie etwa die Verlängerung der Frist für die Subsidiaritätsprüfung von acht auf zwölf Wochen oder die Einführung einer "roten Karte", wenn eine Mehrheit der Parlamente eine Subsidiaritätsrüge erteilt.

Der Vorsitzende der österreichischen Landtagspräsidentenkonferenz war überzeugt davon, dass die von den Regionen eingebrachten Vorschläge und Anregungen nunmehr auch das entsprechende Gehör finden und dass die Kommission den Mehrwert eines stetigen Dialogs zu schätzen weiß. Was aus Sicht der Landesparlamente jedenfalls von besonderer Bedeutung ist, sei die strikte Wahrung eines lebendigen Subsidiaritätsprinzips. Dies bedeutet, dass darauf Bedacht zu nehmen ist, dass Regelungen auf europäischer Ebene erst dann geschaffen werden, wenn durch sie ein substanzieller Mehrwert für Europa insgesamt, die Mitgliedstaaten und die Regionen sowie für die BürgerInnen zu erwarten ist. Bestehen Zweifel darüber, auf welcher Ebene eine Regelung anzusiedeln ist, dann soll der föderalen bzw. subsidiären Kompetenzzuordnung der Vorzug gegeben werden. Der Grundsatz der Subsidiarität gelte aber auch für die innerstaatliche Aufgabenzuteilung. "Nicht alles was zentral ist, ist billiger, nicht alles was zentral ist, ist effizienter".

Penz sprach sich dagegen aus, dass aus der Europäischen Union ein "Super-Staat" mit den damit einhergehenden "Bürokratiemonstern und Kompetenzirrungen" wird. Europa ist seiner Meinung nach eine "concordantia discordantium", ein Werk, das ganz Verschiedenes, auch Widersprüchliches zur Übereinstimmung bringt. Ein großes Haus mit vielen Räumen, vielen Türen, vielen Kulturen und vielen Arten von Menschen. Dieses Haus sei die Heimat Europas, bekräftigte er abschließend.

Illedits: Regionen wollen faire und sozial gerechte Union

Der Austausch und die Vernetzung zwischen den einzelnen Städten und Regionen in Europa, also den kleinsten Einheiten, ist für den Erfolg der Union von zentraler Bedeutung, betonte auch der burgenländische Landtagspräsident Christian Illedits. "Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet", lautet der Leitspruch des Informatikers Alan Kay. Diese Maxime sollte auch für die Länder und Regionen gelten, wenn es um die Frage der Neuausrichtung der EU geht.

Ebenso wie Kommissionspräsident Juncker war Illedits der Meinung, dass es an der Zeit sei, ein neues europäisches Kapitel aufzuschlagen. Gleichzeitig warnte er jedoch davor, dass sich Europa nur mehr auf einige ausgewählte Politikbereiche konzentriert. Würde man nämlich etwa die Regionalpolitik schwächen, so entziehe man jenen Staaten, die im europäischen Wirtschaftsvergleich ohnehin schlecht abschneiden, die Entwicklungshilfe. Bereits jetzt sei man im Burgenland mit einer starken Zunahme an entsendeten Arbeitskräften sowie mit dem Problem der Scheinselbständigkeiten konfrontiert, zeigte er auf. Aus diesem Grund sprechen sich auch die Länder für eine europäische Sozialpolitik, die u.a. eine gemeinsame Arbeitsmarktbehörde vorsieht, aus. Vehement verwahrte sich Illedits gegen das Prinzip des Rosinenpickens, das einzelne Mitgliedsstaaten praktizieren. In den Mittelpunkt des Diskurses über die Neuausrichtung der EU müsse daher auch die Frage der Gerechtigkeit gestellt werden. Zu all diesen Fragen würden die Städte und Regionen ihren Beitrag leisten, damit ihre Stimme unmissverständlich gehört wird.

