9.16

Landeshauptmann von Salzburg Dr. Wilfried Haslauer: Sehr geschätzte Frau Prä­sidentin, liebe Andrea! Hoher Bundesrat! Ich bedanke mich für die Möglichkeit, hier in diesem prachtvollen Raum, in dem der Nationalrat und der Bundesrat als sichtbares Zeichen sowohl der Bundesinteressen als auch der föderalen Interessen tagen, vor Ihnen zu sprechen.

Die letzten dreieinhalb Monate haben uns alle extrem gefordert. Über Nacht war das Leben auf einmal ganz anders. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, es sind aber nur dreieinhalb Monate. Es war vor dreieinhalb Monaten, als überraschend die Betriebe schließen mussten, Leute arbeitslos wurden, in Kurzarbeit gegangen sind. Es war eine Zeit, in der wir Angehörige in Seniorenwohnheimen nicht besuchen konnten, in der wir uns von Verstorbenen nicht verabschieden konnten – ein Riesenproblem: Es gibt ja Generationen auf dem Land, die zum Teil noch sechs, sieben Kinder haben, und wenn es dann bei Begräbnissen Beschränkungen bei Teilnehmerzahlen gibt, sind das enorme psychische Belastungen für eine Gesellschaft. Die Sorge um die wirtschaftliche Ent­wicklung, um die Arbeitsplätze: Ich gebe Ihnen Salzburg als Beispiel: Fast 60 Prozent aller unselbständig Beschäftigten – 60 Prozent! – sind arbeitslos oder in Kurzarbeit. Es war also eine dramatische Situation, in der wir uns in den letzten dreieinhalb Monaten befunden haben.

Ich möchte hier ausdrücklich Dank an die Bundesregierung erstatten: dafür, dass mit entschlossenen Maßnahmen – in virologischer Hinsicht entschlossenen Maßnahmen –, aber auch mit ökonomisch sinnvollen Maßnahmen versucht wird, Arbeitsplätze zu hal­ten, Sicherheit zu geben, die Pandemie, die Epidemie zu bekämpfen – und ich meine: mit gutem Erfolg.

Die Zukunft ist ungewiss. Das Eis, auf dem wir uns bewegen, ist brüchig, und das Gefäß, in dem wir uns all die Jahre so sicher gefühlt haben, hat Sprünge bekommen.

Vor 100 Jahren war die Zukunft aber auch ungewiss – ungleich ungewisser als heute. Ein über Jahrhunderte aufgebauter Vielvölkerstaat zerbrach in wenigen Wochen am Ende eines Krieges. Ein ausgeblutetes Land, das der Rest eines großen Reiches war, wusste nichts mit sich anzufangen, hat nicht an sich geglaubt, hat keine Erfahrung mit Demokratie, mit der Republik gehabt, hat keine Option für die Zukunft gehabt. Zu dieser Zeit – vor 100 Jahren – sind zwei entscheidende Dinge passiert, die genau zu dem Thema, das ich mir für den Vorsitz in der Landeshauptleutekonferenz vorgenommen habe – Stabilität und Zuversicht –, passen.

Ich komme zur Stabilität: die Bundesverfassung. Für dieses Haus, für den Bundesrat, möchte ich das besonders in den Vordergrund rücken.

