Schriftliche Information der Bundesministerin für Justiz
gem. § 6 Abs 3 EU-Informationsgesetz
Bezeichnung des Rechtsaktes
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
Dok. Nr. COM (2013) 821 final
1. Inhalt des Vorhabens
· Geltende Rechtslage
In Österreich ist die Unschuldsvermutung durch Art 6 Abs. 2 EMRK verfassungsrechtlich gewährleistet und in § 8 StPO als Grundsatz des Strafverfahrens verankert („Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig“), woraus sich auch Bestimmungen in anderen Gesetzen ableiten (z.B. § 7b Abs. 1 und 23 des Mediengesetzes).
Hinzuweisen ist auch darauf, dass in Ö die Reform des Strafrechtlichen Entschädigungsgesetzes auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 2 EMRK zurückzuführen ist, wonach es ausgeschlossen ist, einem Freigesprochenen in einem Verfahren über die Haftentschädigung neuerlich, wenn auch nur in der Begründung, einen Schuldvorwurf zu machen.
· Vorschlag der EK – allgemein
Am 27. November 2013 präsentierte die Europäische Kommission im Zuge des Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren (Entschließung des Rates vom 30. November 2009 – Roadmap) drei weitere Richtlinien-Vorschläge. Es handelt sich dabei um folgende Richtlinienvorschläge:
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
1. über vorläufige Prozesskostenhilfe für Verdächtige oder Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen ist, sowie über Prozesskostenhilfe in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (idF kurz: RL Verfahrenshilfe), Zuständigkeit BMJ Abteilung IV 3.
2. zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (idF kurz RL Unschuldsvermutung) Zuständigkeit BMJ Abteilung IV 3.
3. über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder; Zuständigkeit BMJ Abteilung IV 2.
Die Richtlinie zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sieht die Stärkung von Verfahrensrechten unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung in folgenden vier Bereichen vor:
Die Richtlinie ist auf „natürliche Personen, die einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens“ anzuwenden.
· Vorschlag der EK im Detail
Im Begleitschreiben der EK zu den genannten RL-Vorschlägen („Communication from the Commission“) werden zur RL Unschuldsvermutung die oben angeführten vier Punkte nochmals im Detail unter der Überschrift „Stärkung bestimmter Rechte, um auf EU-Level als unschuldig behandelt zu werden“ dargelegt.
Die RL enthält (überblickartig zusammengefasst) folgende Regelungen:
Artikel 1 (Gegenstand)
Regelung von Mindestvorschriften für
a. bestimmte Aspekte des Rechts auf die Unschuldsvermutung in Strafverfahren und
b. das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
Artikel 2 (Anwendungsbereich)
Nach der DE Fassung des Textes gilt diese RL für „natürliche Personen, die einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens“. Nach der EN Fassung bezieht sich diese RL auch explizit auf die Zeit, bevor diese Personen überhaupt davon Kenntnis erlangen (even before the time when the suspects are made aware by the competent authorities of the fact that they are suspected or accused of having committed a criminal offence).
Artikel 3 (Unschuldsvermutung)
Diese Bestimmung legt die Reichweite der Unschuldsvermutung fest. Wortlaut: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder Beschuldigte bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig gelten“.
Artikel 4 (Nachweis der Schuld)
Der Rechtsprechung des EGMR folgend, in der das Prinzip der Unschuldsvermutung weiter entwickelt wurde, sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass vor einer rechtskräftigen Verurteilung in öffentlichen Erklärungen und amtlichen Beschlüssen von Behörden auf niemanden so Bezug genommen werden darf, als ob dieser verurteilt wäre.
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei einem Verstoß gegen diese Bestimmung geeignete Maßnahmen getroffen werden.
Artikel 5 (Beweislast und Standards zum Beweisanbot)
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für den Nachweis der Schuld bei der Staatsanwaltschaft liegt und jeder Zweifel der Schuld zu Gunsten der verdächtigen oder beschuldigten Person ausgelegt wird (Abs. 4). Das bedingt auch, dass Urteile auf der Basis von Beweisen ergehen müssen, die dem Gericht vorgeführt wurden und nicht auf Vermutungen oder Mutmaßungen.
