13.53

Bundesrätin Doris Hahn, MEd MA (SPÖ, Niederösterreich): Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Frau Bundesministerin! Werte Zuhörerinnen und Zuhörer zu Hause via Livestream; auf der Galerie ist ja derzeit niemand. Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Ausführungen meiner Vorrednerinnen und Vorredner so ein bisschen Revue passieren lasse, dann frage ich mich schon: Wie weltfremd und realitätsfern kann eine Bundesregierung eigentlich sein und agieren? Wie weit weg von der Realität der Menschen wie die zurzeit amtierende kann eine Bundesregierung sein? – Es ist dramatisch. (Beifall bei der SPÖ. – Bundesrätin Mühlwerth: Im Gegenteil! Wir sind viel näher bei den Menschen!)

Ich erkläre Ihnen auch, warum ich das für so dramatisch halte. Kollegin Steiner-Wieser ist jetzt weg. (Bundesrat Steiner: Nein, das stimmt nicht! – Bundesrätin Steiner-Wieser, die hinter Bundesrat Rösch Platz genommen hat, steht auf.) – Ach da, sie hat sich hinten versteckt. Sie hat gesagt, die Sozialhilfe Neu soll kein Ersatz für Erwerbs­tätigkeit sein. (Zwischenrufe der Bundesräte Rösch und Steiner.) – Das ist mehr als zynisch! Sagen Sie das beispielswiese einmal einem Betroffenen 50 plus, der 100 oder 200 Bewerbungen abgeschickt hat und oft nicht einmal eine Absage erhält! Dem erklären Sie dann, dass die Sozialhilfe Neu, wie Sie es jetzt dann nennen möchten, keine soziale Hängematte sein soll! (Bundesrat Steiner: Es gibt so viele freie Stellen!) Das ist mehr als zynisch und aus meiner Sicht wirklich, wirklich gefährlich. (Beifall bei der SPÖ sowie der BundesrätInnen Dziedzic und Stögmüller.  Bundesrat Steiner: Händeringend suchen die Unternehmer Arbeitskräfte! – Weitere Zwischenrufe bei der FPÖ.) – Sie können sich gerne danach noch zu Wort melden; inzwischen hören Sie vielleicht aktiv zu, damit Sie auf Beiträge unsererseits dann auch richtig replizieren können. (Beifall bei der SPÖ.)

Ich darf uns zunächst einmal zwei Zahlen zu Gemüte führen, nämlich 1 259 Euro für eine Person und 2 643 Euro für eine Familie mit zwei Kindern. Das ist laut Armuts­konferenz die Armutsgefährdungsschwelle, Stand April 2019. Wenn einem also weni­ger als dieser Betrag pro Monat zur Verfügung steht, hat man als armutsgefährdet zu gelten beziehungsweise ist man als arm zu definieren. Armut, das wissen wir, bedeutet natürlich immer auch eine Einschränkung von Möglichkeiten. Armut bedeutet nicht nur ein geringes Einkommen, sondern ist, wir haben es heute schon gehört, oft verbunden mit schlechteren Bildungschancen, mit häufigeren gesundheitlichen Problemen und geringeren Möglichkeiten zur Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Kurz gesagt: Armut grenzt aus.

Wir haben vorgestern im Kinderrechteausschuss von ausgezeichneten Experten des Netzwerks Kinderrechte eine besorgniserregende Zahl bestätigt bekommen (Bundesrat Rösch: Das waren also ausgezeichnete Experten?), nämlich: In Österreich sind derzeit 324 000 Kinder armutsgefährdet, 130 000 von ihnen leben in akuter bezie­hungsweise manifester Armut. – Das sollte uns zu denken geben. Das einzig Positive in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass diese Zahl in den vergangenen Jahren wegen richtiger und wichtiger treffsicherer Maßnahmen – das ist uns auch bestätigt worden – der Vorgängerregierung immerhin rückläufig war. Wenn es nach dieser Bundesregierung geht, wird diese positive Tendenz mit der Umsetzung der Sozialhilfe Neu jetzt aber gestoppt, und ja, es wird ganz bewusst in Kauf genommen, dass die Zahl armutsgefährdeter Kinder wieder steigen wird. Das bereitet nicht nur mir sehr große Sorge.

Wir alle hier in diesem Raum haben zahlreiche Nachrichten, Appelle von NGOs, von Organisationen, aber auch aus der Zivilbevölkerung bekommen, diesem Gesetz unsere Zustimmung zu verweigern. Wir haben heute und hier alle miteinander die Chance, diese Sorgen wirklich ernst zu nehmen und zu zeigen, dass uns die Men­schen, die Hilfe brauchen, die Unterstützung brauchen, auch etwas wert sind. Daher mein Appell an Sie: Bekennen Sie nun auch wirklich Farbe in dieser Angelegenheit! (Rufe bei der FPÖ: Haben wir eh getan!)

