3239/J-BR/2017

Eingelangt am 11.05.2017
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

DRINGLICHE Anfrage

 

der Bundesräte Mühlwerth, Ecker

und weiterer Bundesräte

an den Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

betreffend Pflegeheimmisere in Österreich

Der aktuelle Volksanwaltschaftsbericht 2016 betreffend Präventiver Maßnahmen hat unter dem Titel Feststellungen und Empfehlungen bei Alten- und Pflegeheimen zum Teil erschreckende Defizite an die Öffentlichkeit gebracht. Gerade jetzt, wo man jahrzehntelanges Leid an ehemaligen Bewohnern von Kinder- und Jugendheimen versucht aufzuarbeiten und zumindest finanziell zu einem Teil auszugleichen, sollte gerade im Pflegebereich eine zeitnahe Sanierung von Mängeln, die durch die Volksanwaltschaft festgestellt worden sind, erfolgen.

Im Berichtsjahr 2016 wurden insgesamt 125 Einrichtungen, die sich der Pflege älterer Menschen widmen, besucht. In den Besuchsplanungen der Kommissionen wurde darauf Bedacht genommen, Institutionen unterschiedlichster Größe und Trägerschaft zu berücksichtigen. 37-mal erfolgten sogenannte Follow-up Besuche, um zu erheben, ob bereits festgestellter Veränderungsbedarf anerkannt und Empfehlungen des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) umgesetzt wurden. Das ist in hohem Maße der Fall gewesen. Allerdings zeigt sich, dass überall dort, wo strukturelle Defizite primär auch auf defizitär erachtete Personalressourcen zurückzuführen sind, vom NPM zwar teilweise Veränderungen der Dienstpläne, aber kaum zusätzliche Personalaufstockungen erwirkt werden konnten.

Die Einwohnerzahl Österreichs wächst, gleichzeitig altert die Bevölkerung. (…)In Pflegeinstitutionen kommt es dementsprechend vermehrt zur Aufnahme von multimorbiden Personen, Menschen mit Demenz oder anderen psychischen Erkrankungen und Behinderungen. Dies stellt hohe Anforderungen sowohl an die Präsenz als auch fachliche und soziale Kompetenzen von Pflege- und Betreuungspersonal. Die von der Politik gestalteten Rahmenbedingungen tragen dem nicht Rechnung; das Missverhältnis zwischen steigenden Herausforderungen und den tatsächlichen personellen Ressourcen in Einrichtungen wird von allen Kommissionen wahrgenommen.(…)

Die Regelung der Errichtung, der Erhaltung und des Betriebes von Heimen für Personen, die wohl ständiger Pflege, aber bloß fallweiser ärztlicher Betreuung bedürfen, fällt in die Zuständigkeit der Länder. 1993 wurde eine Vereinbarung nach Art. 15a B-VG zwischen Bund und Ländern mit der Zielsetzung verabschiedet, „die Vorsorge für pflegebedürftige Personen bundesweit nach gleichen Zielsetzungen und Grundsätzen zu regeln“. Auch das Pflegefondsgesetz 2011 verfolgt mit der finanziellen Beteiligung des Bundes das definierte Ziel einer Vereinheitlichung von pflegerischen Leistungsangeboten. Von einem bundesweiten Mindeststandard kann keine Rede sein.

Die OÖ Pflegeheimverordnung stellt dafür auf die Zahl der Pflegebedürftigen und ihre Zuordnung zu Pflegegeldeinstufungen ab, ohne soziale Komponenten zu berücksichtigen. Der mit Verordnung festgesetzte Mindestpersonalschlüssel in der Stmk verwendet dafür andere Parameter und ist nach Darstellung der AK Stmk trotz einer 2016 erfolgten Erhöhung im Vergleich niedriger. Die Verordnung zum Wiener Wohn- und Pflegeheimgesetz sieht einen wiederum anders berechneten Mindestpersonalschlüssel vor, der „bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit besonderem Pflegebedarf“ zu erhöhen ist. Das Tiroler Heimgesetz beschränkt sich auf die Anordnung, dass „jederzeit genügend geeignetes Personal“ zur Verfügung stehen muss, wobei der von der LReg vorgegebene, vielfach kritisierte, Minutenschlüssel die Zeit für einzelne Pflegehandlungen limitiert. Im Bgld wird das Verhältnis zwischen Pflegebedürftigen und -personal per Verordnung mit einer mathematischen Formel samt darin inkludierter – grob und äußerst knapp kalkulierter – Mindestpflegeminuten festgelegt. In Vbg wird die „Gewährleistung angemessener Pflege“ durch einen Erlass konkretisiert. Dieser regelt, wie viele Personen in welchen Pflegestufen von einer Pflegekraft maximal betreut werden dürfen. In Ktn stellt die Heimverordnung auf die Zahl Pflegebedürftiger und davon abhängig die Qualifikation des benötigten Personals ab; Pflegegeldeinstufungen spielen hier keine Rolle. Das Sbg Pflegegesetz verpflichtet „eine ausreichende Zahl an angestelltem, fachlich qualifizierten Pflegepersonal und nicht pflegendem Hilfspersonal entsprechend der Anzahl der Bewohner sowie der Art und dem Ausmaß der diesen zu erbringenden Leistungen“ zur Verfügung zu stellen; konkretisierte Vorgaben dazu gibt es nicht. In NÖ hat die LReg ein Handbuch mit Berechnungsrichtlinien erstellt und für eigene Einrichtungen als verbindlich erklärt; für private Träger gilt die gesetzliche Anordnung, dass „jederzeit ausreichendes und qualifiziertes Personal für die Pflege und den sonstigen Heimbetrieb“ vorhanden sein muss. Heimgrößenbezogene Vergleiche der Personalausstattungsvorgaben der Bundesländer sind dementsprechend schwierig;

