1356/J-BR BR
 
der Bundesräte Dr. Riess - Passer. Mühlwerth, Dr. Böhm
an den Bundesminister für Justiz
betreffend falsche Prioritäten in der Strafrechtspolitik
Im letzten Jahrzehnt war die Strafrechtspolitik durch stetige Erleichterungen für die Täter und
eine Tendenz zur Entkriminalisierung strafbarer Handlungen gekennzeichnet. Es wurden zwar
einige Gesetzesänderungen medienwirksam präsentiert, die eine Verbesserung der Straf -
verfolgung zum Ziel hatten (etwa im Bereich der Geldwäsche. der Verfolgung der organi -
sierten Kriminalität, der Gewalt in der Familie), es gab aber kaum eine Novellierung. die nicht
auch eine weitere Aufweichung des Strafrechtes beinhaltet hätte. Nur beispielsweise seien hier
folgende Punkte angeführt:
— bedingte Strafnachsicht auch bei mehr als zehnjähriger oder lebenslanger Strafdrohung
— kein zwingender Widerruf der bedingten Strafnachsicht oder Entlassung bei Nichtbe -
folgung einer gerichtlichen Weisung oder Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem
Bewährungshelfer
— Reduktion der Berichtspflicht der Bewährungshelfer an das Gericht
— Möglichkeit der Kaution bei allen Verbrechen, auch wenn sie mit mindestens zehn
Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind
— dramatische Erhöhung der Suchtgiftgrenzmenge bei Heroin im Gefolge des neuen
Suchtmittelgesetzes
— Therapie statt Strafe auch bei Beschaffungskriminalität
— keine wirksame Erfolgskontrolle von Entwöhnungsbehandlungen als Voraussetzung für
die vorläufige Zurücklegung einer Anzeige nach dem Suchtmittelgesetz
— allgemeine Einschränkung der Anzeigepflicht (auch im Suchtmittelgesetz)
— vorläufige Zurücklegung von Anzeigen gegen Süchtige auch bei Vorstrafen
— erweiterter Aufschub des Strafvollzuges im Suchtmittelgesetz
— umfangreiche Erleichterungen im Strafvollzug (mehr Kontakt mit der Außenwelt.
erhöhte Arbeitsvergütung. Abschaffung des Stufenvollzugs etc.)
— Recht des Untersuchungshäftlings Telefongespräche zu führen
Nur breitem öffentlichem Widerstand war es zu verdanken, daß die intensiven Bemühungen
des Justizressorts im Jahr 1992. Ladendiebstähle und Verkehrsunfälle umfangreich zu ent -
kriminalisieren, trotz Erstellung einer Regierungsvorlage im Sande verliefen. Der Bundes -
minister für Justiz strebt allerdings jetzt verpackt in einen Entwurf zur gesetzlichen Rege -
lung des außergerichtlichen Tatausgleichs im Erwachsenenstrafrecht - unter dem Schlagwort
,.Diversion" eine umfassende Entkriminalisierung an, die - wie die Medien richtig feststellen
durch eine Anwendung dieser Maßnahmen ohne irgendeine Obergrenze der Strafdrohung
einer Abschaffung des Strafrechtes gleichkommt. Der Umfang dieses Vorhabens. das sowohl
den außergerichtlichen Tatausgleich als auch einen vorläufigen Verfolgungsverzicht bzw. eine
vorläufige Einstellung des Strafverfahrens auf Probe oder gegen Auflage vorsieht, sei mit
folgenden Funkten skizziert:
— Absehen von der Verfolgung einer strafbaren Handlung durch den weisungsgebundenen
Staatsanwalt bis zu einer Strafdrohung: von fünf Jahren und ohne jeglichen Ausschluß
bestimmter Deliktsgruppen: in den Anwendungsbereich fallen daher z.B. Körperver -
letzung mit schweren Dauerfolgen: absichtliche schwere Körperverletzung: Entführung
einer willenlosen oder wehrlosen Frau oder einer unmündigen Person, um sie zur
 
