Parlamentskorrespondenz Nr. 67 vom 30.01.2019

Nationalrat: NEOS rufen zur Neugründung der EU auf

Aktuelle Europastunde zur Weiterentwicklung der Union

Wien (PK) – "Nach dem Brexit-Debakel: Jetzt ist die Chance, Europa neu zu gründen!" Diesen Titel hatten die NEOS der heutigen Aktuellen Europastunde im Nationalrat gegeben und provozierten damit eine Debatte, die einen Vorgeschmack auf den Europawahlkampf im Mai lieferte. Thema der zwischenparteilichen Auseinandersetzung war die Zukunft der Europäischen Union. Die "Vereinigten Staaten von Europa", getragen von Menschenrechten und Demokratie, sollten geschaffen werden, um weltweite Herausforderungen zu bewältigen, so die Botschaft der NEOS. Deren EU-Sprecherin Claudia Gamon rief dazu auf, "Nationalisten, die zurück in die Kleinstaaterei wollen", die Stirn zu bieten und etwa in der Klima-, Steuer- und Verteidigungspolitik samt europäischer Armee tatsächlich als geeintes Europa aufzutreten.

Unabhängig von der Frage, ob und wann das Vereinigte Königreich die EU verlässt ("Brexit"), propagiert auch die FPÖ eine Veränderung der EU – allerdings mit völlig anderen Vorzeichen als im NEOS-Modell. Für die Freiheitlichen ist ein Europa starker Nationalstaaten die präferierte Organisationsform der europäischen Zusammenarbeit. Georg Mayer, FPÖ-Mandatar im Europaparlament, wehrte sich gegen den Vorwurf, seine Fraktion wolle Europa zerstören. Vielmehr würden Anregungen wie die Schaffung eines EU-Heers einen Keil durch die Union treiben, wie der Brexit gezeigt habe. Konkret zum Austrittsbeschluss des Vereinigten Königreichs sagte Mayer, der Volksentscheid der Briten sei zu akzeptieren. "Die Insel wird nicht untergehen." Ein geordneter Austritt sei aber unbedingt zu erreichen.

Für eine Ausweitung des Subsidiaritätsprinzips, also der nationalstaatlichen Selbstbestimmung in gewissen Politikfeldern, tritt auch die ÖVP ein. Die Kanzlerpartei will die EU in großen Fragen stärken, bei gleichzeitiger Zurücknahme von EU-Direktiven in kleineren Politikfeldern, und fand ihren Kurs von EU-Minister Gernot Blümel bestätigt. "Die Einheit der EU-27", also aller Mitgliedstaaten ohne Großbritannien, hob Blümel im Zusammenhang mit den Brexit-Verhandlungen hervor, wobei er appellierte, diesen Konsens auch weiter zu wahren. Einer der Hauptgründe für den Brexit war ihm zufolge die "Angst vor der ungeregelten Migration", der die EU geeint beikommen müsse. ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas unterstrich, Europa erlebe dank der "Idee EU" die längste Friedensperiode aller Zeiten. "Diese Idee muss nicht neu gegründet, diese Idee muss von uns allen gelebt werden."

Eine Sozialunion sehen SPÖ und JETZT als einzig zukunftsweisende Weiterentwicklung der EU. Evelyn Regner, SPÖ-Mandatarin im Europaparlament, erwähnte dazu als Gewerkschafterin die geltenden europäischen Arbeitsrechtsstandards, die "große Errungenschaften" darstellten, und von denen auch die britischen ArbeitnehmerInnen profitiert hätten. Nach dem Brexit würden diese Menschen daher am meisten geschädigt. JETZT-Klubobmann Bruno Rossmann klagt den Neoliberalismus in der EU als Hauptverantwortlichen für die große EU-Skepsis vielerorts an. Globalisierung mit gleichzeitiger Sparpolitik würden viele Menschen, die dabei auf der Strecke bleiben, zu GegnerInnen der Europäischen Union machen. Mehr Solidarität in der EU sei daher zum Erhalt des geeinten Europas nötig.

NEOS für "Vereinigte Staaten von Europa"

Als Spitzenkandidatin ihrer Fraktion bei der Wahl zum Europaparlament (EP) am 26. Mai tritt NEOS-Abgeordnete Gamon für die Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa" ein. "Meine Generation möchte das noch erleben", so die 30-Jährige. Zentral müssten in dieser neu gegründeten EU die Umwelt- und Klimapolitik sein, um "Europa überlebensfähig zu machen", was mit einer Ökologisierung des Steuersystems einhergehe. Im Sinne der Handlungsfähigkeit sei die EU gut beraten, in wichtigen Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik das Einstimmigkeitsprinzip fallen zu lassen, erklärte Gamon weiter und sie warb dabei auch für eine "europäische Freiwilligenarmee". Österreichs Neutralität als Argument dagegen ließ sie nicht gelten, denn diese schütze in Zeiten des Terrorismus nicht mehr ausreichend, worin ihr Douglas Hoyos-Trauttmansdorff (NEOS) beipflichtete. "Nur ein starkes Europa kann auch handlungsfähig bleiben." Außerdem hätte eine gemeinsame Verteidigungspolitik aller Mitgliedsländer finanzielle Vorteile für die Nationalstaaten, zeigte Hoyos-Trauttmansdorff auf.

