6930 der Beilagen zu den Stenographischen
Protokollen des Bundesrates
Bericht
des Ausschusses für Verfassung und Föderalismus
über den Beschluss des Nationalrates vom 3. Dezember 2003
betreffend einen Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 25. Juni 2002
und 23. September 2002 (2002/772/EG, Euratom) zur Änderung des Akts zur
Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen
Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom samt Erklärungen
Die rechtliche Grundlage für die
Direktwahlen zum Europäischen Parlament ab 1979 bildet der „Akt zur
Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten
des Europäischen Parlaments vom 20.September 1976“ (76/787/EGKS, EWG,
EURATOM – in der Folge Direktwahlakt, kurz DWA), der als einstimmiger Beschluss des Rates in der
Zusammensetzung der Vertreter der Mitgliedstaaten angenommen wurde. Dieser Akt
stellt eine Rahmengesetzgebung für die Direktwahl dar, ohne jedoch ein einheitliches
Wahlverfahren vorzusehen. Art. 7 des Aktes sieht vor, dass sich das
Wahlverfahren bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens in jedem
Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften bestimmt.
Zur Festlegung eines solchen Wahlverfahrens
auf der Basis eines Entwurfes des Europäischen Parlaments sieht der EGV in
Art. 190 Abs. 4 ein besonderes Normerzeugungsverfahren vor: „Der
Rat erlässt nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der
Mehrheit seiner Mitglieder erteilt wird, einstimmig die entsprechenden
Bestimmungen und empfiehlt sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren
verfassungsrechtlichen Vorschriften.“
Die ab 1979 unternommenen Versuche, ein
einheitliches Wahlverfahren festzulegen, scheiterten an der Uneinigkeit in und
zwischen Rat und Europäischem Parlament.
Durch den Vertrag von Amsterdam wurden
Art.190 EGV und Art. 108 Euratom-Vertrag dahingehend geändert, dass das EP
im Entwurf für einen Wahlakt nicht mehr unbedingt ein einheitliches
Wahlverfahren in allen Mitgliedstaaten vorsehen muss, sondern auch einen „im
Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen“ stehenden
Wahlakt vorlegen kann.
Das Europäische Parlament hat – noch
vor Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam – am 15. Juli 1998 als Annex einer
Entschließung (A4-0212/1998 vom 15.7.98 zum Anastassopoulos-Bericht, A4-0212/98
vom 2.6.98) einen „Entwurf für ein Wahlverfahren, das auf gemeinsamen
Grundsätzen für die Wahl der Mitglieder des EP beruht“, unterbreitet.
Auf Ratsebene wurde dieser Entwurf zwischen
Dezember 1998 und Dezember 1999 im Ausschuss Ständiger Vertreter behandelt. Die
substantiellen Kernelemente der Reform des DWA waren – abgesehen von der
Unvereinbarkeit von europäischem und nationalem Mandat – kaum strittig, da
praktisch nur solche Grundsätze aufgenommen wurden, die in allen nationalen
Rechtsordnungen bereits gegeben waren. Das betrifft insbesondere das
Verhältniswahlrecht, das (seit 1999) in allen 15 Mitgliedstaaten angewandt
wird.
Im Rat Allgemeine Angelegenheiten vom
6.Dezember 1999 blieben noch drei Punkte offen, über die erst um die
Jahreswende 2001/2002 politische Einigung erzielt wurde (siehe unten):
· Festlegung des Wahltermins;
· Bestimmungen über die Unvereinbarkeit von
europäischem und nationalem Abgeordnetenmandat.
· Die Teilnahme der Bevölkerung von Gibraltar an den Wahlen
zum Europäischen Parlament.
Der Rat erzielte schließlich am 23. Mai
2002 eine definitive politische Einigung über den Inhalt eines Beschlusses zur
Änderung des DWA und die gleichzeitig ins Ratsprotokoll aufzunehmenden
Erklärungen. Das Europäische Parlament erteilte am 12. Juni 2002 seine
Zustimmung. Somit wurde mit Beschluss des Rates 2002/772/EG, Euratom vom
25. Juni 2002 und 23. September 2002 (in gälischer Sprachfassung) der
DWA geändert (ABl. Nr. L 283 vom 21.Oktober 2002, S. 1),
indem einige zusätzliche, den Wahlverfahren aller Mitgliedstaaten gemeinsame
Grundsätze festgelegt wurden, die in der folgenden Aufzählung dargestellt
werden:
· Allgemeine, unmittelbare, freie und
geheime Wahlen (bisher „allgemeine, unmittelbare“ Wahlen);
· 5-jährige Legislaturperiode (schon bisher,
nur Formulierungsänderung);
· Vorrechte und Befreiungen der Abgeordneten
bestimmen sich nach dem Protokoll vom 8.April 1965 über die Vorrechte und
Befreiungen der EG (schon bisher, nur Formulierungsänderung);
· Verhältniswahlsystem, auf der Grundlage
von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen (neu);
· Die Mitgliedstaaten können Vorzugsstimmen
nach den von ihnen festgelegten Modalitäten zulassen (neu).