Es besteht aus Sicht des NPM dringender Handlungsbedarf. Die Pflege und Betreuung von Menschen mit neurodegenerativen kognitiven Beeinträchtigungen, Demenz oder Behinderung erfordert Präsenz und hohes geriatrisches Know-how durch einen Qualifikationsmix. Dieser zusätzliche Aufwand ist in den Personalschlüsselberechnungen nicht ausreichend abgebildet. Der NPM fordert Bund und Länder auf, den geänderten Gegebenheiten Rechnung zu tragen.


Folgende Schlussfolgerungen werden aus Sicht des Nationalen Präventionsmechanismus im Rahmen der Prüfungstätigkeit der Volksanwaltschaft in Sachen Pflege und Pflegeheime gezogen, wo dringender Handlungsbedarf herrscht:

 

Im Zusammenhang mit dieser Mängelliste formuliert die Volksanwaltschaft folgende dringende Maßnahmen:

·        Um eine gute Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner sicher zu gewährleisten, müssen gute Arbeitsbedingungen des Personals und die erforderliche Personalführungskompetenz der Leitung sichergestellt werden.

·        Eine hohe Personalfluktuation sollte für Heimträger und Aufsichtsbehörden als alarmierender Hinweis auf Pflegemängel verstanden werden.

·        Die Handlungssicherheit der Pflegekräfte ist durch regelmäßige Pflegevisiten und Kontrollen der Pflegedokumentation sowie gezielte Schulungen zu Pflegeprozessen zu gewährleisten.

·        Eine wichtige Aufgabe der Leitung ist es, das Personal zur Supervision zu ermutigen und die Reflexion der Arbeit in der Einrichtung zu unterstützen.

·        Die fachärztliche und pflegerische Versorgung von gerontopsychiatrisch Erkrankten und meist hochbetagten Bewohnerinnen und Bewohnern ist zu gewährleisten. Fachärztliche und pflegerische Fallbesprechungen sind zu etablieren.

·        In allen Einrichtungen müssen Konzepte zur Gewaltprävention ausgearbeitet werden. Das Bekenntnis zu gewaltfreier Pflege muss in Leitlinien verankert sein.

·        Schmerzen im Alter müssen behandelt werden. Schmerz darf nicht als altersbedingt hingenommen werden. Um das zu gewährleisten, muss ein Schmerz-Assessment durchgeführt werden.

·        Das Schmerz-Assessment muss Teil eines jeden Pflegemanagements sein.

·        Aufsichtsbehörden müssen in Beachtung ihrer menschenrechtlichen Schutzpflichten gegenüber Menschen mit schweren Beeinträchtigungen jedem Hinweis nachgehen und deren Betreuung in nicht behördlich genehmigten Einrichtungen unterbinden.

·        Die Heimleitung hat das Personal für einen angemessenen Umgang mit mechanischen, elektronischen und medikamentösen Freiheitsbeschränkungen zu sensibilisieren. Dazu bedarf es entsprechender Schulungen und einer Zusammenarbeit mit der Bewohnervertretung.

·        Ziel einer medikamentösen Behandlung muss immer die Erhaltung oder Steigerung des Wohlbefindens sein. Die Behandlung mit Psychopharmaka darf erst einsetzen, wenn somatische, psychosoziale und umweltbezogene Ursachen eines „problematischen“ Verhaltens ausgeschlossen werden können und nicht medikamentöse pflegerische Maßnahmen erfolglos waren. Regelmäßige fachärztliche Visiten sind anzustreben.

·        Zur Beurteilung von potenziell freiheitsbeschränkenden Wirkungen von Psychopharmaka muss neben der exakten medizinischen Indikation auch das Therapieziel bzw. das behandelte Zielsymptom explizit dokumentiert werden.

·        Regelmäßige Ausschleich- bzw. Absetzversuche müssen vorgenommen werden. Die Wirkung sedierender Medikamente muss im Hinblick auf das Zielsymptom regelmäßig evaluiert werden.

 

Aus diesem Grund stellen die unterfertigten Abgeordneten an den Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz nachstehende

 

Dringliche Anfrage

 

1.    Welche Maßnahmen werden sie als Sozialminister unmittelbar setzen, um die durch die Volksanwaltschaft aufgezeigten Missstände im Pflegeheimbereich zu beheben?