NEOS-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger sprach konkret die bevorstehende Wahl zum Europaparlament an, die sie als "Schicksalswahl" bezeichnete. Wie viel Macht "rechtspopulistische Regierungen" in der Union künftig haben werden, entscheide sich dann. In einer Welt veränderter Bedrohungsszenarien - Stichwort Cyberattacken – sowie bei Fragen der Wettbewerbsfähigkeit tue die EU gut daran, geeint und handlungsfähig aufzutreten.

SPÖ für einheitliche EU-Sozialstandards

Andreas Schieder, der die SPÖ-Liste für die kommende Wahl zum EU-Parlament anführt, und sein Parteikollege Jörg Leichtfried orten die Schuld für das "Brexit-Chaos" bei "Rechtspopulisten und Konservativen", nicht nur im Vereinigten Königreich (UK), sondern in ganz Europa. Angesichts aktueller Herausforderungen in der Welt müsse Europa neu gestaltet werden, betonte Schieder, jedoch nicht nach den Vorstellungen der NEOS, die mit einer europäischen Armee für militärische Antworten auf globale Bedrohungen einträten. Stattdessen urgierte Schieder eine "moderne Neutralitätspolitik" verbunden mit einer Ausweitung der Entwicklungshilfe.

Darüber hinaus brauche es in der EU mehr sozialen Zusammenhalt, die Bekämpfung von Steuerbetrug bei Großkonzernen und von einem ungezügelten Freihandel. Deutlich trat Schieder außerdem für einen "sozial verträglichen Kampf gegen den Klimawandel" ein. Dem Ruf nach geeinten sozialen Standards in der EU schloss sich EP-Mandatarin Regner an. Unter anderem forderte sie einheitliche soziale Mindeststandards und gleichwertige Arbeitsregelungen für alle UnionsbürgerInnen. Die von Österreich beschlossene Indexierung der Familienbeihilfe für hierzulande tätige EU-BürgerInnen mit Hauptwohnsitz im Heimatland geht in ihren Augen in die falsche Richtung. "Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein."

Erneut zum Brexit sagte Leichtfried, zur Verhinderung eines ungeordneten Austritts der Briten habe man diesen unbedingt die Hand zu reichen. Falls das UK ein weiteres Referendum über den EU-Austritt ansetzt, sei ein Beschluss, in der Union zu bleiben, jedenfalls gutzuheißen.

JETZT für Abkehr von neoliberaler EU-Politik

Die europäische Idee habe jahrzehntelang unter dem Neoliberalismus der "EU-Eliten" gelitten, gab JETZT-Budgetsprecher Rossmann zu bedenken. Diese hätten die EU für die Globalisierung geöffnet, "was an sich nicht schlecht ist", dabei aber auf die "Globalisierungsverlierer" vergessen. Aufgrund von Sparauflagen seitens der EU seien die Nationalstaaten außerstande gewesen, Menschen, die mit sinkenden Reallöhnen konfrontiert waren, unter die Arme zu greifen. Vielmehr hätten Strukturreformen und Austeritätspolitik die Europaskepsis in der Bevölkerung wachsen lassen, schloss Rossmann den Kreis zum Brexit-Votum.

"Wagen wir einen Aufbruch in ein solidarisches Europa", schlug Rossmann eine europäische Arbeitslosenversicherung "als ersten Schritt in eine Sozialunion" vor. Peter Pilz stellte wie sein Parteikollege Rossmann fest, Grundlage für die Weiterentwicklung der Union bildeten eine Sozialunion, weiters eine europäische Klimapolitik und eine "Bürger- anstatt einer Konzernunion". Zum NEOS-Gedanken an eine europäische Armee meinte Pilz, hier bestehe die Gefahr, dass die Verteidigungspolitik der EU nur militärisch forciert wird, inklusive Teilnahme an Kriegen. Österreich sollte seine Neutralität aber nur dann aufgeben, wenn sich ganz Europa gegen Kriegseintritte verfassungsrechtlich ausspricht.

Die fraktionslose Abgeordnete Martha Bißmann hob ein Bild Stefan Zweigs auf das Rednerpult, um dessen Idee eines geeinten Europas wiederaufleben zu lassen. Der Schriftsteller habe die Vision eines friedlichen Europas gehabt. Dieses werde nun vom "Schatten des Rechtspopulismus" bedroht, sagte Bißmann, einzelne Gruppen anderer Kulturen, besonders Muslime, würden unter Generalverdacht gestellt. Deswegen müsse man sich auf die Grundwerte der EU zurückbesinnen, nannte die Rednerin konkret die Menschenrechte. "Es lebe die Politik, die sich dem Recht unterordnet!"

