Parlamentskorrespondenz Nr. 1058 vom 04.10.2021

Österreich erinnert an die Opfer von Auschwitz und stellt sich der Geschichte der TäterInnen

Eröffnung der neuen Österreich-Ausstellung an der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager

Wien (PK) – Die neu gestaltete österreichische Ausstellung an der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau wurde heute eröffnet. Nach der Eröffnung durch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (Vorsitzender des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus) und Bundespräsident Alexander Van der Bellen richteten Marian Turksi, Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees und Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Worte des Gedenkens an die TeilnehmerInnen der Gedenkfeier.

Die polnische Regierung wurde bei der Gedenkfeier durch den polnischen Vizepremierminister und Minister für Kultur und nationales Erbe Piotr Gliński vertreten. Seitens der österreichischen Bundesregierung ergriffen Europaministerin Karoline Edtstadler, Außenminister Alexander Schallenberg und Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer das Wort. Zur Ausstellung selbst sprachen der Leiter des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau Piotr M. A. Cywiński und die Kuratoren Hannes Sulzenbacher und Albert Lichtblau.

Zeitzeuge Turski: Jede Nation ist aufgefordert, sich ihrer Geschichte zu stellen

Marian Turski, 1926 geboren, einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz überlebte den Todesmarsch aus dem Vernichtungslager ins Konzentrationslager Buchenwald und wurde schließlich im Ghetto Theresienstadt am 8. Mai 1945 befreit. Er ist Mitglied im Internationalen Auschwitz Rat, Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau und seit Juni 2021 Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.

Auschwitz sei nicht nur eine Geschichte der Opfer und des Widerstands, sondern auch eine Geschichte der TäterInnen. Jede Nation sei gefordert, nicht nur die HeldInnen der eigenen Geschichte zu würdigen, sondern sich auch dem unwürdigen Teil der eigenen Geschichte zu stellen. Österreich übernehme mit der Ausstellung, die nun eröffnet wurde, seinen Teil. Turski erinnerte neben den Mitgliedern des polnischen Widerstands an den Österreicher Hermann Langbein, der einer der Mitbegründer des Internationalen Auschwitz-Rates war. Turksi dankte für die Initiative für die neue Ausstellung insbesondere dem österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen sowie den MitarbeiterInnnen des Nationalfonds, namentlich dessen Generalsekretärin Hannah M. Lessing.

IKG-Präsident Deutsch: Die Erinnerung wachhalten

Auschwitz sei der größte Friedhof der Menschheit, sagte Oskar Deutsch, Präsident des Bundesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Die Ausgrenzung der Opfer habe jedoch bereits in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft begonnen, in den Städten und Dörfern in ganz Europa. Nach dem Krieg sei diese Tatsache verdrängt worden. In Österreich habe es lange keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Schoah gegeben. Die Erinnerung an sie solle jedoch wachgehalten werden, damit so etwas nicht mehr passieren könne. Die neue Ausstellung ermögliche die notwendige Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit. Immer wieder treffe er auf Menschen, die sagen, man solle "endlich aufhören, vom Holocaust zu reden", sagte Deutsch. Diesen antworte er mit Primo Levis Worten: "Es ist geschehen, daher kann es wieder geschehen." Deutsch las aus dem erschütternden letzten Brief vor, den seine Großmutter Bertha Beile Deutsch vor ihrer Deportation 1944 aus Cluj/Klausenburg an ihre Familie geschickt hatte und der in Yad Vashem aufbewahrt wird.

Polnischer Kulturminister Gliński: Arbeit an Gedenkstätten ist nicht abgeschlossen

Der polnische Vizepremierminister und Minister für Kultur und nationales Erbe Piotr Gliński betonte die Wichtigkeit der Erinnerung an die Opfer und an die Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen. Diese Verpflichtung müsse an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Auf dem Gebiet Polens habe die nationalsozialistische Gewaltherrschaft tausende Orte hinterlassen, an denen Millionen Menschen ermordet wurden. Auschwitz-Birkenau sei nur die bekannteste unter ihnen. Der Versuch, die TäterInnen zur Verantwortung zu ziehen, sei leider nie konsequent zu Ende geführt worden, gut 90 Prozent hätten sich der Strafe entziehen können, erinnerte der polnische Vizepremier. Er betrachte auch "mit großer Sorge, dass an vielen Orten Gedenkstätten dem Verfall und dem Vergessen ausgesetzt sind".

