Parlamentskorrespondenz Nr. 975 vom 01.10.2020

Sobotka: Die Verfassung hat uns immer trefflich begleitet

Festakt des Parlaments zu 100 Jahre Bundesverfassung

Wien (PK) – In seiner Rede beim heutigen Festakt des Parlaments anlässlich 100 Jahre Bundesverfassung stellte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka fest, dass uns die Verfassung immer trefflich begleitet habe. Das werde auch dadurch offenkundig, dass es möglich gewesen sei, mit unserer Verfassung der EU beizutreten, indem man Hoheitsrechte abgab, gleichzeitig aber auch die Souveränität beibehalten konnte.

Sobotka unterstrich die beiden Grundprinzipien, die die Verfassung prägen – den demokratischen Parlamentarismus und die Dezentralisation. Letztere sei dem Umstand gewidmet, dass Österreich aus neun Bundesländern besteht, und hier gehe es immer wieder um die Aufrechterhaltung der Balance.

Als eine große Herausforderung bezeichnete Sobotka die Verrechtlichung der Digitalisierung, wobei auch Fragen des Datenschutzes und der Big Data eingeschlossen seien.

Er habe keine Angst um die Demokratie, auch wenn sie immer wieder Angriffen ausgesetzt sei, meinte der Nationalratspräsident im Hinblick auf die Krisenfestigkeit der Bundesverfassung, wenngleich er Sorge in Bezug auf den politischen Umgang miteinander äußerte. Für ihn steht aber fest, dass uns das demokratische, das föderalistische und das rechtsstaatliche Prinzip der Verfassung auch in Zukunft begleiten werden. So sei das demokratische Prinzip heute eine durchgängige Grundhaltung, unterstrich er.

Die Verfassung und die Institutionen sind krisenfest – der Rechtsstaat ist gut aufgestellt

Epoche-machend sei die Etablierung des Verfassungsgerichtshofs mit der Bundesverfassung 1920, strich Bundeskanzlerin a.D. und VfGH-Präsidentin a.D. Brigitte Bierlein in der folgenden Podiumsdiskussion hervor. Das sogenannte österreichische System der Verfassungsgerichtsbarkeit habe sich in Europa und darüber hinaus verbreitet. Es sei die "Herzensangelegenheit" von Hans Kelsen gewesen und ein Kernstück der Verfassung, dass die Gesetzgebung einem spezifischen Gericht unterworfen wurde. Mit der Novelle 1929 wurde der Bundespräsident viel stärker in die Verfassung eingebunden, so Bierlein. Etwa im Hinblick auf den Umgang mit jüngsten Krisen sind aus ihrer Sicht sowohl die Verfassung als auch die Institutionen in Österreich eindeutig krisenfest und der Rechtsstaat sei sehr gut aufgestellt. Auch wenn einzelne Mängel wie etwa ein fehlender, geschlossener Grundrechtskatalog bestehen, seien diese nicht so groß, wie sie sagte. Aus dem Österreich-Konvent sei einiges umgesetzt worden, so Bierlein, etwa im Hinblick auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Als eine Art "Spielregelverfassung", die das politische Leben ordnet, aber selbst sehr im Hintergrund bleibt, bezeichnete Parlamentsdirektor Harald Dossi das Bundes-Verfassungsgesetz. Ein Verfassungsbewusstsein bezieht sich aus seiner Sicht auch auf andere Bestandteile der Verfassungsordnung, die wesentlich präsenter seien als das B-VG. Insgesamt sprach er von einem "Gesamtkunstwerk der österreichischen Verfassungsordnung". Wesentlich ist aus Sicht des Parlamentsdirektors, das Verfassungsbewusstsein zu fördern, weil damit auch die Teilhabe am politischen Leben zusammenhänge und Demokratie von dieser Teilnahme lebe. Das zu stärken, sei eine Aufgabe von vielen, so Dossi, sowohl für das Parlament und für die Politik im Allgemeinen, als auch für Medien, Schulen, Universitäten und private Initiativen. Seitens des Parlaments wies er etwa auf Demokratievermittlungsangebote wie die Demokratiewerkstatt, aber auch auf Information und Kommunikation über viele Kanäle hin. Ähnlich wie Brigitte Bierlein zeigte er sich überzeugt, dass etwa die politische Krise 2019, aber auch die aktuelle Corona-Krise gezeigt haben, dass die Bundesverfassung auch in diesen Phasen eine sehr gute Grundlage biete, politisch zu agieren und zu arbeiten. Damit Nationalrat und Bundesrat auch in Extremsituationen immer handlungsfähig bleiben, könnte er sich eine Diskussion darüber vorstellen, für extreme Ausnahmesituationen die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen.