 

2.    Welche gesetzlichen Maßnahmen werden Sie als Sozialminister hier vorschlagen bzw. einleiten, um Missstände die durch die Volksanwaltschaft aufgezeigten Missstände im Pflegeheimbereich abzustellen?

 

3.    Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die Personalausstattung in der Pflege und Betreuung für Personen mit neurodegenerativen kognitiven Beeinträchtigungen, Demenz oder Behinderung ausreichend sicher zu stellen?

 

4.    Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um das Wohlbefinden und die Lebensbedingungen im Behandlungs- und Betreuungsfokus bei Demenzkranken sicher zu stellen?

 

5.    Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die Defizite in der gerontopsychiatrische Betreuung zu beheben?

 

6.    Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die fachärztliche und pflegerische Versorgung von gerontopsychiatrisch Erkrankten und meist hochbetagten Bewohnerinnen und Bewohnern zu gewährleisten und standardisiert entsprechende fachärztliche und pflegerische Fallbesprechungen zu etablieren?

 

  1. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um bei stationären Pflegeeinrichtungen für Demenzkranke demenzgerechte bauliche Strukturen sicherzustellen bzw. zu schaffen?
  2. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um ausreichende Mobilitätsförderung und entsprechende Aufenthaltsmöglichkeiten für Pflegeheimbewohner im Freien sicherzustellen?
  3. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um eine arbeits- und pflegewissenschaftliche Bewertung aktueller qualitativer und quantitativer Anforderungen in der stationären Langzeitpflege sicher zu stellen?
  4. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die Attraktivität der Pflegeberufe entsprechend zu heben?
  5. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die derzeitige hohe Personalfluktuation beim Pflegepersonal, die für Heimträger und Aufsichtsbehörden als alarmierender Hinweis auf Pflegemängel verstanden werden sollten, zu senken?
  6. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um das Personal zur Supervision zu ermutigen und die Reflexion der Arbeit in den jeweiligen Pflegeheimeinrichtungen zu unterstützen?
  7.  Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit ausreichend Personal im Nachtdienst bei Pflegeheimen eingesetzt wird?
  8. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit gute Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal und eine entsprechende Achtsamkeit und Führungskompetenz gegenüber dem Pflegepersonal durch Vorgesetzte und die Heimträger gewährleistet werden?
  9.  Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um Defizite in der Pflegedokumentation abzustellen und zu beheben?
  10. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die Handlungssicherheit der Pflegekräfte durch regelmäßige Pflegevisiten und Kontrollen der Pflegedokumentation sowie gezielte Schulungen zu den spezifischen Pflegeprozessen zu gewährleisten?
  11. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um ungelöste Teamkonflikte beim Pflegepersonal, die die Pflegeheimbewohner gefährden könnten, abzustellen?
  12. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um ungelöste Konflikte zwischen den Pflegeheimbewohnern, die diese selbst gefährden könnten, abzustellen?
  13. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die vielfältigen Formen der Gewalt im Pflegealltag, auch gegenüber dem Pflegepersonal, abzustellen?
  14. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit in allen Pflegeeinrichtungen Konzepte zur Gewaltprävention ausgearbeitet werden und das Bekenntnis zu gewaltfreier Pflege in den jeweiligen Leitlinien verankert wird?
  15.  Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um die unzureichende Schmerzbehandlung bei Pflegeheimbewohnern zu beheben?
  16. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit Schmerz nicht als altersbedingt hingenommen wird, sondern im Gegenteil gewährleistet wird, dass ein Schmerz-Assessment Teil eines jeden Pflegemanagements sein muss?
  17. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, um fehlerhafte Meldungen im Bezug auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Pflegeheimen zu beheben und diese Maßnahmen und ihren tatsächlichen Einsatz besser zu kontrollieren?
  18. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit Aufsichtsbehörden in Beachtung ihrer menschenrechtlichen Schutzpflichten gegenüber Menschen mit schweren Beeinträchtigungen jedem Hinweis nachgehen und deren Betreuung in nicht behördlich genehmigten Einrichtungen unterbinden?
  19. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit die jeweiligen Pflegeheimträger das Personal für einen angemessenen Umgang mit mechanischen, elektronischen und medikamentösen Freiheitsbeschränkungen sensibilisieren, entsprechende Schulungen absolvieren und einer Zusammenarbeit mit der Bewohnervertretung in diesen Fragen gewährleistet wird?
  20. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit die Behandlung mit Psychopharmaka bei Bewohnern von Pflegeheimen erst dann einsetzt, wenn somatische, psychosoziale und umweltbezogene Ursachen eines diagnostizierten Verhaltens ausgeschlossen werden können und nicht medikamentöse pflegerische Maßnahmen erfolglos waren?
  21. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit im Zusammenhang mit der Behandlung mit Psychopharmaka bei Bewohnern von Pflegeheimen eine regelmäßige fachärztliche Visite gewährleistet wird?
  22. Welche Maßnahmen werden Sie als Sozialminister setzen, damit zur Beurteilung von potenziell freiheitsbeschränkenden Wirkungen von Psychopharmaka neben der exakten medizinischen Indikation auch das Therapieziel bzw. das behandelte Zielsymptom explizit dokumentiert wird?