Abs. 2 regelt die Grenzen der Beweislastumkehr, wobei hier ausreichend gewichtige Argumente angeführt werden müssen. Für die Widerlegung einer solchen Vermutung solle es ausreichen, dass die Verteidigung genügend Beweise beibringt, um begründete Zweifel an der Schuld des Beschuldigten aufkommen zu lassen. Das österreichische Strafprozessrecht ist – was die Zulässigkeit der Beweislastumkehr anbelangt - viel strenger; grundsätzlich darf mit Schuldvermutungen nicht operiert werden. Hier wird etwas zum Grundsatz erhoben, was der EGMR nur in Bezug auf weniger gewichtigere Verwaltungsstrafverfahren zugelassen hat (siehe insoweit die Schuldvermutung bei sogenannten Ungehorsamsdelikten nach § 5 Abs. 1 VStG).
Abs. 3 enthält den Grundsatz „in dubio pro reo“.
Aus der Sicht Österreichs ist aber stets auf das Prinzip der freien Beweiswürdigung zu verweisen: Über die Frage, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen sei, entscheiden die Richter nicht nach gesetzlichen Beweisregeln, sondern nur nach ihrer freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Überzeugung (§ 258 Abs 2 zweiter Satz). Dieser Grundsatz gilt für Berufs- wie Laienrichter gleichermaßen (§ 32 Abs 4; zum geschworenengerichtlichen Verfahren: 13 Os 1/95). Die StPO enthält keine taxative Aufzählung möglicher Beweismittel, sie beschränkt diese aber auch nicht. Daher kann grundsätzlich jede Erkenntnisquelle, durch die sich das Gericht von der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsache oder Behauptung überzeugen kann, als Beweismittel dienen. Die StPO nennt als „traditionelle“ Beweismittel die Aussagen von Angeklagtem, Zeugen und Sachverständigen (Personalbeweis), den Augenschein und die Urkunde. Nach der Rsp können auch eine telefonisch eingeholte Auskunft durch den Vorsitzenden (SSt 30/92), eine (heimliche) Tonbandaufnahme (15 Os 143/05a, EvBl 2006/78, 420), ein „Gedächtnisprotokoll“ (10 Os 173/80), Depositionen zurechnungsunfähiger Zeugen (EvBl 1984/154) und Vorstrafakten, die zu keiner Verurteilung führten (EvBl 1955/164; vgl aber Art 6 Abs 2 EMRK) als Beweismittel dienen.
Indizien: Mittelbare oder Hilfsbeweise, die nicht über die Tat selbst, sondern über Verdacht erregende Umstände erhoben werden, und die jeweils für sich allein nicht geeignet sind, die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu begründen. Das Wesen des Indizienbeweises bestehe darin, dass aus einer geschlossenen Kette von mehreren Indizien ein logischer Schluss auf die Täterschaft gezogen wird. Entscheidungswesentliche Tatsachen werden aus anderen Tatsachen erschlossen. In Wirklichkeit handelt es sich um keine andere Beweisart als beim direkten oder unmittelbaren Beweis. Die Unterscheidung ist auch von keiner praktischen Bedeutung, denn der Indizienbeweis ist jedenfalls zulässig (RIS-Justiz RS0098249; Pilnacek/Pleischl Rz 58; beim Schluss von äußeren Umständen auf die innere Einstellung des Angeklagten in vielen Fällen sogar unumgehbar). Dessen Begründetheit allerdings kann aus § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall bekämpft werden.
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ sagt weder, wie sich das Gericht seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu verschaffen hat, noch unter welchen Voraussetzungen ein für die Schuldfrage entscheidender Umstand als erwiesen anzunehmen ist. Er stellt daher auch keine Einschränkung oder Abänderung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung dar (RZ 1965, 142). Es wird dadurch auch keine negative Beweisregel geschaffen, die das erkennende Gericht dazu verpflichtete, sich bei mehreren denkbaren Schlussfolgerungen durchwegs für die dem Angeklagten günstigste Variante zu entscheiden (RIS-Justiz RS0098336; Auch eine Beweisregel idS, dass zur Frage des Bedeutungsgehalts jedenfalls von der für den Angeklagten (Antragsgegner) günstigsten denkmöglichen Variante auszugehen sei, ist dem Gesetz fremd, RIS-Justiz RS0123503). Indizienbeweise und Wahrscheinlichkeitsschlüsse sind zulässig (Rz 24), allein bloße Vermutungen zu Lasten des Angeklagten sind im Strafverfahren unstatthaft (EvBl 1975/180). Demgemäß wird durch die bloße Berufung auf den Zweifelsgrundsatz kein Begründungsmangel iSd Z 5 des § 281 Abs 1 aufgezeigt (RIS-Justiz RS0102162).