Kleines Detail am Rande: Bei der Vorbereitung auf die heutige Sitzung bin ich auf etwas gestoßen, das mir dadurch wieder in Erinnerung gerufen wurde. Ich habe im Jahr 2017, im Juni war das, in der Budgetsitzung des Landtages von Niederösterreich, damals eben noch als Landtagsabgeordnete, einen Resolutionsantrag gegen die Einführung eines Hartz-IV-Modells – oder Kurz IV, wie ich das damals formuliert habe – eingebracht. (Bundesrätin Mühlwerth: Hartz IV haben Rot-Grün in Deutschland eingeführt!) Siehe da, daran habe ich mich gut erinnern können. Ich habe es dann noch einmal nachgelesen und habe es auch schwarz auf weiß hier. (Die Rednerin hält ein Schriftstück in die Höhe.) Damals hat die FPÖ noch fröhlich mit uns mitgestimmt. Ich frage mich also schon: Woher kommt dieser plötzliche Meinungsumschwung? So ändern sich offenbar die Meinungen, wenn man in einer anderen Position ist. (Beifall bei der SPÖ. – Heiterkeit bei der FPÖ.)

Jetzt regen sich natürlich wieder einige von Türkis und Blau im Plenum auf, und es stimmt schon: Die Sozialhilfe Neu ist nicht Hartz IV oder Kurz IV, sie ist auch nicht wie Hartz IV. Die Sozialhilfe Neu ist in Wahrheit noch viel schlimmer als Hartz IV (Zwi­schenruf des Bundesrates Steiner) – das bestätigen uns unter anderem auch die Diakonie und die weiteren insgesamt 139 negativen Stellungnahmen, die im Parlament dazu eingegangen sind –, denn wir und vor allem auch Sie wissen ganz genau, dass besonders Familien mit mehreren Kindern in Zukunft mit noch weniger als bei Hartz IV in Deutschland werden auskommen müssen. Nur mehr 1,50 Euro pro Tag ist unserer Bundesregierung das dritte Kind einer Familie wert. (Bundesrat Steiner: Sie können einfach nicht rechnen! Da fehlt die Kinderbeihilfe! – Bundesrat Rösch: Das stimmt nicht!)

Und noch ein pikantes Detail am Rande: Wenn ich diese Kürzungen bei Familien und Kindern addiere und hochrechne, ergibt das in etwa 40 Millionen Euro, und das ent­spricht in etwa dem Betrag, den die Kabinette in dieser Bundesregierung für PR und Werbung ausgeben. – Das zeigt schon recht deutlich die wahren Prioritäten und Inter­essen dieser blau-türkisen Regierung.

Mit Kürzungen beziehungsweise mit einer Deckelung müssen beispielsweise Men­schen rechnen, die in Wohngemeinschaften leben. Wir haben das heute schon gehört. Eine solche WG mit – zum Beispiel – fünf Personen erhält demnach in Zukunft 1 549,60 Euro. Das schaut auf den ersten Blick nach sehr viel aus, das sind aber, wenn man es dann doch durch diese fünf Personen dividiert, gerade einmal 310 Euro pro Person im Monat, mit denen es auszukommen gilt. (Bundesrätin Mühlwerth: Die leben dann ja eben zusammen!)

Die Frau Ministerin schafft es ja sogar mit 150 Euro im Monat. Wie das funktioniert, bitte, da hätte ich gerne noch eine Erklärung dazu. (Bundesrätin Mühlwerth: Das ist doch ein völliger Unfug!) Ich sehe diese Bestimmung auch als einen Angriff auf Stu­dierende (Bundesrätin Mühlwerth: Die ganzen Langzeitstudenten, genau!), als einen Angriff auf Menschen mit Behinderung und als einen Angriff auf Frauen, die von Gewalt betroffen sind, denn diese Personen sind es, die am häufigsten in WGs leben.

Betroffen sind außerdem Personen mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen, wie wir schon gehört haben. Ich muss das jetzt nicht noch näher ausführen. Es ist ab jetzt ein Sprachniveau von B1 notwendig. So weit, so gut – aber da schwingt schon ein gewisser Hohn mit, wenn man bedenkt, dass gerade im Bereich der Sprachkurse massiv gekürzt wurde. Den Menschen zunächst einmal die Möglichkeit nehmen, Deutsch zu lernen, und sie dann bei der Sozialhilfe benachteiligen, weil sie nicht Deutsch können, ist an Zynismus nicht zu überbieten. Das hat mit der ihnen vielfach vorgeworfenen Integrationsunwilligkeit überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei der SPÖ. – Zwischenruf des Bundesrates Steiner.)

