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„Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“

 

 

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Parlamentarische Enquete des Bundesrates

Dienstag, 7. November 2017

 

(Stenographisches Protokoll)

 


Parlamentarische Enquete des Bundesrates

Dienstag, 7. November 2017

(XXV. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates)

Thema

„Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“

Dauer der Enquete

Dienstag, 7. November 2017: 10.07 – 15.40 Uhr

*****

Tagesordnung

I. Eröffnung und Darstellung der Zielsetzungen der Enquete

Präsident des Bundesrates Edgar Mayer

II. Politische Impulsreferate

Europäische Ebene

Dr. Johannes Hahn (Mitglied der Europäischen Kommission)

Präsident des Ausschusses der Regionen Karl-Heinz Lambertz

Landtage

Präsident des Niederösterreichischen Landtags Ing. Hans Penz

Präsident des Burgenländischen Landtags Christian Illedits

Präsident des Oberösterreichischen Landtags Kommerzialrat Viktor Sigl

Präsident des Vorarlberger Landtags Mag. Harald Sonderegger

III. Impulsreferate zu „Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“

Dr. Jörg Wojahn (Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich)

Mag. Georg Pfeifer (Leiter des Informationsbüros des Europäischen Parlaments in Österreich)

Mag. Alexander Schallenberg, LL.M (Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres)

Univ.-Prof. Dr. Peter Bußjäger (Universität Innsbruck, Institut für Föderalismus)

IV. „Die Zukunft der EU – Erfahrungen aus der Praxis“

Diskussion mit EU-GemeinderätInnen

Mag. Johannes Huber (Moderator)

Mag. Harald Witwer (ÖVP)

Pia Vinogradova, MA (SPÖ)

Mag. Wolfgang Jung (FPÖ)

Alois Schmidt (Grüne)

V. Abschlussrunde

*****

Inhalt

I. Eröffnung und Darstellung der Zielsetzungen der Enquete ................................ 6

Vorsitzender Präsident Edgar Mayer ........................................................................... 6

II. Politische Impulsreferate .......................................................................................... 8

Europäische Ebene ....................................................................................................... 8

Dr. Johannes Hahn ........................................................................................................ 8

Präsident Karl-Heinz Lambertz .................................................................................. 12

Landtage ....................................................................................................................... 15

Präsident Ing. Hans Penz ............................................................................................ 15

Präsident Christian Illedits .......................................................................................... 18

Präsident Kommerzialrat Viktor Sigl ......................................................................... 20

Präsident Mag. Harald Sonderegger ......................................................................... 23

Diskussion:

MEP Dr. Barbara Kappel ............................................................................................. 25

MMag. Christian Mandl ............................................................................................... 26

MEP Dr. Monika Vana .................................................................................................. 27

Bundesrat Ing. Eduard Köck ....................................................................................... 28

Dr. Johannes Hahn ...................................................................................................... 29

Bundesrat Stefan Schennach ..................................................................................... 30

Bundesrätin Mag. Nicole Schreyer ............................................................................ 31

Mag. Nicolaus Drimmel ............................................................................................... 32

III. Impulsreferate zu „Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“           ............................................................................................................................... 33

Dr. Jörg Wojahn ........................................................................................................... 33

Mag. Georg Pfeifer ....................................................................................................... 36

Mag. Alexander Schallenberg, LL.M .......................................................................... 39

Univ.-Prof. Dr. Peter Bußjäger .................................................................................... 42

Diskussion:

Bundesrat Christoph Längle ...................................................................................... 44

Mag. Norbert Templ ..................................................................................................... 44

Präsident Christian Illedits .......................................................................................... 46

Bundesrat Stefan Schennach ..................................................................................... 47

Präsident Karl-Heinz Lambertz .................................................................................. 48

IV. „Die Zukunft der EU – Erfahrungen aus der Praxis“ ......................................... 50

Diskussion mit EU-GemeinderätInnen ...................................................................... 50

Moderator: Mag. Johannes Huber ............................................................................... 49

EU-GemeinderätInnen:

Alois Schmidt................................................................................................................ 50

Mag. Wolfgang Jung .................................................................................................... 53

Pia Vinogradova, MA ................................................................................................... 56