Der Zweifelsgrundsatz betrifft nur die Tatsachenebene, er gilt nicht für Rechtsfragen (SSt 44/34; Fabrizy StPO10 § 258 Rz 10; St. Seiler9 Rz 75). Das Postulat „in dubio mitius“, wonach im Zweifel über die rechtliche Beurteilung die für den Angeklagten günstigere Rechtslage gilt, hat sich im österreichischen Strafprozess nicht durchgesetzt (vgl Lendl, WK-StPO § 258)
Artikel 6 und 7 (Recht, sich nicht selbst zu belasten und nicht mitzuwirken und das Aussageverweigerungsrecht)
Diese beiden Artikel stellen das Herzstück der RL dar und die in der Überschrift bezeichneten Rechte werden auch als „allgemein anerkannte Grundsätze“ bezeichnet, die wiederum das Herzstück des Begriffs des fairen Verfahrens nach Art 6 EMRK ausmachen; die hier zu garantierenden Rechte werden in Ö in der Rechtsprechung des VfGH aus dem Anklagegrundsatz des Art 90 B-VG abgeleitet (siehe auch § 7 Abs. 2 StPO).
Die Mitgliedsstaaten müssen das Selbstbelastungsverbot sicherstellen, wobei der Umstand, dass vom Recht zu Schweigen Gebrauch gemacht wird, nicht gegen Verdächtige oder Beschuldigte verwendet werden darf. Zudem sieht die RL vor, dass die Verwendung von Beweisen unzulässig ist, die unter Außerachtlassung dieser Bestimmung zustande gekommen sind.
Nach Art 7 der RL haben die MS sicher zu stellen, dass verdächtigte oder beschuldigte Personen vor Polizei oder Justizbehörden das Recht haben, zu schweigen, insbesondere dadurch, dass sie rasch darüber belehrt werden, wobei auch hier der Gebrauch dieses Rechtes nicht gegen sie verwendet werden darf.
Artikel 8 und 9 (Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung sowie Recht auf eine neue Verhandlung)
Diese Rechte stehen nach Ansicht des BMJ mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht in unmittelbaren Zusammenhang, was auch schon im Rahmen eines vorbereitenden Expertentreffens im Februar 2013 von vielen MS, darunter auch Ö kritisch angesprochen wurde. Ob das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung tatsächlich mit dem Recht auf Unschuldsvermutung begründet werden kann oder ob dies nur einer (künstliche) Erweiterung darstellt, ist zu bezweifeln.
Ungeachtet dieser - in den Verhandlungen noch zu klärenden - Bedenken, ist zu betonen, dass die in der RL vorgesehenen Bestimmungen mit dem Abwesenheitsverfahren nach der StPO in Einklang stehen, weil hier sogar noch weitere Voraussetzungen für die Möglichkeit der Durchführung der HV in Abwesenheit vorgesehen sind (z.B. Einschränkung auf Vergehen). Durch die Möglichkeit der Erhebung eines Einspruchs gegen ein in Abwesenheit gefälltes Urteil, kann der Angeklagte im Falle der Nichterfüllung der in Art 8 Abs. 2 genannten Voraussetzungen das „Recht auf eine neue Verhandlungen“ (Wortlaut der RL) einschließlich der Möglichkeit der Prüfung des Sachverhalts, neuer Beweismittel und der Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung durchsetzen.
Artikel 10 (Rechtsbehelfe)
Die Mitgliedstaaten haben sicher zu stellen, dass Verdächtige oder Beschuldigte im Falle einer Verletzung ihrer in dieser Richtlinie festgelegten Rechte über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen und (Abs. 2) so weit wie möglich in die Lage versetzt werden, in der sie sich ohne Rechtsverletzung befinden würden.
Die Art 11 (Datenerhebungen) und Art 12 (Regressionsverbot) enthalten keine hervorhebenswerten Besonderheiten.
In Art 13 (Umsetzung) ist auf die nur mit 18 Monaten angesetzte Umsetzungsfrist zu verweisen.
Auszugehen ist davon, dass einige MS wohl in den Verhandlungen eine Ausdehnung der Umsetzungsfrist fordern werden.
