9.26

Bundeskanzlerin Dr. Brigitte Bierlein: Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Mit­glieder des Bundesrates! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor genau einer Woche habe ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der Bundesregierung die­se zum ersten Mal im Parlament vorgestellt, und ich habe dabei unser Leitmotiv formu­liert: „Nichts hält das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit.“ Es ist unser erklärtes Ziel, für Verlässlichkeit zu stehen und um Vertrauen zu werben. Daher freue ich mich sehr, heute Gelegenheit zu haben, vor Ihnen, sehr geehrte Mitglieder des Bundesrates, unser Selbstverständnis näher zu erläutern und um Ihr Vertrauen zu ersuchen.

Meine Kolleginnen und Kollegen und ich sind uns der Besonderheit dieser Bundesre­gierung und der einmaligen Situation in der Geschichte unseres Landes bewusst. Eine vom Bundespräsidenten eingesetzte Bundesregierung hat es bis dato nicht gegeben. Unsere Bundesverfassung feiert nächstes Jahr ihren 100. Geburtstag, und in den vergangenen Tagen hat sich gezeigt, wie weitsichtig und verlässlich dieses Regelwerk ist.

In diesem Hohen Haus als erste Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen stand, Sie wis­sen es, nicht in meiner Lebensplanung. Ich wurde – ich denke, ebenso wie Sie mehr als überrascht. Umso mehr haben meine Kolleginnen und Kollegen in der Bundesre­gierung und ich diese Aufgabe mit großer Demut, aber auch mit großer Freude über­nommen. Der Herr Vizekanzler würde sagen: mit gewisser Heiterkeit; zumindest hat er das so formuliert.

Mein herzlicher Dank gilt dem Herrn Bundespräsidenten. Sein Vertrauen ehrt uns und ist Auftrag zugleich, die in uns gesetzten Erwartungen zu erfüllen: unserem Land zu dienen, Stabilität und Verlässlichkeit zu garantieren, bis in der Folge nach den Natio­nalratswahlen im September eine neue Bundesregierung angelobt werden kann.

In den vergangenen Jahrzehnten konnte ich unserem Rechtsstaat in verschiedenen Funktionen dienen. Es war für mich ein großes Privileg, dass ich viele Jahre mit an der Spitze des Verfassungsgerichtshofes tätig sein konnte, und ich kann Ihnen versichern, dass ich diese Funktion nur schweren Herzens aufgegeben habe. Ich weiß aber den Verfassungsgerichtshof, eine so besonders wichtige Institution unseres Rechtsstaates, in den Händen des Herrn Vizepräsidenten sehr gut aufgehoben.

Bereits in meiner Antrittsrede habe ich auf die Bedeutung eines möglichst breiten Dia­logs hingewiesen. Als Mitglieder des Bundesrates wissen Sie, wie wichtig der konstruk­tive Dialog, das Miteinander ist, insbesondere wenn es um die Vertretung der Interes­sen der Länder im Prozess der Bundesgesetzgebung geht.

Ich habe schon in den ersten Tagen zahlreiche Gespräche führen können – mit dem Präsidenten und den Präsidentinnen des Nationalrates, mit Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident Appé, mit allen Parteiobleuten, mit einzelnen Landeshauptleuten und mit Klubobleuten sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Diesen Dia­log möchte und werde ich in meiner gesamten Amtszeit aufrechterhalten. Dabei ist mir der Kontakt zu den Vertreterinnen und Vertretern der Länder ein großes Anliegen. Ös­terreich ist eine starke Republik mit starken Bundesländern. In den nächsten Wochen werde ich versuchen, mit allen Landeshauptleuten zusammenzutreffen. Ich freue mich auf die Besuche in den Ländern und den Austausch vor Ort.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie sind ein wichtiger, fester und unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesetzgebung. Unsere Gesetze ermöglichen es uns, in Frieden und Freiheit miteinander zu leben und Probleme gemeinsam zu lösen.

Diese Bundesregierung verfügt weder über ein Wahlprogramm, das es einzuhalten gilt, noch hat sie Wahlversprechen getätigt, die einzulösen wären. Unsere Aufgabe ist klar: die Gewährleistung von Stabilität, Sicherheit und Verlässlichkeit. In diesem Sinn ist die­se Bundesregierung voll handlungsfähig. Ich möchte Ihnen sowie allen Mitbürgerinnen und -bürgern versichern, dass alle Dienstleistungen des Staates in uneingeschränktem Ausmaß zur Verfügung stehen.