Mag. Harald Witwer ...................................................................................................... 59

Diskussion:

Mag. Barbara Sieberth ................................................................................................. 62

Bundesrätin Dr. Andrea Eder-Gitschthaler .............................................................. 63

Bundesrat Gerd Krusche ............................................................................................ 66

Bundesrat Günther Novak .......................................................................................... 67

Mag. Christian Buchmann .......................................................................................... 67

V. Abschlussrunde ....................................................................................................... 69

Bundesrat Martin Preineder ....................................................................................... 69

Bundesrat Stefan Schennach ..................................................................................... 70

Bundesrätin Monika Mühlwerth ................................................................................. 72

Bundesrätin Dr. Heidelinde Reiter ............................................................................. 73

Geschäftsbehandlung

Unterbrechung der Sitzung .......................................................................................... 48

 

 

 


 

10.07.01Beginn der Enquete: 10.07 Uhr

Vorsitzende: Präsident des Bundesrates Edgar Mayer, Vizepräsident des Bundes­rates Ernst Gödl.

*****

10.07.04I. Eröffnung und Darstellung der Zielsetzungen der Enquete

 


10.07.05

Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Einen schönen guten Morgen, sehr verehrte Damen und Herren! Ich eröffne die Enquete des Bundesrates zum Thema „Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“ und danke Ihnen, dass Sie der Einladung so zahlreich gefolgt sind. Ich darf alle Anwesenden sehr herz­lich willkommen heißen. 

Mein besonderer Gruß gilt den Referentinnen und Referenten dieser Enquete. Im Spe­ziellen darf ich als Ersten den Präsidenten des Ausschusses der Regionen Karl-Heinz Lambertz begrüßen. Herzlich willkommen, Herr Präsident! (Beifall.)

Ich freue mich auch, dass EU-Kommissar Dr. Johannes Hahn zu uns gekommen ist. Guten Morgen, Herr Kommissar! (Beifall.)

Ich begrüße die Präsidenten der Landtage Ing. Hans Penz, Christian Illedits, Kommer­zial­rat Viktor Sigl und Mag. Harald Sonderegger. Vielen Dank für euer Kommen! (Beifall.)

Erwähnen möchte ich noch, dass Ing. Hans Penz zugleich auch Präsident der Land­tags­­präsidentenkonferenz ist und er deshalb nicht nur bei dieser Enquete unter­stüt­zend wirken wird, sondern in weiterer Folge auch bei einer gemeinsamen Veranstaltung in Brüssel. Darauf werde ich aber später noch zu sprechen kommen.

Ich darf auch unsere Referenten sehr herzlich begrüßen, und zwar den Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Wien Herrn Dr. Jörg Wojahn, den Leiter des Infor­mationsbüros des Europäischen Parlaments in Wien Herrn Mag. Georg Pfeifer, den Vertreter des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres Herrn Botschaf­ter Mag. Alexander Schallenberg, den Direktor des Instituts für Föderalismus Herrn Universitätsprofessor Dr. Peter Bußjäger sowie die EU-Gemeinderätin Frau Pia Vinogradova und die EU-Gemeinderäte Herrn Mag. Harald Witwer, Herrn Mag. Wolf­gang Jung und Herrn Alois Schmidt. Herzlich willkommen! (Beifall.)

Darüber hinaus begrüße ich sehr herzlich die anwesenden Fraktionsvorsitzenden sowie alle Mitglieder des Bundesrates, des Europäischen Parlaments, des National­rates und der Landtage, die Vertreterinnen und Vertreter der Landesregierungen, der Bundesministerien und der Sozialpartner sowie alle von den jeweiligen Institutionen namhaft gemachten Vertreterinnen und Vertreter, die als Expertinnen und Experten an der heutigen Enquete teilnehmen.

Im Besonderen heiße ich auch die Vertreterinnen und Vertreter der Medien herzlich willkommen.

Es freut mich sehr, auch alle Zuseherinnen und Zuseher, die heute die Enquete via Livestream im Internet verfolgen, herzlich begrüßen zu können.

*****

(Es folgen technische Mitteilungen in Bezug auf das Prozedere durch den Vorsit­zen­den sowie der Hinweis, dass über diese Enquete ein Stenographisches Protokoll verfasst wird, das nach einiger Zeit im Internet unter www.parlament.gv.at abrufbar sein wird.)

