9.17

Bundesrätin Mag. Daniela Gruber-Pruner (SPÖ, Wien): Herr Präsident! Geschätzter Herr Minister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuseherinnen und Zuse­her! Wenn nur alles so rosig wäre, wie meine Vorrednerin es geschildert hat, dann müssten wir das heute nicht diskutieren. (Beifall bei der SPÖ.)

Wenn ich als Politikerin und auch als Pädagogin eine Entscheidung zu treffen habe, die so heikel ist wie in diesem Fall, nämlich ob Schulen offen bleiben können oder nicht, dann befrage ich im Zweifelsfall die UN-Kinderrechtskonvention, nämlich: Welche Rechte von jungen Menschen, die von dieser Maßnahme so sehr betroffen sind, sind in Gefahr und welche sind gewahrt? Oft ist es dann so: Wenn man Themen, die Kinder betreffen, mit den Kinderrechten in Relation setzt, dann geht es um eine Abwägung ihrer Inter­essen und ihrer Rechte.

In diesem Fall der vierten Welle und der Frage, was mit den Schulen passieren soll, würde sich das möglicherweise so anhören: Es gibt das Recht eines jeden Kindes auf den Schutz seiner Gesundheit und auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Beides ist aktuell in der Covid-Situation, in der wir uns befinden, in großer Gefahr. Wir wissen, auch Kinder erkranken derzeit an dem Virus; es gibt auch welche, die auf den Inten­sivstationen liegen, und es gibt leider auch die ersten Todesfälle. Also ja, Kinder sind in großer Gefahr – und dieses Kinderrecht ist in großer Gefahr.

Abgesehen von dieser physischen Situation ist natürlich auch die psychische Situation enorm angespannt. Wir bekommen fast täglich Berichte aus den Psychiatrien, aus den Ambulanzen, wie sich dort die Wartelisten verlängern und wie angespannt und wirklich lebensbedrohlich die Situation für viele Kinder ist.

Es gibt aber gleichwertig zu diesem Recht auf Gesundheit auch das Recht aller Kinder auf Bildung. Und ja, wir als SPÖ haben uns immer, von Anfang an, für offene Schulen ausgesprochen, vor allem deshalb, weil wir eben wissen, was passiert, wenn Schulen nicht offen sind. Wir wissen mittlerweile auch – und davor haben wir immer gewarnt –, dass es viele Schülerinnen und Schüler gibt, die man bei geschlossenen Schulen nicht mehr erreichen kann und die nachhaltig in Schwierigkeiten geraten. Auch das ist aktuell der Fall.

Wenn man also diese beiden Rechte gegeneinander abwägt, gibt es in diesem kon­kreten Fall keine eindeutig gute Lösung für die aktuelle Situation. Herr Minister, Ihrer Herleitung, Ihrer Bewertung der Situation während der entscheidenden Pressekonferenz vor wenigen Tagen konnte ich einiges abgewinnen. Ich glaube, wir teilen einige dieser Punkte.

Trotzdem haben wir massive Kritik speziell an drei Dingen:

Der erste Punkt – und das ist wahrscheinlich der stärkste –: Wir müssten nicht in dieser verheerenden Situation sein, wenn diese Regierung rechtzeitig die notwendigen Maß­nahmen getroffen hätte. (Beifall bei der SPÖ.) So viele ExpertInnen warnen seit Monaten vor diesem Herbst, vor diesem Winter, vor dieser vierten Welle. Ich als Wiener Bun­desrätin schaue recht stolz nach Wien: Der Wiener Bürgermeister hat konsequent den vorsichtigeren Weg gewählt und sich auch dieser Kritik gestellt, mit der er konfron­tiert war. Das hat sich aber mehrfach bewährt. – Und nein, unangenehme Entschei­dungen werden von dieser Regierung einfach nicht getroffen. Darum stehen wir jetzt in dieser Situation. Am Ende müssen wie bei den vorhergehenden drei Lockdowns wieder die Kinder den Preis für dieses Nichthandeln der Regierung bezahlen – und das klagen wir an.

