7932 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Bundesrates

 

Bericht

des Ausschusses für Verfassung und Föderalismus

über den Beschluss des Nationalrates vom 9. April 2008 betreffend einen Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft samt Protokollen, Anhang und Schlussakte der Regierungskonferenz einschließlich der dieser beigefügten Erklärungen („Reformvertrag“)

Gemäß der dem Vertrag von Nizza angeschlossenen Erklärung „zur Zukunft der Union“ sollten die Fragen einer genaueren, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten, der künftige Status der Charta der Grundrechte, die Vereinfachung der Verträge und die Rolle der nationalen Parlamente, Gegenstand einer Regierungskonferenz im Jahr 2004 werden. Ebenso forderte die Erklärung von Laeken von Dezember 2001 die Mitgliedstaaten auf, die zentralen institutionellen und materiellen Fragen im Zusammenhang mit der künftigen Entwicklung der Union zu prüfen und zufrieden stellende Lösungen für das effiziente und demokratische Funktionieren einer erweiterten Union zu finden. Aufbauend auf den Arbeiten des Europäischen Konvents wurde am 29. Oktober 2004 der Vertrag über eine Verfassung für Europa unterzeichnet, der diesen Anliegen Rechnung tragen sollte. Am 29. Mai 2005 und am 1. Juni 2005 lehnten die Bevölkerungen von Frankreich und den Niederlanden in Referenden den Vertrag über eine Verfassung für Europa ab. Nach einer im Rahmen des Europäischen Rates am 16./17. Juni 2005 ausgerufenen, zwei Jahre andauernden Reflexionsperiode einigten sich die Mitgliedstaaten unter deutscher Präsidentschaft beim Europäischen Rat am 21./22. Juni 2007 auf ein sehr detailliertes Mandat für eine Regierungskonferenz zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Die Regierungskonferenz wurde am 23. Juli 2007 einberufen und konnte ihre Arbeiten bereits im Rahmen des informellen Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs am 18./19. Oktober 2007 in Lissabon politisch abschließen. Der Vertrag zur Änderung der Verträge über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – der „Vertrag von Lissabon“ – wurde am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs sowie den Außenministern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Lissabon unterzeichnet. Er soll am 1. Jänner 2009 in Kraft treten.

Ziel des Vertrags ist es, die demokratische Legitimation der EU zu stärken und gleichzeitig sicherzustellen, dass auch die nunmehr erweiterte Union handlungsfähig bleibt und Entscheidungen effizient treffen kann.

Zu den wichtigsten Inhalten des Vertrags von Lissabon gehören eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, die Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente im EU-Gesetzgebungsverfahren, die Aufwertung des Europäischen Parlaments, die Vereinfachung der Verträge, die rechtsverbindliche Verankerung der Grundrechte-Charta und die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf EU-Ebene. Gleichzeitig wird die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Union beträchtlich erhöht und die soziale Dimension der EU stärker betont. Die Bürgerinnen und Bürger erhalten die Möglichkeit, durch eine europaweite Bürgerinitiative Rechtssetzungsaktivitäten der EU anzuregen.

Der Vertrag von Lissabon übernimmt damit große Teile jener Neuerungen, die bereits im EU-Verfassungsvertrag verankert waren. Allerdings unterscheiden sich die beiden Verträge in einigen Punkten doch wesentlich voneinander. So wird EU-Recht nicht mehr explizit Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht eingeräumt, zudem wird auf Begriffe wie "Europäischer Außenminister" und "Europäisches Gesetz" verzichtet. Auch die Symbole der EU – etwa die blaue Europaflagge mit den zwölf goldenen Sternen und die Europahymne – wurden aus dem Vertrag gestrichen. Anstelle einer einheitlichen Rechtsgrundlage, der EU-Verfassung, bleiben die Verträge der Europäischen Union bestehen: der EUV und der künftig in Vertrag über die Arbeitsweise der Union (AEUV) umbenannte EGV.