ÖVP für Stärkung regionaler Stimmung der EU

Aus Sicht von ÖVP-Mandatar Reinhold Lopatka ist die EU mit ihren Grund- und Freiheitsrechten weltweit ein Vorbild. Die Forderung nach einer Neugründung Europas lehnte er schon aus diesem Grund ab und er prophezeite ein "Chaos", wenn derartige Debatten geführt werden, zumal bereits jetzt die EU mit großen Problemen zu kämpfen habe. Lopatka verwies dabei auf den drohenden UK-Austritt. "Wir müssen alles tun, dass nach dem Brexit der Schaden für alle möglichst gering ist und wir weiterhin bestmöglich mit dem Vereinigten Königreich zusammenarbeiten." Anders als die NEOS stelle die ÖVP die Ausweitung der Subsidiarität in den Mittelpunkt ihrer proeuropäischen Politik, um die "Vielfalt in Europa" zu erhalten. Martina Kaufmann (ÖVP) zeigte sich sogar "enttäuscht" von den Ideen der NEOS, die sie als "zentralistisch" bezeichnete und die den Grundsätzen der Selbstverwaltung auf regionaler Ebene widersprächen. Der Erfolg des EU-Bildungsprogramms Erasmus ist für Kaufmann ein Beispiel, wie gerade jungen BürgerInnen Europas der europäische Gedanke am besten vermittelt wird, nämlich indem sie in einem anderen Land das europäische "Miteinander" erleben.

Gleichermaßen wandte sich der ÖVP-Spitzenkandidat bei der Europawahl Othmar Karas gegen die Darstellung, die EU befinde sich auf einem Scheideweg "zwischen Brexit und den Vereinigten Staaten von Europa". Letztere wären seiner Meinung nach ein Rückschritt. "Wir wollen die EU gemeinsam mit möglichst vielen Bürgern weiterentwickeln", appellierte er für mehr Selbstbewusstsein in Europa, im Stande zu sein, eine Union gleichberechtigter BürgerInnen unter den gegebenen Umständen zu schaffen.

FPÖ für nationalstaatliche Kontrolle in der EU

Neben EP-Abgeordnetem Mayer verdeutlichten die FPÖ-Abgeordneten Petra Steger und Roman Haider, weswegen sie den Wunsch der NEOS, die "Vereinigten Staaten von Europa", nicht guthießen. Steger hielt der Oppositionspartei vor, nicht alle Konsequenzen ihrer Aufforderung bedacht zu haben, würde eine "Neugründung der EU" doch zunächst deren Auflösung erfordern. "Die EU ist kein Staat und sie soll auch keiner werden", beschrieb die FPÖ-Abgeordnete die Europalinie ihrer Partei, die weder einen europäischen Pass noch die Abschaffung der Neutralität oder die Übertragung der Steuerhoheit nach Brüssel wolle. Ebenso wenig heiße man den SPÖ-Gedanken gut, soziale Kompetenzen der EU zu überlassen.

Mayer wertete das Briten-Votum als "Misstrauensvotum" gegen die EU bzw. deren noch stärkere Vereinheitlichung. Er sprach sich in diesem Zusammenhang gegen eine Erhöhung des kommenden EU-Budgets aus, vielmehr gelte es, eine schlanke Union zu schaffen, die weniger aber effizienter arbeite. Haider warf der SPÖ vor, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen, und erklärte das am Brexit: der "totale Kontrollverlust" der Nationalstaaten, besonders im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015, habe die Briten zur Abspaltung von der EU gedrängt. "Wir wollen eine gedeihliche Zusammenarbeit der Staaten und Völker Europas", wies Haider einen europäischen "Superstaat" entschieden zurück. "Mehr EU bedeutet immer weniger Österreich."

EU-Minister Blümel warnt vor Neuverhandlungen des Brexit-Abkommens

Eine deutliche Warnung vor einem "Aufschnüren des Abkommens" zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs sprach Europaminister Blümel aus. Er bezog sich damit auf die gestrige Aufforderung des Unterhauses im britischen Parlament an die Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Theresa May, das EU-Austrittsabkommen neu zu verhandeln. "Der Ball liegt bei den Briten", die EU-Kommission habe bereits gut verhandelt, um die "Lose-lose-Situation" des Brexit möglichst abzufedern. Ungeachtet aller Unsicherheiten über die Entwicklung nach dem Brexit wertete der Minister es positiv, dass die übrigen EU-Mitgliedstaaten während der Verhandlungen mit London Einigkeit gezeigt hätten. Der österreichische Ratsvorsitz habe das Seine dazu beigetragen.

Als Lehre aus dem Brexit zieht Blümel die Erkenntnis, dass die EU die Migration "in den Griff bekommen muss". Das Gefühl des Kontrollverlusts als Nationalstaat habe ebenfalls zu dem Mehrheitsbeschluss der britischen Bevölkerung für den Austritt aus der Union beigetragen. "Es braucht ein Europa, das die Probleme im Großen löst, nicht mehr Zentralismus." Überdies müsse man den Ländern des Westbalkans eine klare EU-Beitrittsperspektive bieten, um die Stabilität in dieser Nachbarregion der EU zu sichern. (Fortsetzung Nationalrat) rei