Den Kompromisscharakter der Bundesverfassung hob Thomas Olechowski vom Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien hervor. So seien die Verfassungen von 1920 und 1929 als "unpolitische" Verfassungen bezeichnet worden, was er allerdings insofern für übertrieben hält, als man etwa 1920 deutlich hin zu einer Demokratie westlichen Typus gekommen sei. Auch die Rückkehr 1945 zur Verfassung in der Form von 1929 habe in einer absoluten Ausnahmesituation stattgefunden. Dieser Kompromiss sei nur möglich gewesen, weil man einen "Konsens über den Dissens" gefunden habe, so Olechowski. Das B-VG steht für ihn für einen Weg der Mitte zwischen extrem rechts und extrem links sowie für Werte wie Demokratie und Rechtsstaat, die die Freiheit des Einzelnen schützen. Der Österreich-Konvent sei an den beiden Themen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und Grundrechtskatalog gescheitert, so der Experte - ihm zufolge ebenso wie 1920 wohl nicht ohne Grund. Auch Olechowski meinte, dass wir mit der Verfassung "gut leben".

Fundamente – Meilensteine der Republik: Ausstellung am Heldenplatz zu 100 Jahre B-VG sowie Web-Ausstellung

Nach den Jubiläumsschwerpunkten im Jahr 2020 zum EU-Beitritt vor 25 Jahren und zu 75 Jahre Zweite Republik thematisiert auch die Ausstellung des Parlaments am Wiener Heldenplatz in der Reihe "Fundamente – Meilensteine der Republik" das 100-jährige Bestehen der österreichischen Bundesverfassung. Im Rahmen der künstlerischen Installation werden unter anderem die Entstehung der Verfassung, aber auch die wichtigsten "Bausteine" der Verfassung beleuchtet. Von den Grundprinzipien - betreffend die Staats- und Regierungsform, den Aufbau des Staats und das Verhältnis des Staats zu den Menschen - spannt sich der Bogen über historische Entwicklungen hin zu einem Ausblick auf die Zukunft der Verfassung. Darüber hinaus gibt eine Publikation, die auf der Parlamentswebsite zum Download zur Verfügung steht, Einblicke in die Ausstellungsinhalte zum B-VG. Zudem werden ab Oktober Führungen zu diesem Thema angeboten.

Außerdem zeichnen eigens aufbereitete Web-Inhalte zu 100 Jahre B-VG auf der Parlamentswebsite die Vorgänge bis zur Beschlussfassung am 1. Oktober 1920 nach. Beratungsprotokolle, Verfassungs-Entwürfe sowie Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern und Gemeinden werden erstmals in digitaler Form zugänglich gemacht. Die Stenographischen Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung - auch von der Sitzung am 1. Oktober 1920 - stehen ebenso online zur Verfügung. Auf der Website des Parlaments findet sich außerdem eine eigens erstellte Video-Kurzdoku, in der unter anderem Hans Kelsen aus einem Fernsehinterview von 1960 zu Wort kommt. (Schluss)jan/mbu

HINWEIS: Fotos vom Festakt des Parlaments und von der Ausstellung am Heldenplatz finden Sie auf der Website des Parlaments. Durch Corona-bedingte Präventionsmaßnahmen war der Festakt nicht medienöffentlich, sondern wurde als Livestream in der Mediathek der Parlamentswebsite unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek übertragen bzw. steht dort auch als Video-on-Demand zur Verfügung.