Sigl informiert über oberösterreichisches Subsidiaritätsprüfungsverfahren

Auch das Land Oberösterreich begrüßt den Diskussionsprozess, den die Europäische Kommission durch die Vorlage des "Weißbuchs zur Zukunft Europas" eingeleitet hat, und die zahlreichen teils grenzüberschreitenden Bestrebungen, sich in diese so wichtige Debatte einzubringen, erklärte Viktor Sigl. Der oberösterreichische Landtag habe eine eigene Position zum Weißbuch vorgelegt, in der es um strukturelle Fragen sowie die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen geht. Generell halte man wenig von einer Festlegung auf ein einziges Modell, führte Sigl aus. Aus der Sicht Oberösterreichs sei es vielmehr zielführender, bestimmte Orientierungspunkte zu formulieren. So sei man etwa überzeugt davon, dass die Lösung der Zukunftsfrage der EU letztlich nur in einer Differenzierung liegen könne - in einer konsequenten Abwägung, wo mehr und wo weniger Tätigkeiten der Union erfolgen sollen. Das Subsidiaritätsprinzip sei der zentrale Schlüssel und müsse in den Mittelpunkt eines Zukunftsszenarios der Europäischen Union gesetzt werden. Gleichzeitig müsse sichergestellt werden, dass eine solche "Multi-Level-Governance" tatsächlich eingehalten und kontrolliert wird.

Sigl informierte darüber, dass der oberösterreichische Landtag vor drei Jahren ein eigenes Subsidiaritätsprüfungssystem eingeführt hat. Die Abgeordneten haben damit ein wichtiges Instrument in der Hand, um konkrete oberösterreichische Interessen im Rahmen der EU-Politik zu identifizieren und zu kommunizieren. Gegenstand der Prüfungen ist ein streng formaler Ansatz, nämlich die Frage, ob die Union bei ihren Rechtssetzungsvorhaben das Prinzip der Subsidiarität einhält. Inhaltliche, quasi "politische" Positionen werden in den Stellungnahmen tunlichst vermieden, was dazu führt, dass fast alle Prüfungsergebnisse im EU-Ausschuss einstimmig beschlossen werden. Auch wenn damit nur ein kleiner Beitrag geleistet werden könne, sei er überzeugt davon, dass jede einzelne Stimme im Gesamtgefüge Europas wichtig ist. Denn Subsidiarität sei das Bindemittel in einer Union, die Gefahr laufe, brüchig zu werden.

Sonderegger wünscht sich einen ehrlichen und transparenten Revisionsprozess für Europa

Der Vorarlberger Landtagspräsident Harald Sonderegger hielt es für dringend notwendig, über eine Neuausrichtung der Europäischen Union zu diskutieren. Gerade in jüngster Zeit seien Ereignisse und Stimmungen zu Tage getreten (z.B. Brexit), die an den Grundfesten der EU rütteln und die die Union als Ganzes oder in Teilen in Frage stellen. "60 Jahre nach den Römischen Verträgen soll und muss manches in der EU – sozusagen im Sinne einer altersbedingten Revision – nachjustiert werden, wenn wir all die Dinge, die uns wichtig sind, bewahren wollen", betonte Sonderegger. Es sei gut, dass dieser Prozess aus dem "Inneren" der EU heraus initiiert wurde, bevor ein nicht mehr steuerbarer Erneuerungsdruck von anderer Seite, in nicht mehr kanalisierbare, unterschiedliche Richtungen, seinen Lauf genommen hätte.

Die EU brauche einen Modernisierungsprozess, sie muss unmittelbarer, klarer und subsidiärer werden, ohne die Grundideen und Grundfreiheiten der Wirtschafts- und Währungsunion in Frage zu stellen oder aufzugeben, konstatierte Sonderegger. Die Handlungsfähigkeit der EU müsse verbessert werden und das Vertrauen der BürgerInnen in die Gestaltungskraft der EU (wieder)hergestellt werden. Auch wenn es seitens der Länder keine eindeutige Präferenz für ein Szenario gebe, so wünsche er sich, dass das Prinzip "das Richtige effizienter tun" umgesetzt wird. Dabei müsse vor allem die zentrale Frage beantwortet werden, in welchen Politikfeldern ein Mehr oder ein Weniger an EU richtig sei.