Am 22.10.1918 haben sich im Niederösterreichischen Landhaus die Landeshauptleute und Landesausschüsse aller Bundesländer – mit Ausnahme von Wien und Burgenland – getroffen, um die künftige Entwicklung des Reststaates zu erörtern. Am 30.10.1918 wurde von der Provisorischen Nationalversammlung vom Balkon des Niederöster­reichi­schen Landhauses aus die Republik ausgerufen. Es wurde das Staatsgesetzblatt Nr. 1 über die grundlegenden Regelungen des Staates und der Bruch der Verfassungs­kontinuität – der Bruch mit der Dezemberverfassung von 1867 – verlautbart. Für eine kurze Zeit von zwölf Tagen, nämlich bis zum 12.11.1918, bestanden auf dem Staats­gebiet Österreichs zwei Staaten: das alte Kaiserreich und die neu ausgerufene Republik Deutschösterreich. Wenige Tage später haben alle Bundesländer – auch Salzburg – begonnen, sich in den provisorischen Landesversammlungen als eigenständige Provinzen zu erklären und den Beitritt zur Republik Deutschösterreich zu beschließen. Am 12.11.1918 wurde von der Rampe des Parlaments aus die Republik ausgerufen. Die ersten Schüsse fielen, die ersten Toten waren zu beklagen – ein denkbar schlechter Start.

Doch die junge Republik ging mit Verve an die Arbeit. Viele Sozialreformen wurden durchgeführt. Es ist erstaunlich, wenn man das im Rückblick betrachtet, was da alles geleistet wurde. Am 1.10.1920 wurde die von Hans Kelsen geschaffene Bundes­ver­fassung beschlossen – Ergebnis eines zähen Ringens zwischen Zentralisten und Föderalisten, ein guter Ausgleich, der 1929 nochmals nachgeschärft wurde. Damals war eine zentralistisch-autoritäre Tendenz in ganz Europa zu sehen. Die Rechte des Bun­despräsidenten wurden massiv gestärkt, es wurde ihm der Oberbefehl über das Bundesheer und die Möglichkeit gegeben, Regierungen einzusetzen, das Parlament aufzulösen, auch mit Notverordnung zu regieren. Die Macht der Bundespolizei wurde durch die Sicherheitsdirektionen auch in den Ländern ausgebaut.

Das ist jene Verfassung, die 1933 bei der sogenannten Selbstausschaltung des Par­laments gegolten hat, die aber auch 2019 im Zuge der Ihnen bestens bekannten Vorgänge mit dem Sturz der Regierung und den anschließenden Neuwahlen gegolten hat – unsere schöne Verfassung, wie das der Herr Bundespräsident zum Ausdruck gebracht hat.

Stabilität ist immer auch eine Frage der Rechtsstaatlichkeit. Die Rechtsstaatlichkeit ist der eiserne Anker, an dem wir nicht rütteln dürfen. Die kluge Verteilung des Anteils an der Staatsgewalt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ist ein ständiges Austarieren der Möglichkeiten, aber auch der übertragenen Aufgaben, die deckungsgleich zu schal­ten sind.

In eben diesem Jahr 1920, vor 100 Jahren, war die Situation dramatisch. In Salzburg gab es eine derartige Armut und einen derartigen Hunger, dass Touristen das Stadt­gebiet nicht betreten durften, weil nicht genug Lebensmittel vorhanden waren, um die eigene Bevölkerung zu ernähren. Es kam zu Hungerdemonstrationen. Der Landes­hauptmann hat dem Bundespräsidenten telegrafiert, er möge doch einige Waggons Getreide schicken, er könne sonst die Aufrechterhaltung von Recht, Sicherheit und Ordnung nicht gewährleisten.

In dieser dramatischen Situation kamen einige Männer zusammen und haben die Salzburger Festspiele gegründet. Was für Visionäre! Was für eine große intellektuelle und beherzte Tat, genau in dieser Zeit das Völkerverbindende zu suchen, nicht nur an das Notwendige, an das Nützliche zu denken, sondern darüber hinaus an die Seele, an die Kultur, an all das, was uns Menschen ausmacht, an die großen Fragen des Lebens, die im Theater, in der Oper und im Konzert verhandelt werden! Das, meine Damen und Herren, hat dazu geführt, dass Kunst und Kultur der globale Leuchtturm für Österreich sind. Da sind wir wirklich Weltmeister, dafür stehen wir. Das ist eine Stärke, um die wir uns auch bemühen müssen, um die wir kämpfen müssen.

