Parlamentskorrespondenz Nr. 588 vom 01.06.2022

Enquete des Bundesrats über Herausforderungen und Zukunftsperspektiven von dezentralen Lebensräumen

Bundesratspräsidentin Schwarz-Fuchs lädt zu Debatte über Chancen der Regionen durch Ausbau der Infrastruktur, Joboffensiven, Energiewende

Wien (PK) – Mit der "Zukunft dezentraler Lebensräume" befasste sich heute eine Enquete im Parlament in der Hofburg, zu der Bundesratspräsidentin Christine Schwarz-Fuchs hochrangige Politiker:innen sowie namhafte Expert:innen aus dem In- und Ausland eingeladen hat. Es soll dabei nicht nur über die Herausforderungen für die Regionen gesprochen werden, sondern vor allem über die Chancen, denn davon gebe es viele, zeigte sich die Präsidentin der Länderkammer überzeugt. Um die Abwanderung von vor allem jungen Frauen und Familien zu verhindern, brauche es jedoch ein ausreichendes Angebot an ganztägigen Kinderbetreuungsplätzen, einen flächendeckenden Zugang zum Breitbandinternet, gute Verkehrsverbindungen sowie eine wohnortnahe ärztliche Versorgung.

Im ersten Teil der Veranstaltung hielten der ehemalige EU-Agrarkommissar Franz Fischler, Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher sowie Klimaschutzministerin Leonore Gewessler grundlegende Einleitungsreferate zu zentralen Fragen, die im Laufe des Vormittags im Rahmen von zwei Panels detailliert behandelt wurden. Während etwa der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil die Initiativen seines Bundeslandes präsentierte, referierte der Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung Gabriel Felbermayr über die Stärken und Schwächen der österreichischen Regionen. Außerdem zeigten noch zahlreiche weitere politische Mandatar:innen und Expert:innen Wege auf, wie die ländlichen Gebiete gestärkt und belebt werden können.

Schwarz-Fuchs: Gute Kinderbetreuung, Zugang zu Breitbandinternet und Ausbau der grünen Technologien zur Belebung der ländlichen Gebiete

Bundesratspräsidentin Christine Schwarz-Fuchs zeigte sich überzeugt davon, dass die peripheren Regionen eine bessere Perspektive für die Zukunft brauchen. Vor allem die Abwanderung von jungen Frauen und Familien aus den ländlichen Gemeinden wirke sich negativ auf das gesamte Sozial- und Wirtschaftsgefüge aus. Aus diesem Grund habe sie ebenso wie ihre Vorgänger:innen den ländlichen Raum in den Fokus ihrer Präsidentschaft gestellt. Aus Sicht von Schwarz-Fuchs gebe es eine Reihe von entscheidenden Faktoren, die dazu beitragen könnten, die ländlichen Regionen zu beleben und positive Zukunftsperspektiven für die Bevölkerung vor Ort zu schaffen. Als Beispiele nannte sie die Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen Elementarbildung sowie von ganztägigen Kinderbetreuungsangeboten, einen flächendeckenden Zugang zu Breitbandinternet, gute Verkehrsverbindungen sowie eine wohnortnahe ärztliche Versorgung.

Die Bundesratspräsidentin gab auch zu bedenken, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte geworden sei. Der Fachkräftemangel habe negative Auswirkungen auf die betroffenen Betriebe, Branchen und Regionen sowie auf den gesamten Standort Österreich. Als zielführende Maßnahmen dagegen werde von vielen Expert:innen eine verstärkte Aus- und Weiterbildung, insbesondere im Bereich der Lehrlinge angeführt. Auch wenn das duale Ausbildungssystem in Österreich sehr anerkannt sei, brauche es noch Verbesserungen, vor allem in Bezug auf die frühkindliche Bildung, meinte Schwarz-Fuchs. Da es im Bereich der Elementarpädagogik aber auch einen Personalmangel gebe, seien innovative Ideen gefragt, wie etwa die Einführung einer Lehre für Assistenzkräfte analog zum Modell in der Pflege.