Die Erneuerung bzw. Weiterentwicklung der EU werde jedoch nicht gelingen, wenn einzelne nationale Interessen in den Vordergrund gestellt und wenn nur kosmetische "Reförmchen umgesetzt werden, gab er zu bedenken. Es müssten nachvollziehbare Antworten auf die Fragen und Nöte der Menschen gegeben werden. Es sei daher notwendig, sich ehrlich in den inhaltlichen Prozess einzulassen und den Subsidiaritätsgedanken in den Vordergrund zu stellen. Diese Sichtweise werde es ermöglichen, gute Kompromisse zu finden, die nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegeln, sondern die ein Bild von Europa zeichnen, das nahe am Bürger ist.

Debatte: Mehr Bürgernähe und weniger Bürokratie

In der daran anschließenden kurzen Diskussion wies die freiheitliche Europaabgeordnete Barbara Kappel darauf hin, dass der österreichische Bundesrat als "best-practice-Beispiel" für die Subsidiaritätsprüfung ausgezeichnet wurde. Europa stehe aktuell vor sehr großen Herausforderungen; diese könnten nur gemeinsam gelöst werden. Die Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament, Monika Vana, sah einen tiefgreifenden Reformbedarf in der EU. Dies betreffe auch die Strukturfonds, die transparenter und unbürokratischer werden müssten. Außerdem trat sie für eine Stärkung der Kohäsionspolitik ein, die ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Ungleichheiten und Armut darstellte. Aus Sicht der Wirtschaftskammer sollte sich die EU auf Maßnahmen mit einem klaren europäischen Mehrwert konzentrieren, erklärte Christian Mandl (Wirtschaftskammer). Deshalb unterstütze seine Organisation die von Kommissionspräsident Juncker angekündigte Einrichtung einer Subsidiaritäts-Taskforce. In der Kohäsionspolitik sollten zudem die Themen Innovation, KMU und Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund stehen. Die aktuelle Krise in Katalonien zeige, wie wichtig der Dialog ist, unterstrich Nicolaus Drimmel vom Österreichischen Gemeindebund, und dieser fange in den Kommunen an.   

Die Zustimmung zu Europa werde dann wieder steigen, wenn sich die EU auf die großen Dinge konzentriert, und die kleinen den Ländern und Gemeinden überlässt, urteilte Bundesrat Eduard Köck (V/N). Außerdem wünschte er sich eine Entbürokratisierung bei der Abwicklung der einzelnen Programme. Nach Auffassung von Stefan Schennach (S/W) braucht es eine stärkere Souveränität der EU in manchen Bereichen, wie z.B. in der Sozial- und in der Steuerpolitik. Es müsse alles getan werden, dass die hohen Umwelt- und Sozialstandards der EU in den internationalen Handelsabkommen wie CETA oder TTIP gewahrt bleiben, forderte Bundesrätin Nicole Schreyer (G/T).  

Subsidiarität heiße auch, dass die Entscheidungen auf den jeweiligen Ebenen akzeptiert werden müssen und nicht immer alle mitsprechen können, erklärte EU-Kommissar Johannes Hahn. Derzeit dauere etwa ein normaler Gesetzgebungsakt eineinhalb bis zwei Jahre. Da gelte es eine sinnvolle Balance zu finden. (Fortsetzung Enquete) sue

HINWEIS: Fotos dieser Parlamentarischen Enquete finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos. Den Live-Stream der Parlamentarischen Enquete finden Sie auf der Startseite des Parlaments unter www.parlament.gv.at.


Format