Gerade in den letzten Monaten haben auch viele Kunstschaffende, Kulturschaffende und viele Veranstalter die Existenzgrundlage verloren, daher ist es auch im Sinne unserer Tradition, aber darüber hinaus von essenzieller Bedeutung, dass wir Kunst und Kultur wieder ermöglichen. Ich bin daher sehr glücklich, dass wir auch Salzburger Festspiele in modifizierter Form, in kleinerer Form – nicht in der gewohnten Größe, aber nach wie vor mit einem hohen Qualitätsanspruch – durchführen können, um einfach zu zeigen: Wir sind da!, um die Resilienz von Kultur, von Kunst, aber auch von Lebensfreude zu schaffen, denn wir werden nicht zurückkommen, wenn wir nicht zuversichtlich sind, und Zuversicht hat immer mit Freude zu tun, mit Lebensfreude, mit Zusammensein, damit, sich großen Ereignissen hinzugeben. Da ist die Kultur etwas, was unser Leben anreichert und bereichert. (Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen.)

Ich habe mich daher entschlossen, den Vorsitz in der Landeshauptleutekonferenz unter das Motto Stabilität und Zuversicht zu stellen.

Wir haben eine Gratwanderung vor uns: Was lassen wir zu, was lassen wir nicht zu? Da wir die Zukunft nicht vorhersehen können, da wir nicht wissen, welche Cluster wo wann ausbrechen, müssen wir sehr vorsichtig sein, das ist klar, aber wir werden einen zweiten Shutdown nicht aushalten. Das muss uns allen klar sein, denn dann wären wir wirklich auf Dauer schwerst beschädigt. Es ist daher wichtig, dass wir uns mit aller Kraft be­mühen, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, mit diesem Virus, bis entsprechende Impfmöglichkeiten zur Verfügung stehen, zu leben und organisatorisch auch die Maß­nahmen zu treffen, das Virus in den Griff zu bekommen und trotzdem wieder für Arbeit zu sorgen, Arbeit zu schaffen und ein Leben zu ermöglichen.

Viele Aufgaben liegen vor uns. Es ist ja nicht nur die Covid-Krise, da haben die Länder natürlich ihre Interessen. Wir haben wichtige Forderungen einzubringen, zum Beispiel die Screeningregister: Wenn wir flächendeckende Tests im Tourismus machen – was eine sinnvolle Maßnahme ist –, dann brauchen wir auch die Screeningregister, damit die Dinge entsprechend eingetragen werden.

Die Frage der Entschädigungszahlungen nach § 32 Epidemiegesetz: Tausende Anträge sind unerledigt, weil wir noch nicht wissen, wie die Entschädigungen sozusagen bundeseinheitlich ausbezahlt werden können.

Die Frage der Verteilung der Kosten: Die Streiterei mit dem Bund kommt jetzt auf uns zu, das muss uns klar sein. Der nationale Schulterschluss, den es gegeben hat, wird so auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten sein. Letztlich geht es dann immer um Verteilungs­fragen, um Geldfragen. Viele andere Themen mehr werden uns noch massiv belasten.

Dazu kommt das Übliche, wenn ich so sagen soll: das Programm, das sich auch Thomas Stelzer, mein Vorgänger als Vorsitzender, zu Beginn des Jahres 2020 vorgenommen hat und das von der Covid-Krise völlig überschattet wurde. Das Thema Pflege, das Thema des Finanzausgleichs: Wie gehen wir damit um? Da geht es ja auch um die Gemeinden. Das Thema Investitionen in den Ländern im Zusammenhang mit dem Klimaschutz: Das ist eine Riesenchance für die Länder, auch ihre Infrastruktur, ihre Verkehrsinfrastruktur, zum Beispiel im Bereich des öffentlichen Verkehrs, weiter auszubauen.