Eine große Chance liege zudem in der Förderung der grünen Technologien, die nicht nur im Sinne des Klimaschutzes wichtig seien, sondern zur Schaffung von vielen neuen und nachhaltigen Jobs in Stadt und Land beitragen können. Viele dieser Themen würden natürlich nicht nur die ländlichen Regionen betreffen, sondern auch die städtischen Gebiete. Es gehe daher nicht um eine Konkurrenz zwischen Stadt und Land, sondern um eine Kooperation im gemeinsamen Interesse und ein Miteinander auf Augenhöhe. Bildung, Ausbildung, Forschung und technologische Entwicklung würden schließlich allen Regionen Chancen für die Zukunft bieten, betonte die Bundesratspräsidentin.

Fischler plädiert für eine klare Definition der Begriffe und will die Regionen resilient und widerstandsfähig machen

Um seriös über das heutige Thema diskutieren zu können, müsse man zunächst eine Klärung der Begriffe vornehmen, stellte der ehemalige EU-Agrarkommissar Franz Fischler zu Beginn seines Redebeitrags fest. Er wies darauf hin, dass es in der EU keine allgemein akzeptierte Definition für den Begriff der Region gebe und viele verschiedene Kategorisierungen existieren würden. Eine Region könne etwa als peripher bezeichnet werden, wenn sie sich weit entfernt vom Zentrum der Macht oder der Wirtschaftsentwicklung befinde oder wenn sie – wie im Fall der Ziel-1-Gebiete – eine unterdurchschnittliche BIP-Quote pro Kopf aufweise. Um eine Beantwortung der Definitionsfragen komme man nicht herum, unterstrich Fischler.

Die Europäische Union habe vor einiger Zeit versucht, eine langfristige Vision für die ruralen und peripheren Regionen zu entwickeln und vor einem Jahr einen Aktionsplan bis 2040 präsentiert. Im Fokus stehen dabei eine Stärkung der Gemeinden und Kommunen, eine bessere Integration der Stakeholder und die Schaffung von maßgeschneiderten Entscheidungsstrukturen, informierte Fischler. Dazu gehörten auch die schon von Bundesratspräsidentin Schwarz-Fuchs angeführten Punkte wie der Ausbau des Breitbandnetzes sowie der Bildungs- und Betreuungsangebote, eine Verbesserung des öffentlichen Personen- und Güterverkehrs, eine Diversifizierung der wirtschaftlichen Aktivitäten, eine Vernetzung zwischen den Zentren und der Peripherie sowie eine Kooperation zwischen den Grenzregionen. Man sollte sich auch überlegen, ob wirklich alles in den Zentren lokalisiert sein müsse, gab Fischler zu bedenken. Dies sei auch Voraussetzung dafür, um attraktivere Jobs für internationale Arbeitskräfte am Land anbieten zu können. Gleichzeitig dürfe nicht darauf vergessen werden, die ortsansässige Bevölkerung in ihren Kompetenzen zu stärken. Die ländlichen Gebiete würden in den nächsten Jahren mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert sein, die von der  Digitalisierung, dem Klimawandel, dem Umwelt- und Ressourcenschutz bis hin zu sozialen Verwerfungen reichen. Es müsse daher alles getan werden, um die Regionen resilienter und widerstandsfähiger zu machen, appellierte Fischler. Dabei dürfe aber nicht allein auf die Landwirtschaft und auf Förderungen gesetzt werden, sondern auf eine neue Balance zwischen Wirtschaft, Umwelt und sozialer Einbettung.

Kocher: Maßgeschneiderte und regional abgestufte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sowie föderale Umsetzung durch das AMS vor Ort

Die regionale Ausgestaltung von arbeitsmarktpolitischen Programmen stellte Bundesminister Martin Kocher in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Generell könne die Situation am österreichischen Arbeitsmarkt trotz geopolitischer Herausforderungen und einer sich etwas abflachenden Konjunktur als sehr robust bezeichnet werden. Mit heutigem Stand seien 311.500 Menschen als arbeitslos gemeldet, was einer Quote von 5,7% und einem erneuten Rückgang im Vergleich zum Vormonat um mehr als 15.000 Personen entspreche. Demgegenüber stünden insgesamt 138.000 gemeldete offene Stellen. Allerdings sei der Arbeitsmarkt von sogenannten Miss-Match-Phänomenen geprägt, wobei der regionale Faktor am bedeutendsten sei, hob Kocher hervor. Die Herausforderungen für die heimischen Betriebe in Bezug auf die Suche von Personal, Lehrlingen und Fachkräften seien daher sehr unterschiedlich. So gebe es etwa die Hälfte aller Lehrstellensuchenden in Wien, während in Oberösterreich auf jeden jungen Menschen fünf Angebote für Lehrstellen kommen würden.