*****

Ich freue mich, nun meine Eröffnungsworte an Sie richten zu dürfen:

Sehr geehrte Damen und Herren! „Wer Zentralismus sät, wird Separatismus ernten!“, hat vor wenigen Tagen der ehemalige Salzburger Landeshauptmann Franz Schausberger in einer österreichischen Tageszeitung den Konflikt zwischen Madrid und Katalonien kommentiert, der Spanien derzeit in Atem hält. Franz Schausberger ist seit mehr als 20 Jahren Mitglied im Ausschuss der Regionen der EU und weiß, wovon er spricht.

„Wer Zentralismus sät, wird Separatismus ernten!“ – das gilt aber auch für die Euro­päische Union. Als Vertreter der Regionen stellen wir deshalb dem Zentralismus von Brüssel den Regionalismus der Länder und Kommunen entgegen. Aber was wer­den wir letztendlich ernten, wenn wir Regionalismus säen? – Damit werden wir uns heute auseinandersetzen, in einem Forum von EU-Spitzenvertretern sowie Repräsen­tanten des Bundes, der Länder und Gemeinden.

Weil in vielen Regionen Europas der Nationalismus wieder Einzug gehalten hat, liegt es nun an uns, dem Nationalismus einen vernünftigen Regionalismus entgegenzu­setzen, der den Menschen jene Prinzipien garantiert, die ihnen der Nationalismus oh­ne­hin nicht gewährleisten kann: Freiheit, Gleichberechtigung und Rechtsstaat­lich­keit.

Diese Grundprinzipien hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Sep­tember in seinem Szenario 6 als weitere Diskussionsgrundlage für den künftigen Weg der EU genannt – einen Weg, der den Landtagen die Möglichkeit eröffnet, sich im Einzelnen politisch zu positionieren. Deren Präsidentinnen und Präsidenten sprechen sich deshalb dafür aus, die Debatte über die Zukunft Europas nicht abstrakt, sondern bezogen auf konkrete Politikbereiche zu führen.

Dabei sollte die Frage im Vordergrund stehen, in welchen Politikbereichen ein Handeln der Europäischen Union erforderlich ist und welche Kompetenzbereiche besser auf Ebene der Nationalstaaten, der Regionen und der Kommunen behandelt werden können.

In Österreich sind wir da bereits einen guten Weg gegangen. Der Ausschuss der Regionen hat die Zusammenarbeit des EU-Ausschusses des Bundesrates mit den Bundesländern als Best-Practice-Beispiel angeführt. Der österreichische Bundesrat ist, was Subsidiaritätsprüfungen anlangt, eines der führenden Parlamente in Europa.

Wir führen einen konstruktiv-kritischen Dialog mit dem Europäischen Parlament, der Kommission und dem Rat, beschließen begründete Stellungnahmen und Mitteilungen meistens einstimmig, obwohl die Fraktionen einen unterschiedlichen Zugang zu EU-Themen haben.

Eine damit in Zusammenhang stehende besondere Auszeichnung für den Bundesrat ist die Subsidiaritätskonferenz des Ausschusses der Regionen, die erstmals in Wien stattfindet. Am 4. Dezember werden wir unter anderen mit Kommissionsvize­präsiden­ten Frans Timmermans und Cecilia Wikström vom Europäischen Parlament Lösungen im Rahmen der Subsidiarität diskutieren und aufzeigen.

Weiters werden sich Ende November in Brüssel die Landtagspräsidenten aus Österreich, Südtirol und Deutschland gemeinsam mit dem Bundesrat in einer Konfe­renz mit einem tauglichen Fahrplan für die Zukunft der EU auseinandersetzen. Wir wollen die Zukunft Europas nämlich nicht abstrakt, sondern bezogen auf konkrete Politikbereiche gestalten. Dabei soll die Frage im Vordergrund stehen, in welchen Politikbereichen ein Handeln der Europäischen Union erforderlich ist und welche Kompetenzbereiche besser auf Ebene der Nationalstaaten, der Regionen und der Kommunen behandelt werden können.