Meine Damen und Herren! Mir wird da mit Sicherheit nicht fad werden. Die großen Herausforderungen sind, Beschäftigung zu schaffen, wieder in eine günstige Beschäf­tigungssituation zu kommen und auch Stabilität in der Erwartungshaltung unserer Be­völkerung zu bekommen. Wenn man arbeitslos oder in Kurzarbeit ist, wenn man nicht weiß, ob der Betrieb überleben wird, dann wird man auch nichts konsumieren, dann ist das Leben einfach von Unsicherheit überschattet. Die Leute wollen in ihrer tagtäglichen Erwartungshaltung Stabilität haben, Sicherheit haben.

Das wird die größte gemeinsame Aufgabe. Ich bitte Sie, bei allen unterschiedlichen Parteiinteressen, bei allem Bemühen, auch sozusagen fraktionell mit eigenen Ideen sichtbar zu werden, bei aller wechselseitigen Kritik an Positionen, an den Regierungen, an was auch immer, diese gemeinsame Brücke nicht zu verlieren!

Ich halte es für das Allerentscheidendste, letztlich immer noch für die gemeinsame Sache einzustehen, für die Menschen in unserem Land für Arbeit zu sorgen, mit dem Thema Klimaschutz, mit der technologischen Änderung umzugehen, international wett­bewerbsfähig zu bleiben und auch, wie die Präsidentin sagt, eine Kultur des Mit­einanders nicht zu vergessen.

Karl Kraus hat einmal gesagt: „Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Ge­dankens.“ – Achten wir auf unsere Sprache, darauf, wie wir miteinander umgehen! Das hat auch in der Politik einen unmittelbaren Niederschlag auf die Akzeptanz eines Staates und eines Rechtssystems in der Bevölkerung. Darauf möchte ich sehr intensiv hin­weisen. (Beifall bei ÖVP und Grünen sowie bei BundesrätInnen der SPÖ.)

Meine sehr geschätzten Damen und Herren! Die österreichischen Bundesländer sehen sich nicht als Gegner des Bundes, sondern als Partner des Bundes zur gemeinsamen Bewältigung der gesamtstaatlichen Interessen von Gemeinden, Ländern und Bund. Nur mit diesem Zusammenhalt, nur mit dieser Gemeinsamkeit können wir in einer heraus­fordernden Zeit für Stabilität, aber auch für Zuversicht sorgen – für die Zuversicht, dass die Regierenden, egal auf welcher Ebene sie tätig sind, die Dinge schon in den Griff bekommen, und dass eine aktive Opposition ein genaues Auge darauf hat, was passiert und wie es passiert.

Ich möchte mich beim scheidenden Bundesratspräsidenten Seeber sehr bedanken. Herzlichen Dank für deine Bemühungen, deine aktive Tätigkeit! Ich wünsche dir, liebe Andrea, als neue Präsidentin des Bundesrates für dieses fordernde halbe Jahr, das vor uns steht, alles erdenklich Gute, eine gute Hand und viel Unterstützung aus dem Bundesrat!

Ich möchte mit einem Zitat von Bertolt Brecht schließen, der einmal gesagt hat: Wir haben die Mühe des Anstieges hinter uns und die Mühe der Ebene noch vor uns. – Zitatende. Mit einer guten Kultur des Miteinanders, mit Stabilität und Zuversicht werden wir diese Mühen gemeinsam gut bewältigen. – Ich danke Ihnen. (Allgemeiner Beifall.)

9.32

Präsidentin Dr. Andrea Eder-Gitschthaler: Ich danke dem Herrn Landeshauptmann von Salzburg für seine Ausführungen. (Landeshauptmann Haslauer überreicht der Präsidentin einen Blumenstrauß.) – Das ist aber sehr nett, danke schön. (Allgemeiner Beifall.)

Wir gehen in die Debatte ein.

Zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Silvester Gfrerer. – Herr Bundesrat, ich erteile es Ihnen.