2. Hinweise auf Mitwirkungsrechte des Nationalrates und Bundesrates
…
3. Auswirkungen auf die Republik Österreich einschließlich eines allfälligen Bedürfnisses nach innerstaatlicher Durchführung
Ein Umsetzungsbedarf ergibt sich nach ersten Einschätzungen aufgrund der derzeitigen Fassung nicht.
4. Position des/der zuständigen Bundesminister/in samt kurzer Begründung
Die Schaffung einheitlicher Rechtsstandards zum Schutz der Rechte des Einzelnen im Strafverfahren wird grundsätzlich befürwortet.
Der Zusammenhang zwischen dem Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung mit der Unschuldsvermutung wird – wie oben bereits ausgeführt - jedoch noch zu hinterfragen sein.
In den Verhandlungen wird auch darauf zu achten sein, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ wie nach österreichischen Verständnis des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung auszulegen ist; es ist zu vermeiden, dass dadurch eine negative Beweisregel des Inhalts eingeführt wird, dass sich das Gericht bei mehreren denkbaren Schlussfolgerungen für die dem Angeklagten günstigste entscheiden müsste. Schlussfolgerungen aus zweifelsfrei festgestellten Prämissen müssen daher nicht zwingend sein, sondern (nur) den Denkgesetzen entsprechen. Indizienbeweise müssen weiterhin im Sinne des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung zulässig sein.
Dabei wird auch sicherzustellen sein, dass eine beweiswürdigende Wertung des Schweigens des Angeklagten zur Schuldfrage (§ 245 Abs. 2 StPO) dann nicht ausgeschlossen ist, wenn belastende Beweise nach einer Erklärung des Angeklagten rufen (SSt 2006/33).
Der Umstand, dass der Beschuldigte im Fall einer Rechtsverletzung grundsätzlich so zu stellen ist, als wäre diese nicht erfolgt, entspricht zwar grundsätzlich der österreichischen Rechtslage (siehe § 107 Abs. 4 StPO), doch folgt daraus in jenen Fällen, in denen die StPO keine Vernichtungsanordnung enthält bloß, dass solcherart erlangte Beweismittel ohne Einverständnis des Beschuldigten zu dessen Nachteil weder für die Entscheidung über die Beendigung des Ermittlungsverfahrens noch zur Begründung der Festnahme oder der Verhängung der Untersuchungshaft des Beschuldigten zu Grunde gelegt werden dürfen (EvBl 2009/131).
Im Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren wird in den Verhandlungen sicherzustellen sein, dass das Verbot von Schuldvermutungen nicht eine Begründung einer wenn auch dringenden Verdachtslage verhindert. Klar ist, dass Zwangsmaßnahmen, insbesondere die Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft keine die Strafe vorwegnehmende Wirkung entfalten dürfen (siehe insoweit auch § 182 Abs. 3 Z 1 StPO).
Grundsätzlich dürfte die in Ö geltende Rechtslage die in der RL enthaltenen Vorgaben- für den Fall der oben erwähnten Klarstellungen - bereits erfüllen, weshalb der RL-Vorschlag – mit Ausnahmen der angeführten Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung sowie den Zusammenhang mit dem Abwesenheitsverfahren unterstützt werden kann.
5. Angaben zu Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität
Nach Artikel 82 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sollte die gegenseitige Anerkennung der Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sein, das heißt, die in den Mitgliedstaaten ergangenen Gerichtsentscheidungen sollten unabhängig vom Ort ihres Erlasses als gleichwertig angesehen werden und deshalb überall in der EU vollstreckbar sein. Grundlage der justiziellen Zusammenarbeit muss gegenseitiges Vertrauen zwischen den verschiedenen Justizsystemen sein. Der Eindruck, dass die Rechte Verdächtiger oder Beschuldigter nicht in jedem Fall geachtet werden, hat äußerst nachteilige Auswirkungen auf das gegenseitige Vertrauen und damit auch auf die justizielle Zusammenarbeit.
In diesem Zusammenhang ist die Stärkung der Rechte des Einzelnen im Strafverfahren ein Anliegen, das bereits im Stockholmer Programm klar zum Ausdruck gebracht wurde. In Abschnitt 2.4 des Stockholmer Programms ersuchte der Europäische Rat die Kommission, Vorschläge zur schrittweisen Stärkung der Rechte Verdächtiger oder Beschuldigter durch Festlegung gemeinsamer Mindestnormen für die Verfahrensrechte vorzulegen.