· Die Mitgliedstaaten können entsprechend
ihren nationalen Besonderheiten Wahlkreise einrichten, soweit dadurch nicht das
Verhältniswahlsystem insgesamt in Frage gestellt wird (neu).
· Für die Sitzvergabe kann eine
Mindestschwelle festgelegt werden, die jedoch landesweit nicht mehr als 5% der
abgegebenen Stimmen betragen darf (neu).
· Jeder Mitgliedstaat kann eine Obergrenze
für Wahlkampfkosten festlegen (neu).
· Unbeschadet befristeter
Übergangsregelungen für das Vereinigte Königreich und Irland ist das Mandat
eines Mitglieds des Europäischen Parlaments unvereinbar mit der
Mitgliedschaft in einem nationalen Parlament (neu, bisher war ein Doppelmandat
ausdrücklich zulässig).
· Zusätzliche Unvereinbarkeitsregelungen mit der Mitgliedschaft und
dem aktiven Dienst in seit dem Vertrag über die Europäische Union von
Maastricht hinzugekommenen Gemeinschaftsorganen oder anderen
Gemeinschaftsinstitutionen (Gericht 1.Instanz, Europäische Zentralbank, Bürgerbeauftragter
der EG und Ausschuss der Regionen).
· Ein Mitgliedstaat darf das ihn betreffende Wahlergebnis erst dann
amtlich bekanntgeben, wenn die Wahl in allen anderen Mitgliedstaaten
abgeschlossen ist (neu, bisher war mit der „Ermittlung des Wahlergebnisses
zuzuwarten, bis die Wahl in allen anderen Mitgliedstaaten abgeschlossen war).
Vorbehaltlich der in den DWA aufgenommenen
Vorschriften bestimmt sich das Wahlverfahren weiterhin in jedem Mitgliedstaat
nach den innerstaatlichen Vorschriften, wobei jedoch das Verhältniswahlsystem
insgesamt nicht in Frage gestellt werden darf.
Vorerst nicht im DWA verankert wurde der
Vorschlag des Europäischen Parlaments, „dass mit Blick auf ein
europäisches politisches Bewusstsein und die Herausbildung europäischer politischer
Parteien ein bestimmter Prozentsatz der Sitze nach dem Verhältniswahlsystem im
Rahmen eines einzigen, aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten gebildeten
Wahlkreises verteilt werden könnte.“ Gemäß dem Anastassopoulos-Bericht sollten
10% der Gesamtzahl der Mandate ab den Wahlen zum Europäischen Parlament im
Jahr 2009 auf diese Weise vergeben werden.
Der Rat hat sich allerdings auf die
ins Ratsprotokoll aufgenommene Erklärung geeinigt, dass er eine
Überprüfung der Bestimmungen des geänderten DWA vor den zweiten Wahlen
zum Europäischen Parlament nach dem Inkrafttreten des Beschlusses (d.h.
voraussichtlich vor den im Jahr 2009 vorgesehenen Wahlen) für geboten hält.
Über eine Änderung der Referenzperiode
für den Wahltermin, der eine Vorverlegung der Wahltermine von Juni auf Mai
erlaubt hätte, konnte kein Konsens erzielt werden. Gemäß dem
Direktwahlakt von 1976 finden die EP-Wahlen alle fünf Jahre zu dem Zeitpunkt
statt, der sich aus der Referenzperiode der ersten EP-Direktwahl (7.-10. Juni
1979) ergibt. Da auch eine Änderung des Wahltermins für eine bestimmte EP-Wahl
– zwischen einem Monat vor und einem Monat nach der Referenzperiode – vom Rat
nur einstimmig nach Anhörung des EP beschlossen werden könnte, kam eine
Vorverlegung der EP-Wahlen im Jahr 2004 bislang ebenso wenig zustande. Sollten
sich diese Voraussetzungen nicht mehr ändern, finden die nächsten EP-Wahlen
entsprechend den Bestimmungen des Direktwahlaktes von 1976 vom 10.-13.Juni 2004
statt.