Unzucht zu mißbrauchen: geschlechtliche Nötigung, bei der das Opfer längere Zeit
hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt wird; Unzucht mit Unmündigen: staats -
feindliche Verbindungen: Bandenbildung; kriminelle Organisation: Ansammeln von
Kampfmitteln: Mißbrauch der Amtsgewalt etc.)
— Diversion durch die Gerichte ohne jegliche Obergrenze der Strafdrohung (also auch bei
der Strafdrohung lebenslang)
— der Täter gilt weiter als nicht vorbestraft und unschuldig, womit auch die Durchsetzung
zivilrechtlicher Ansprüche des Opfers erschwert wird
— die Maßnahmen werden nur in einem gesonderten Register vermerkt, für das aber kein
öffentliches Informationsrecht bestehen soll
— mehrfache Anwendung der Diversion bei einem Täter ist nicht ausgeschlossen
— die Diversion ist nicht von einer Zustimmung des Opfers abhängig, sehr wohl aber von
der Zustimmung des Täters
— der Tatausgleich kann auch ohne Wiedergutmachung des Opfers erfolgen (..nach
Kräften gutmachen" reicht aus)
— die Diversion hat nicht generell zu unterbleiben, wenn generalpräventive Gründe
dagegensprechen (nur wenn dies aus besonderen Gründen notwendig wäre")
— keine Privatanklagemöglichkeit des Opfers, wenn das Strafverfahren gegen seinen
Willen von der Staatsanwaltschaft beendet wird
Demgegenüber sind Versäumnisse des Justizressorts bei notwendigen Maßnahmen z.B. in
folgenden wesentlichen Bereichen festzustellen:
Die seit 1994 und in der Folge immer wieder angekündigte Verbesserung der Rechtsstellung
der Opfer ist bisher noch nicht einmal bis zur Präsentation eines Ministerialentwurfs ge -
diehen: die Ankündigungen des Bundesministers für Justiz wurden mittlerweile auf eine Ver -
besserung der Information des Opfers über seine (kaum vorhandenen) Rechte reduziert. das
Vorhaben auf die seit Jahrzehnten überfällige und zeitlich noch immer unabsehbare Reform
des strafprozessualen Vorverfahrens verschoben.
Die zunehmende Zahl von Sexual - und Gewaltverbrechen gegen Kinder hat zwar - durch
Anträge im Nationalrat - zu einer Strafbestimmung für Kinderpornographie geführt. weitere
dringend notwendige Maßnahmen in diesem Bereich wurden aber trotz explodierender
Anzeigenzahlen und einer hohen Rückfallsquote bisher nicht gesetzt.
Die Prioritäten, die der Justizminister beim Einsatz der zweifellos beschränkten Kapazitäten
des Bundesministeriums für Justiz für neue Gesetzesvorhaben erkennen läßt, müssen ange -
sichts einer hohen und zunehmend organisierten Kriminalität und der bedrohlichen Rückfalls -
zahlen bedenklich stimmen. Es kommt der Verdacht auf, daß Straftaten weniger wirksam
bekämpft als vielmehr aus der Statistik gedrängt und an den Gerichten vorbei "erledigt"
werden sollen.
In diesem Zusammenhang richten die unterfertigten Abgeordneten an den Herrn Bundes -
minister für Justiz nachstehende
 
DRINGLICHE ANFRAGE:
1. Welche Auswirkungen der in den letzten Jahren beschlossenen Erleichterungen für
Straftäter sind bisher im einzelnen erkennbar (insbesondere in Hinblick auf die General -
prävention und die Vermeidung von Rückfällen)?
2. Welche Folgen hatte die deutliche Einschränkung der Anzeigepflicht bisher bei der
Verfolgung von Straftaten insbesondere im Bereich der Delikte an Kindern und Jugend -
lichen?
3. Werden Sie angesichts der vielfach von Ärzten vertretenen Meinung, man müsse ja
nicht gleich anzeigen, eine Strafbestimmung für das Unterlassen einer Anzeige bei
Straftaten gegen Unmündige vorschlagen‘? Wenn nein, warum lehnen Sie dies ange -
sichts der konkreten Fälle der letzten Jahre (z.B. Kevin) ab?
4. Halten Sie es für zumutbar, die unter dem Begriff "Diversion" zusammengefaßten
Maßnahmen grundsätzlich auch im Bereich des Sexualstrafrechtes und von Straftaten
mit Todesfolge zuzulassen?
5. Welcher Prozentsatz an Strafverfahren würde - die Verwirklichung Ihrer Vorschläge
vorausgesetzt - überhaupt noch vor Gericht in einer Hauptverhandlung abgehandelt und
mit Freiheits - oder Geldstrafen belegt werden?
6. Liegen Ihrem Ressort Studien darüber vor, welche Auswirkungen der außergerichtliche
Tatausgleich bisher im Jugendlichen - und - soweit schon erkennbar - Erwachsenenstraf -
recht auf die Rückfallshäufigkeit hatte?
7. Halten Sie es für zumutbar, Opfer von strafbaren Handlungen auf eine Unterstützung
ohne jeglichen Rechtsanspruch zu verweisen, die von der Dotierung im Bundesfinanz -
gesetz abhängt. während der Bund künftig die im Rahmen der Diversion auferlegten
Geldbußen der Täter einnimmt‘?
8. Warum vertreten Sie die Ansicht, daß ein außergerichtlicher Tatausgleich ohne Zu -
stimmung des Opfers möglich sein soll, obwohl der Täter damit weiterhin als un -
schuldig zu gelten hat, was die zivilgerichtliche Verfolgung der Ansprüche des Opfers
erheblich erschwert‘?
9. Halten Sie es für eine Verbesserung der Rechte der Opfer. wenn ein außergerichtlicher
Tatausgleich Ihrem Vorschlag nach auch durchgeführt werden kann, ohne daß auch nur
eine materielle Wiedergutmachung effektiv erfolgt ist?
10. Wann werden Sie dem Nationalrat einen Gesetzesentwurf zuleiten, der eine wirksame
Kontrolle der wegen Delikten an Unmündigen verurteilten Sittlichkeitstäter auch nach
der Haftentlassung ermöglicht. zumal die Heilungschancen bei diesen Menschen niedrig
und die Rückfallsquoten entsprechend hoch sind‘?
 