Die nationalen Parlamente werden mit dem Vertrag von Lissabon zu "Wächtern" des so genannten Subsidiaritätsprinzips. Dieses besagt, dass Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union so nahe am Bürger wie möglich getroffen werden sollen. Die EU darf demnach nur dann aktiv werden, wenn die angestrebten Ziele nicht von den Mitgliedstaaten selbst bzw. auf regionaler Ebene erreicht werden können. Zudem müssen die von der EU vorgeschlagenen Maßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen nicht über das Ziel hinausschießen.

Konkret sieht der Vertrag von Lissabon die Einrichtung einer Art "Frühwarnmechanismus" vor. Die nationalen Parlamente haben demnach acht Wochen Zeit, um Rechtssetzungsvorschläge der EU-Kommission und andere Legislativvorhaben auf EU-Ebene auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen. Dabei hat jedes Parlament zwei Stimmen, die sich in Zweikammersystemen wie Österreich auf die beiden Kammern (im Fall Österreichs Nationalrat und Bundesrat) aufteilen.

Bei einer ausreichenden Zahl von Einwänden seitens der Parlamente – grundsätzlich ein Drittel; im Bereich Justiz und Inneres ein Viertel der Gesamtstimmen – muss die EU-Kommission ihren Vorschlag überprüfen und, wenn sie dennoch dabei bleibt, umfassend begründen ("gelbe Karte"). Macht eine Mehrheit der Parlamente Subsidiaritätsbedenken geltend ("orange Karte"), kann das Legislativvorhaben in weiterer Folge durch eine einfache Mehrheit im Europäischen Parlament bzw. von 55 % der Mitglieder des Rates, dem Gremium der zuständigen Minister, gestoppt werden.

Um die nationalen Parlamente in die Lage zu versetzen, ihre Mitwirkungsrechte effektiv auszuüben, ist die EU-Kommission verpflichtet, die Parlamente über alle Vorhaben der Union zu informieren und ihnen unverzüglich alle Legislativvorschläge zu übermitteln. Außerdem muss die Kommission ihre Gesetzgebungsvorschläge im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit umfassend begründen, vor der Vorlage eines Gesetzgebungsakts umfangreiche Anhörungen durchführen sowie den finanziellen Auswirkungen eines Vorschlags und dem damit verursachten Verwaltungsaufwand ein besonderes Augenmerk widmen.

Der gegenständliche Staatsvertrag hat  gesetzändernden bzw. gesetzesergänzenden Charakter  und bedarf daher gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 2 B-VG der Genehmigung durch den Nationalrat. Gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 2 iVm Art. 50 Abs. 4 B-VG ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich.

Die Beschlüsse des Nationalrates sowie des Bundesrates bedürfen gemäß Art. 50 Abs. 4 B-VG jeweils der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.

Der Ausschuss für Verfassung und Föderalismus hat den gegenständlichen Beschluss des Nationalrates in seiner Sitzung am 23. April 2008 in Verhandlung genommen. Als Auskunftspersonen gemäß § 33 GO-BR sind der Präsident des Vorarlberger Landtages Gebhard Halder als Vorsitzender der Landtagspräsidentenkonferenz und Gesandter Dr. Klemens Fischer, nominiert von der Verbindungsstelle der Bundesländer, angehört worden.

Berichterstatter im Ausschuss war Bundesrat Edgar Mayer.

An der Debatte beteiligten sich die Bundesräte Albrecht Konecny, Stefan Schennach, Gottfried Kneifel, Edgar Mayer, Ing. Reinhold Einwallner, Dr. Franz Eduard Kühnel, Hans Ager, Mag. Gerald Klug, Erwin Preiner und Ana Blatnik sowie der Staatssekretär im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten Dr. Hans Winkler und die Staatssekretärin im Bundeskanzleramt Heidrun Silhavy.

Zum Berichterstatter für das Plenum wurde Bundesrat Edgar Mayer gewählt.


Der Ausschuss für Verfassung und Föderalismus stellt nach Beratung der Vorlage am 23. April 2008 mit Stimmeneinhelligkeit den Antrag, dem vorliegenden Beschluss des Nationalrates gemäß Artikel 50 Absatz 1 Z 2 iVm Artikel 50 Absatz 4 B-VG die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen.

Wien, 2008 04 23

                                    Edgar Mayer                                                                      Jürgen Weiss

                                   Berichterstatter                                                                       Vorsitzender