Mit ihrer Agenda zu den Verfahrensrechten will die Kommission sicherstellen, dass das Recht auf ein faires Verfahren in der Europäischen Union geachtet wird. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung und die damit zusammenhängenden Rechte tragen dazu bei, das Recht auf ein faires Verfahren zu gewährleisten. Die verschiedenen Rechte Verdächtiger oder Beschuldigter in Strafverfahren, die in den letzten Jahren mit den genannten EU-Richtlinien festgelegt wurden, z. B. das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen, das Recht auf Belehrung und Unterrichtung oder das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, sind kein Ziel an sich. Vielmehr dienen sie der praktischen Umsetzung des Rechts auf ein faires Verfahren. Auch die Unschuldsvermutung und die damit zusammenhängenden Rechte tragen dazu bei. Würde die Unschuldsvermutung in den Mitgliedstaaten ständig missachtet, könnten die Ziele der Agenda für die Verfahrensrechte nicht vollständig erreicht werden.
Dieser Vorschlag stützt sich auf Artikel 82 Absatz 2 AEUV, der wie folgt lautet: „Soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist, können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften festlegen. Bei diesen Mindestvorschriften werden die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt.
Die Vorschriften betreffen Folgendes:
a) die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten;
b) die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren;
c) die Rechte der Opfer von Straftaten;
d) […]“ …
Das Recht auf die Unschuldsvermutung und all seine Aspekte sind in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet. Die Rechtsprechung des EGMR zeigt, dass immer wieder gegen die Unschuldsvermutung und die damit verbundenen Verfahrensrechte verstoßen wird. Dies hat zu einem Mangel an gegenseitigem Vertrauen zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten der EU geführt. Infolgedessen arbeiten die Justizbehörden nur ungern zusammen. Aus Sicht des BMJ kann der EK beigepflichtet werden, dass der EGMR allein keinen vollständigen Schutz der Unschuldsvermutung gewährleisten kann. Mit einigen Aspekten der Unschuldsvermutung hat sich der EGMR noch nicht eingehend oder in letzter Zeit nicht befasst, und das Beschwerdeverfahren beim EGMR kann erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe eingeleitet werden. Die Richtlinie ergänzt die vom EGMR vorgesehenen Garantien und stellt sicher, dass die Unschuldsvermutung von Beginn des Strafverfahrens an geschützt ist, auch durch die Möglichkeit, die Rechtsschutzverfahren der EU in Anspruch zu nehmen.
Nur auf Ebene der Europäischen Union können kohärente gemeinsame Mindestvorschriften erlassen werden, die in der gesamten Europäischen Union gelten. Dies wurde im Stockholmer Programm bestätigt, in dem der Europäische Rat die Kommission ersuchte, das Thema Unschuldsvermutung anzugehen. Der Vorschlag zielt auf die Angleichung der Verfahrensvorschriften der Mitgliedstaaten in Bezug auf bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, um so das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Der Vorschlag steht daher auch aus Sicht des BMJ mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang.
Der Vorschlag entspricht nach Ansicht der EK dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, da er nicht über das für die Erreichung des erklärten Ziels auf europäischer Ebene erforderliche Maß hinausgeht. Der Vorschlag befasse sich nur mit bestimmten Aspekten der Unschuldsvermutung, die in einem unmittelbareren Zusammenhang mit dem Funktionieren der Rechtsinstrumente auf dem Gebiet der gegenseitigen Anerkennung und mit der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen stehen. Ferner ist er auf natürliche Personen beschränkt.
Aus Sicht des BMJ kann dem weitgehend mit Ausnahme der Auswirkungen auf traditionelle Grundsätze des Systems des Strafverfahrensrechts, wie insbesondere dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung zugestimmt werden. Die Regelung des Rechts auf Anwesenheit lässt sich freilich nicht mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung begründen
6. Stand der Verhandlungen inklusive Zeitplan
Derzeit sind die ersten Termine für Ratsarbeitsgruppen abzuwarten. Zumal aber mittlerweile bekannt wurde, dass der griechische Vorsitz die drei RLs (siehe unter Punkt getrennt bzw. hintereinander verhandelt wird und zunächst mit der RL über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder beginnen wird (RAG Droipen am 20. Jänner 2014), ist in nächster Zeit mit keiner Arbeitsgruppensitzung zu rechnen.