Zudem habe die Corona-Pandemie dazu beigetragen, dass manche Branchen wie etwa die Gastronomie und Hotellerie größere Probleme haben, ausreichend Personal zu finden. Hier müsse man verstärkt tätig werden, da der Tourismussektor für die regionale Entwicklung von großer Bedeutung sei. Gute Ansätze dafür seien unter anderem die Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer:innen sowie die Organisation von virtuellen Jobbörsen. Ziel müsse es jedenfalls sein, eine maßgeschneiderte und regional abgestufte Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, die durch das föderal und autonom organisierte AMS umgesetzt werden könne. Man könne auch klar beobachten, dass überall dort, wo die Zusammenarbeit zwischen der Landesregierung, den Sozialpartnern und dem AMS vor Ort gut funktioniere, die Arbeitsmarkterfolge noch besser seien. Da der Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte in Zukunft noch zunehmen werde, müssten auch über die Grenzregionen hinweg Strategien entwickelt werden.

Gewessler sieht in der Energiewende eine der großen Zukunftschancen für die Regionen

Bundesminister Lenore Gewessler knüpfte in ihren Ausführungen an die Rede von Franz Fischler an, der auf die Chancen hinwies, die sich durch den Klimaschutz und die dringend notwendige Energiewende für die Regionen ergeben würden. Aus ihrer Sicht sei die Förderung des öffentlichen Verkehrs in Form des Klimatickets ein gutes Beispiel dafür, wie man Benachteiligungen von ländlichen Gebieten effektiv entgegentreten könne. Weiters seien durch die Ermöglichung von Erneuerbaren-Energiegemeinschaften sowie der finanziellen Unterstützung des Umstiegs auf "grüne" Heizsysteme die Grundlagen dafür geschaffen worden, dass die Wertschöpfung in den Regionen lukriert werden könne.

Durch den Krieg in Europa sei man jedoch auch damit konfrontiert, dass die Frage der Energieversorgung als Waffe eingesetzt werde. Dies zeige, wie verletzlich und erpressbar nicht nur Österreich, sondern ganz Europa in diesem Bereich sei. Energiewende heiße daher nicht nur einen Ausbau von umweltfreundlichen und erneuerbaren Energieformen, sondern auch Unabhängigkeit von Importen und von Autokraten. Es sei klar, dass es sich dabei um einen Kraftakt handle, der nur gemeinsam gelingen könne und von einer guten Zusammenarbeit zwischen den Bürgermeister:innen, den Landesregierungen sowie dem Bund abhänge. Gleichzeitig würden sich daraus aber auch unglaubliche Chancen ergeben, von denen vor allem die Regionen profitieren könnten, war die Klimaschutzministerin überzeugt. Die Energiewende hätte dann zahlreiche positive Effekte nicht nur auf den Arbeitsmarkt, den Wirtschaftsstandort und die Lebensqualität der Menschen, sondern auch auf die Höhe der Energiepreise. Deshalb habe sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, Österreich bis 2040 zu einem der ersten klimaneutralen Länder Europas bzw. der Welt zu machen, unterstrich die Ministerin. Die Welt sei gerade im Umbruch, daher müsse man die Zeichen der Zeit richtig erkennen und entsprechend handeln. (Fortsetzung Enquete) sue

HINWEIS: Der Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftliche Dienst der Parlamentsdirektion hat zum Thema der Enquete ein Fachdossier erstellt, das ausgehend vom Begriff "Dezentralisierung" einige der derzeitigen Herausforderungen für Regionen beleuchtet. Darauf aufbauend verweist es auf das Konzept der "Resilienz", welches das Potenzial dezentraler Lebensräume im Umgang mit diesen Herausforderungen hervorstreicht.

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments.


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