Bei unserer Amtsführung sind wir von folgenden Grundsätzen geleitet: höchstmögliche Qualität, größtmögliche Sparsamkeit, Verzicht auf tagespolitisches Kalkül, Abwenden von Schaden von der Republik und Verzicht auf das Treffen von besonders wichtigen innerösterreichischen Personalentscheidungen. Im Zentrum unseres Handelns stehen die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sowie all jene, die in diesem Land leben – diesen Menschen dienen wir.

Ihnen, sehr geehrte Mitglieder des Bundesrates, gilt als Vertreter der Interessen der Länder unser höchster Respekt. Wichtige politische Entscheidungen müssen und sol­len von der nächsten Bundesregierung getroffen werden. Es gehört ebenso zu unse­rem Selbstverständnis, dass wir als Exekutive die Beschlüsse der Legislative nach bestem Wissen und Gewissen vollziehen werden. Es liegt zu Recht in den Händen der Parlamentarier als gewählte Volksvertreter, die aus ihrer Sicht notwendigen Beschlüs­se bis zur Wahl zu treffen, und zwar mit Maß, Weitblick und Verantwortungsbewusst­sein.

Österreich ist und bleibt ein verlässlicher Partner in Europa und in der Welt. Seit fast ei­nem Vierteljahrhundert sind wir mit Stolz Mitglied der Europäischen Union. Wir sind und bleiben eine starke Stimme für und in Europa.

Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament stehen nun wichtige Entscheidungen an, die unser aller Zukunft beeinflussen werden – die Verhandlungen zum Mehrjähri­gen Finanzrahmen, die Abwicklung des Brexits und insbesondere weitreichende Per­sonalentscheidungen. Alle Personalia müssen von fachlicher Expertise und politischem Können geleitet sein. Daher freue ich mich auf den Austausch mit den Mitgliedern des Hauptausschusses des Nationalrates im Anschluss an diese Sitzung, denn ich habe selbstverständlich vor, die auf europäischer Ebene anstehenden Entscheidungen im engen Dialog mit den zuständigen Gremien des Parlaments zu erörtern und vorzube­reiten.

Morgen werde ich gemeinsam mit dem Herrn Außenminister am Treffen des Europäi­schen Rates in Brüssel teilnehmen. Österreich wird wie gewohnt seine Stimme in en­ger Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedstaaten einbringen. Ich kann dabei auf die große Expertise unserer Diplomatinnen und Diplomaten sowie die gut eingespielten Abstimmungsprozesse zurückgreifen.

Jede Generation hat ihre Chancen und Herausforderungen wie zum Beispiel die schon vom Herrn Präsidenten angesprochenen Themen Klimawandel und Digitalisierung. Die globalisierte Welt, in der wir leben, bedingt, dass wir unmittelbarer von den Gescheh­nissen betroffen sind und daher rasch und überlegt handeln müssen. In welcher Ge­sellschaft wollen wir in Zukunft leben? – Eine abschließende Antwort kann es nicht geben, sehr wohl aber können wir gemeinsam die nächsten Schritte erörtern. Uns alle eint ein gemeinsames Ziel: ein Österreich, das nicht von Furcht, sondern von Mut und Zuversicht geprägt ist, das in Risken Potenzial sieht und das Miteinander vor das Tren­nende stellt.

Anders als bei vorangegangenen Regierungen gibt es derzeit keine Unterscheidung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien; umso mehr liegt der politische Dis­kurs, das Abwägen der unterschiedlichen Interessen und das Finden eines Konsenses in Ihrer Verantwortung als Länder- und Volksvertreter.

Bei allen Unterschieden sind wir vereint. Die Toleranz, im Besonderen gegenüber der anderen Meinung, ohne Feindbilder zu stilisieren, das ist es vor allem, was uns als demokratischen Rechtsstaat ausmacht und zusammenhält. Das ist und bleibt für mich als langjährige Juristin, Richterin und nun als Bundeskanzlerin meine Grundüberzeu­gung.

Wie vor einer Woche die Abgeordneten des Nationalrates bitte ich auch Sie, geschätz­te Mitglieder des Bundesrates, Vorbild für alle zu sein, stets den Dialog zu suchen und den Konsens anzustreben. Meine Kolleginnen und Kollegen in der Bundesregierung und ich werden nach Kräften dazu beitragen, Ihr Vertrauen zu gewinnen. In diesem Sinne freue ich mich sehr auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen. – Vielen Dank. (All­gemeiner Beifall.)

9.36

Präsident Ingo Appé: Ich danke der Frau Bundeskanzlerin für Ihre Ausführungen.

Nunmehr erteile ich dem Herrn Vizekanzler zur Abgabe einer Erklärung betreffend die neue Bundesregierung das Wort.