Polen schätze die Anstrengungen Österreichs in der Erinnerungspolitik und verfolge die Entwicklungen um das Nebenlager Gusen des Konzentrationslagers Mauthausen sehr aufmerksam, sagte Gliński. An diesem Ort seien rund 27.000 polnische BürgerInnen auf furchtbare Weise ums Leben gekommen. Der Prozess der Errichtung einer würdigen Gedenkstätte an dieser Stelle sei noch nicht abgeschlossen. Polen sei bereit, seine Erfahrungen in diesem Bereich zur Verfügung zu stellen. Alle Initiativen in diesem Bereich seien daher zu begrüßen, sagte Gliński und erneuerte das Angebot zur Zusammenarbeit mit Österreich.

Europaministerin Edtstadler: Antisemitismus und Hass konsequent entgegentreten

Auschwitz sei zum Symbol der industrialisierten Massenvernichtung und zum Inbegriff der Shoah, des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte geworden, erinnerte Österreichs Europaministerin Karoline Edtstadler. Auschwitz konfrontiere bis heute die EuropäerInnen und ÖsterreicherInnen mit schwierigen Fragen. Heute seien Antisemitismus und Rassismus wieder deutlich auf dem Vormarsch, warnte Edtstadler. Die gesamte Gesellschaft sei durch diese Entwicklungen gefordert. Edtstadler erinnerte etwa an Entgleisungen von Corona-LeugnerInnen, die den Holocaust verharmlosen oder die Erinnerung an ihn für ihre Zwecke instrumentalisieren. Solchen Entwicklungen müsse man entgegentreten, sagte Edtstadler. Zwar habe Österreich seine Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus leider erst sehr spät wahrgenommen. Diese Verantwortung werde jedoch nicht vergessen werden, betonte die Europaministerin. Sie bekräftigte, dass das offizielle Österreich sich für eine würdige Gedenkstätte an der Stelle des ehemaligen KZ Gusen einsetzen werde. Sie danke allen, die sich für die neue Ausstellung eingesetzt haben, für ihre Beharrlichkeit.

Außenminister Schallenberg über "zukunftsfähige Erinnerungen"

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg ging in seinen Worten auf die Funktion des grenzübergreifenden Lernens aus der Geschichte ein. Ein Ort wie Auschwitz, ein "Ort des Unaussprechlichen" voller mahnender und schmerzhafter Erinnerungen, bewahre uns vor dem "lebensgefährlichen Glauben", wir seien vor einer Wiederholung der Geschichte gefeit. Es sei wichtig, sich ohne Scheuklappen auch den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte zu stellen und uns damit unserer Verantwortung auf kollektiver, aber auch auf individueller Ebene bewusst zu werden. Eine drohende Wiederkehr der Vergangenheit könne nur durch zukunftsfähige Erinnerungen aufgehalten werden, und somit aus einem "Niemals vergessen!" ein "Niemals wieder!" erwachsen lassen, so der Außenminister.

Staatssekretärin Mayer: Gedenken als ständiger Auftrag für das gesellschaftliche Zusammenleben

Staatssekretärin Andrea Mayer führte dieses "Niemals wieder!" weiter in ein "Wehret den Anfängen!" und erläuterte die Genese des Hasses, von seinen scheinbar harmlosen Anfängen bis zu seinen grausamen Auswirkungen – auch dafür könne der Titel der Ausstellung "Entfernung" stehen. Sie zitierte die Literaturwissenschaftlerin und Holocaustüberlebende Ruth Klüger, nach der wir nicht unbedingt für Rechtsstaat und Demokratie vorprogrammiert seien, sondern uns aufgrund unseres Selbstbestimmungsrechtes auch jederzeit anders entscheiden könnten. Auschwitz sei ein Symbol des Abgrundes, in den dieser Weg führen könne, erklärte Mayer. Das Gedenken sei auch als ein ständiger Auftrag für das gesellschaftliche Zusammenleben zu verstehen, bereits frühzeitig einen Wall gegen Diskriminierung aufzubauen, gegen Hass und antidemokratische Tendenzen. Der Kunst komme durch ihre mittelbare, kreative Weitergabe dieser Werte eine besondere Rolle zu.