Zu der Bestimmung über die
Unvereinbarkeit des Mandats eines Mitglieds des EP mit der Mitgliedschaft
in einem nationalen Parlament – gemäß Art. 5 des Wahlaktes von 1976 ist ein
solches Doppelmandat noch ausdrücklich zulässig - wurden erst Ende 2001 alle
Vorbehalte zurückgezogen und für das Vereinigte Königreich und Irland
Übergangsregelungen festgelegt.
· Die Abgeordneten des nationalen irischen Parlaments, die in einer
folgenden Wahl in das Europäische Parlament gewählt werden, können noch bis
zur nächsten Wahl zum nationalen irischen Parlament ein Doppelmandat ausüben.
· Die Abgeordneten des nationalen Parlaments des Vereinigten
Königreichs, die während des Fünfjahreszeitraums vor der Wahl
zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 auch Abgeordnete
des Europäischen Parlaments sind, können noch bis zu den Wahlen zum Europäischen
Parlament im Jahr 2009 ein Doppelmandat ausüben.
Die Gibraltar-Frage blieb zuletzt
der einzige Punkt, der der Annahme des Beschlusses zur Änderung des DWA noch
entgegenstand. Gemäß Anhang II des DWA war die Bevölkerung Gibraltars
von der Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgeschlossen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 18. Februar 1999 in
der Rechtssache „Matthews gegen Vereinigtes Königreich“ (No. 24833/94) den
Ausschluss der Bevölkerung von Gibraltar von der Teilnahme an EP-Wahlen als mit
Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht vereinbar erkannt. Anfang
2002 konnten sich das Vereinigte Königreich und Spanien darauf einigen, dieses
Problem durch zwei Erklärungen für das Ratsprotokoll zu lösen.
· Erklärung des Vereinigten Königreichs
betreffend die Ermöglichung der Ausübung des Wahlrechts durch die
Wahlberechtigten in Gibraltar: Das Vereinigte Königreich erklärt, der
Bevölkerung Gibraltars die Ausübung des Wahlrechts als Teil von und unter den
gleichen Bedingungen wie eines bereits bestehenden Wahlkreises des Vereinigten
Königreichs zu ermöglichen, um damit der aus Art. 6 Abs. 2 EUV
erwachsenden Verpflichtung, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte umzusetzen, nachzukommen.
· Erklärung des Rates und der Kommission,
in der der Inhalt der Erklärung des Vereinigten Königreichs betreffend
Gibraltar zur Kenntnis genommen wird.
Die Änderungen
des Direktwahlakts (DWA) bedürfen gemäß Art. 190 Abs. 4 EGV,
Art. 108 Abs. 4 Euratom-Vertrag und Art. 3 Abs. 1 des
Beschlusses des Rates 2002/772/EG der Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß
ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Der gegenständliche Staatsvertrag
ist gesetzesergänzend. Darüber hinaus ändert Art. 1 Pkt. 7 lit. a)
des Ratsbeschlusses Art. 6 des DWA und beinhaltet
Unvereinbarkeitsregelungen, die nach der Systematik des B-VG auf Verfassungsebene
einzuordnen sind. Die gegenständliche Bestimmung hat daher
verfassungsergänzenden Inhalt. Der Beschluss hat keinen politischen Charakter.
Der Nationalrat hat anlässlich der
Genehmigung dieses Staatsvertrages beschlossen, dass gemäß § 49
Abs. 2 B-VG dessen Kundmachung in dänischer, englischer, finnischer,
französischer, griechischer, irischer, italienischer, niederländischer,
portugiesischer, schwedischer und spanischer Sprache durch Auflage im
Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten zu erfolgen hat.
Eine Zustimmung des Bundesrates gemäß
Artikel 50 Absatz 1 zweiter Satz B‑VG ist nicht erforderlich, da keine
Angelegenheiten, die den selbständigen Wirkungsbereich der Länder betreffen,
geregelt werden.
Dem Nationalrat erschien bei der
Genehmigung des Abschlusses des vorliegenden Staatsvertrages die Erlassung von
besonderen Bundesgesetzen im Sinne des Artikel 50 Absatz 2 B‑VG zur Überführung
des Vertragsinhaltes in die innerstaatliche Rechtsordnung nicht erforderlich.
Der Ausschuss für Verfassung und
Föderalismus stellt nach Beratung der Vorlage am 16. Dezember 2003 mit
Stimmeneinhelligkeit den Antrag, gegen den vorliegenden Beschluss des
Nationalrates keinen Einspruch zu erheben.
Wien, 2003 12 16
Johann
Höfinger Herwig
Hösele
Berichterstatter Vorsitzender