Der zweite Kritikpunkt: Wenn ein System auf einen Krisenmodus zusteuert, nämlich mit diesem Tempo eigentlich in diesen Krisenmodus hineingerast ist, wenn Österreich – wie damals bei dieser Pressekonferenz – kurz vor einem vierten Lockdown steht, wenn bei allen Menschen in unserem Land mittlerweile die Nerven blank liegen und wenn vor allem die Systemerhalter und die Systemerhalterinnen nicht mehr können, dann – so habe ich es in der Psychologie in Bezug auf Krisensituationen gelernt – sind klare Ansagen jedenfalls besser als Unklarheit. (Beifall bei der SPÖ.)

Herr Minister, ein Jein kann nicht die Lösung sein. Dass ein Jein – man hält die Schulen offen, sagt aber: schickt die Kinder nicht!, und begleitet die Kinder auch nicht wirklich zu Hause – keine Lösung sein kann, das merkt man jetzt an der Verzweiflung der Eltern, der LehrerInnen und der Kinder. Alle sind verunsichert, alle wursteln eh nach bestem Wissen und Gewissen dahin – das möchte ich nicht bezweifeln –, und in Wahrheit wurde die Verantwortung der Politik an alle anderen abgegeben und delegiert – eben auch an die Kinder. Wie auch immer sich die Kinder und die Eltern jetzt entscheiden, es fühlt sich nicht richtig an: Gehen sie in die Schule, helfen sie nicht mit, das Infektionsgeschehen einzubremsen; gehen sie nicht in die Schule, können sie nicht sicher sein, was sie verpassen und welche Konsequenzen das für ihre Bildungslaufbahn haben wird. Das bringt Kinder und Eltern – und da bin ich ganz anderer Ansicht als meine Vorrednerin – in einen unglaublichen Interessenkonflikt, und das ist eine falsche Wahlfreiheit. (Beifall bei der SPÖ.)

Der dritte Kritikpunkt, Herr Minister, betrifft die Zeit zwischen den Lockdowns, die nicht entsprechend genutzt wurde. Er betrifft die Frage, welche Vorkehrungen getroffen wurden, um diesen vierten Lockdown zu verhindern und um auch die Schulen dafür fit zu machen. Es hätte massive Anstrengungen gebraucht, die Bildungseinrichtungen noch digitaler zu machen. Es hätte massive Anstrengungen gebraucht, das Begleitsystem der Schulen stärker auszubauen: Teamteaching, Sozialarbeit, individuelle Zuwendung für die Schülerinnen und Schüler, Einrichtung von Anlaufstellen für Eltern und vieles mehr. All das hätte man im Sommer, in der Zeit, die zur Verfügung gestanden wäre, tun können.

Herr Minister, noch eine letzte Kritik – das ist eigentlich ein vierter Punkt –: Mit der Wahl des Titels dieser Aktuellen Stunde hat sich zum wiederholten Male offenbart, was sich eigentlich bei all Ihren Pressekonferenzen durchzieht: Sie haben offenbar einen blinden Fleck in der Bildungspolitik, nämlich in den Bereichen der Elementarbildung, im Bereich der Lehre, im Bereich der Universität. Auch in diesen Bereichen brennt aber der Hut, nicht nur in der Schule. Deshalb haben wir uns entschieden, hat sich die sozialdemo­kratische Fraktion entschieden, dass wir das heute noch einmal ausführlich mit Ihnen besprechen wollen. Daher haben wir Sie, Herr Minister, heute noch einmal zu einer Dringlichen Anfrage ins Hohe Haus geladen. Das heißt, Herr Minister, alles Weitere, alle weiteren Problemfelder werden wir am Nachmittag mit Ihnen besprechen, denn Bildung ist uns wichtig, und sie verdient, dass die Aufmerksamkeit auf alle Bereiche, nicht nur auf die Schule gelegt wird. – Danke schön. (Beifall bei der SPÖ.)

9.25

Präsident Dr. Peter Raggl: Zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Marlies Steiner-Wieser. Ich erteile ihr dieses.