Besonders pikant und unverständlich ist für mich, dass die Sozialhilfe Neu unter anderem auch Lernschwache benachteiligt. Menschen ohne Pflichtschulabschluss sind davon betroffen; wir haben das heute schon gehört. Das sind in Österreich immerhin 16 000 Menschen, und das sind überwiegend keine Menschen, die aus Faulheit keinen Schulabschluss haben, sondern da ist beispielsweise eine frühe Schwangerschaft dazwischengekommen oder ein Schicksalsschlag, von dem wir nichts wissen. Also das ist auch mehr als zynisch.

Zu kritisieren ist, dass es in diesem Gesetz nur so von Kannbestimmungen wimmelt, so zum Beispiel beim AlleinerzieherInnenbonus, beim Heizkostenzuschuss und bei vielem mehr. Das schiebt im Grunde nur die Kompetenz und die Verantwortung vom Bund weg hin zu den Bundesländern. Das eröffnet wiederum einen Wettbewerb nach unten, zumal ja jetzt im Gesetz keine Mindeststandards mehr festgeschrieben sind, wie das bei der Mindestsicherung der Fall war, sondern stattdessen lediglich Höchst­grenzen eingezogen werden. (Bundesrat Steiner: Habt ihr Angst vor Wien, dass da der Heizkostenzuschuss abgeschafft wird?)

Alles in allem werden dadurch Existenzen bedroht. Es werden ein Klassenkampf von oben betrieben und Menschen wie auch Bundesländer gegeneinander ausgespielt. Das Gesetz insgesamt würde ich als inhaltlich und handwerklich schlecht gemacht beurteilen. Obendrein ist es, wie wir bereits gehört haben, unter Umständen verfas­sungs­widrig.

Erlauben Sie mir noch ein paar persönliche Worte zum Abschluss: In meiner Praxis als Lehrerin habe ich es immer wieder einmal erlebt, dass Kinder nicht auf Exkursionen mitfahren können, nicht auf Skikurse mitfahren können, sich unter Umständen keinen neuen Taschenrechner kaufen können, weil das Geld dafür in der Familie eben nicht vorhanden ist. Sie können sich offensichtlich gar nicht vorstellen, wie unangenehm es den Eltern manchmal ist, um eine Förderung anzusuchen. Es ist ihnen zutiefst unan­genehm, es ist peinlich, weil man ganz schnell als schwach, arm und faul abgestempelt wird, und ja, es ist mit einer gewissen Scham verbunden. (Bundesrätin Mühlwerth: Nur bei den Inländern!)

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss: Kein Kind kann es sich aus­suchen, in welche Familie es hineingeboren wurde oder wird. Kein Kind hat die Wahl, ob seine Familie reich ist oder eben nicht. Die Politik hat da eine Verantwortung, eine Verantwortung dahin gehend, nicht die Spaltung unserer Gesellschaft, sondern die Solidarität mit den Schwächeren, mit jenen, die Unterstützung brauchen, um dann wirklich aus eigener Kraft das eigene Leben sichern und bestreiten zu können, voran­zutreiben.

Ich wiederhole es gerne noch einmal (Bundesrätin Mühlwerth: Nein, bitte nicht!): Keinem einzigen Menschen geht es auch nur um ein Quäntchen besser, wenn Sie einem anderen etwas von seinem Existenzminimum wegnehmen. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, nehmen mit diesem Gesetz Tausenden Kindern die Chance auf ein glückliches, erfülltes Leben. Jetzt, hier und heute haben Sie die Möglichkeit, den Menschen einen Anspruch auf ein Existenzminimum, als das die Mindestsicherung ja angelegt war, zuzugestehen.

Ich darf mit einem Zitat von Barbara Prammer, die es wirklich auf den Punkt gebracht hat, schließen: „Gerechtigkeit bedeutet, dass Schwächere, Benachteiligte und Ärmere nicht an den Rand gedrängt werden, sondern durch Inpflichtnahme der Stärkeren und Reicheren einen Ausgleich erhalten.“ (Bundesrat Steiner: Stimmt ja nicht!) Mein Appell an Sie: Sorgen Sie heute für Gerechtigkeit, damit wir morgen nicht in den Zeitungen lesen müssen: Wer schafft die Armut? – Die türkis-blaue Bundesregierung. (Beifall bei der SPÖ sowie der BundesrätInnen Dziedzic und Stögmüller. – Bundesrätin Mühlwerth: Das ist eine kommunistische Doktrin von Barbara Prammer!)

14.05

Präsident Ingo Appé: Zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Ing. Bernhard Rösch. Ich erteile ihm dieses.