11. Wann wird es endlich eine laufende Evaluierung strafgesetzlicher Maßnahmen durch
eine aussagekräftige Rückfallstatistik geben. die auch eine brauchbare Grundlage für
gesetzliche Neuregelungen bilden könnte?
12. Wann werden Sie den seit Jahren angekündigten Entwurf eines Bundesgesetzes zur
Verbesserung der Rechtsstellung der Opfer tatsächlich vorlegen?
13. Aus welchen Überlegungen heraus wollen Sie sich in diesem Bereich entgegen früherer
Ankündigungen nun mit einer verbesserten Information der Opfer über ihre (kaum
vorhandenen) Rechte begnügen?
14. Warum wollen Sie die Verbesserung der Opferrechte im Strafprozeß auf die schon seit
Jahrzehnten überfällige, aber noch immer nicht bis zu einem Ministerialentwurf
gediehene Neuregelung des strafprozessualen Vorverfahrens verschieben‘?
15. Werden Sie sich dafür einsetzen. daß unmündigen Opfern von Sexualdelikten und
Gewalttaten sofort nach der Anzeige eine Therapiemöglichkeit zur Verfügung gestellt
wird, die - unter staatlicher Vorfinanzierung - letztlich vom Täter zu bezahlen ist‘?
16. Welche Maßnahmen wollen Sie vorschlagen, um dem florierenden Wirtschaftszweig
der Kinderpornographie samt den katastrophalen Auswirkungen auf die betroffenen
Opfer wirksamer entgegenzutreten und die Aufklärungsquote in diesem Bereich zu
erhöhen‘?
17. Wann werden Sie einen neuen Entwurf zur Novellierung des Pornographiegesetzes
vorlegen, der einer öffentlichen Darstellung pornographischer Inhalte nicht weiter Vor -
schub leistet sondern dazu beiträgt, die Überflutung der Medien und der Öffentlichkeit
mit Pornographie - mit allen negativen Beispielswirkungen - einzubremsen?
18. Welcher Prozentsatz an Unmündigen. die Opfer von Sexualdelikten oder Mißhand -
lungen werden, muß nach wie vor im gesamten Strafverfahren mehrfach, welcher direkt
in der Hauptverhandlung aussagen?
19. Welche Maßnahmen werden Sie setzen. um der schonenden Vernehmung von Kindern
und Jugendlichen, die Opfer von Sexual - oder Gewalttaten werden, in der Praxis
vermehrt zum Durchbruch zu verhelfen‘?
20. Welche Änderungen im Mediengesetz bzw. im Bereich des Urheberrechts halten Sie für
erforderlich, um einerseits die Erkennbarkeit des Opfers einer Straftat für die mit seinen
Lebensumständen vertraute Umwelt zu verringern und andererseits eine finanzielle
Bereicherung der Täter künftig zu unterbinden‘?
21. Werden Sie sich dafür einsetzen. daß der Bund als der für die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit Verantwortliche im Gegenzug zum staatlichen Gewaltmonopol
auch seine Pflichten gegenüber den Verbrechensopfern besser als bisher wahrnimmt und
für eine ausreichende Entschädigung sorgt‘?
22. Welche Änderungen des Strafgesetzbuches werden Sie vorschlagen. um eine wirk -
samere Bekämpfung der Sexual - und Gewaltdelikte an Unmündigen sicherzustellen und
zu bewirken. daß das besondere Unrecht der Begehung von Straftaten an Kindern bei
der Strafbemessung stärker berücksichtigt wird?
 
23. Welche Reformüberlegungen gibt es im Justizressort zur Bekämpfung des vermehrten
Mißbrauchs des Internets zum Verbreiten von Kinderpornographie?
24. Welche Änderungen werden Sie vorschlagen. die dem besonderen Rückfallspotential
von Sexualstraftätern an Kindern besser gerecht werden?
In formeller Hinsicht wird verlangt. diese Anfrage im Sinne der Bestimmungen des § 61 der
GO - BR vor Eingang in die Tagesordnung dringlich zu behandeln und der Erstunterzeichnerin
Gelegenheit zur Begründung zu geben.