Direktor Cywiński: Erinnerung liefert den Schlüssel für den Entwurf unserer Zukunft

Piotr M. A. Cywiński, Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, brachte dem Publikum die engen Verknüpfungen, aber auch die Differenzen zwischen Geschichte und Erinnerung näher. Während Geschichte vornehmlich Zahlen, Daten und Fakten liefere, könne Erinnerung einen "Schlüssel für den Entwurf unserer Zukunft" liefern. Auschwitz sei nicht nur eine Gedenkstädte – was für Cywiński ein verharmlosender Ausdruck ist, sondern besitze als Ort einen konstitutiven Charakter für die gesamte Nachkriegsgeschichte. Er äußerte die Hoffnung, dass wir durch die Erfahrung reifen und schließlich in die Verantwortung hineinwachsen könnten.

Ausstellung "Entfernung – Österreich und Auschwitz" rückt Geschichtsbild zurecht

Im Juli 2009 wurde der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus von der Bundesregierung mit der Koordinierung der Neugestaltung der österreichischen Ausstellung im Block 17 des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau beauftragt. Die ursprüngliche Aufgabenstellung der Neugestaltung der Ausstellung erweiterte sich aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und konservatorischer Herausforderungen auf die Sanierung des Gebäudes, den Abbau der früheren Ausstellung und ihrer Archivierung und Verwaltung sowie den zukünftigen Betrieb der Ausstellung. Dabei waren zahlreiche Herausforderungen in der Koordinierung und Abstimmung unter den an der Umsetzung beteiligten Stellen zu bewältigen.

Wie die Kuratoren Hannes Sulzenbacher und Albert Lichtblau im Gespräch mit Hannah M. Lessing erläuterten, bezieht sich der Begriff "Entfernung" im Titel der neuen österreichischen Ausstellung vor allem auf die Entfernung der nach Auschwitz deportierten Menschen – aus Österreich und aus dem Leben. "Die Arbeit an den Geschichten der Österreicherinnen und Österreicher in Auschwitz, der Opfer wie der Täter und Täterinnen, haben die beiden Orte näher zueinander gebracht", hielt Sulzenbacher dazu fest. Das Konzept der Ausstellung verschränke dabei die Geschichte der Opfer mit jener der TäterInnen. "Wir wollten die Täter nicht in einer Täterecke isolieren", sagte der Kurator.

Albert Lichtblau ergänzte, dass Gedenkstätten wie diese auch wichtige Lernorte seien. Der Grundgedanke der Künstler sei es gewesen, die Geschichte dieses Ortes nicht nur intellektuell, sondern auch visuell und emotional erfahrbar zu machen. Die Ausstellung führe die Geschichten zusammen und erzähle damit ein Stück österreichischer Geschichte. Er erinnerte an die Aussage der Auschwitz-Überlebenden Ruth Klüger, die angesichts weiterer genozidaler Verbrechen wie in Ruanda oder Srebrenica die Absurdität des Mottos "Niemals wieder!" herausstrich.

An der Gedenkfeier nahmen auch Überlebende und Nachkommen von Insassen des Konzentrationslagers teil. Nach der Ausstellungseröffnung erfolgte eine Kranzniederlegung an der so genannten "Schwarzen Wand", der ehemaligen Erschießungsstätte des KZ Auschwitz, und eine Führung durch den Lagerkomplex Birkenau.

Die musikalische Umrahmung der Gedenkfeier übernahmen Djanay Tulenova (Violine), Liliya Nigamedzyanova (Viola)und Melchior Saux (Cello) von der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie spielten Stücke des im KZ Theresienstadt inhaftierten Komponisten Gideon Klein, der 1945 in einem Nebenlager von Auschwitz-Birkenau ums Leben kam. (Schluss) sox/wit

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments. Die Gedenkfeier ist on Demand in der Mediathek abrufbar.