Diskutieren wir hier und heute die Möglichkeiten, die den Weg zu einer bürger­gerech­ten, bürgernahen Europäischen Union, einer dezentralen Union unter Einbeziehung der Länder und Gemeinden eröffnen!

In diesem Sinne wünsche ich uns allen heute ein gutes Gelingen. – Ich danke Ihnen.

10.14

10.14.30II. Politische Impulsreferate

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Wir kommen nun zu den politischen Impuls­referaten.

Ich darf die Referenten ersuchen, die Zeit von 10 Minuten pro Statement nicht zu über­schreiten, damit ausreichend Zeit für die anschließende Diskussion zur Verfügung steht.

10.15.15Europäische Ebene

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Ich darf nun Herrn EU-Kommissar Dr. Johan­nes Hahn zum Rednerpult bitten. – Bitte, Herr Kommissar.

 


10.15.21

Dr. Johannes Hahn (Mitglied der Europäischen Kommission)|: Herr Präsident! Meine Herren Präsidenten! Da kann man heute nichts falsch machen, wenn man diese Anrede verwendet. Als ehemaliger Parlamentarier in Österreich freue ich mich, dieses Ausweichquartier einmal besichtigen und hier sprechen zu dürfen. Vielen herzlichen Dank für die Einladung.

Ich möchte mich aber auch ganz ausdrücklich beim Bundesrat bedanken, und das nicht nur, weil ich heute hier bei einer Bundesratsenquete bin, sondern auch, weil man, wie ich glaube, ohne Weiteres sagen kann, dass der Bundesrat in europapolitischen Fragen, jedenfalls was auch den Kontakt zu europäischen Institutionen anlangt, wesentlich aktiver ist als der Nationalrat. Vielleicht ist es aber eine Einladung für den Nationalrat, der sich übermorgen konstituieren wird, sich hier den Bundesrat als Bei­spiel zu nehmen.

Jedenfalls für uns als europäische Institution – ich glaube, da kann ich auch im Namen von Präsident Lambertz sprechen – ist die Einbindung nationaler Parlamente etwas ganz Wichtiges für ein bürgernahes Europa. Ich kann Ihnen berichten: Entgegen mancher Vorurteile haben meine KollegInnen und ich in den letzten drei Jahren – wir sind ja am 1. November genau drei Jahre im Amt gewesen – über 650 Mal an Sitzungen in nationalen Parlamenten teilgenommen. Das heißt im Klartext praktisch jeden zweiten Tag. Darüber hinaus gab es über 300 Bürgerdialoge in 80 Städten in ganz Europa. Aber, wie gesagt, es wäre zu kurz gegriffen, würde man quasi die europäische Kommunikation einigen Kommissaren und einigen Mitgliedern des Euro­päischen Parlaments, die ich auch ganz herzlich hier begrüßen möchte, überlassen.

Kommunikation, Diskussion über Europa muss und soll und kann nur ein Anliegen von uns allen sein, von allen politischen, aber auch gesellschaftlichen Entscheidungs­trägern. Und es gibt ja, wie man sieht, eine sehr lebhafte Diskussion über die Zukunft Europas. Ich sehe das persönlich sehr positiv, denn wenn man sich mit etwas aus­einan­dersetzt, wenn man um eine Position ringt, dann heißt das, dass es ein Interesse daran gibt, und das ist eigentlich für mich die beste Bestätigung, dass es ein großes, ein wichtiges Interesse an der zukünftigen Entwicklung Europas gibt.

Gestatten Sie mir, dass ich die Zeit nutze, aus meiner Warte – ich bin ja im jetzigen Dossier sehr stark auch mit internationalen Fragen beschäftigt – zu versuchen, einen Kontext herzustellen zwischen der Aufgabe, die Europa in der Welt vor sich hat, und den daraus resultierenden möglichen Konsequenzen für die zukünftige, auch partizipative Ausgestaltung Europas.

Ich könnte Ihnen natürlich auch sehr viel aus meiner früheren Zeit als Regio­nal­kommissar erzählen, aber dafür gibt es ja den Präsidenten des Rats der Regionen und Städte Europas. Ich meine, es ist auch ganz wichtig, dass wir hier beide Dinge immer gemeinsam sehen und betrachten.

Ich glaube, es steht ohne Frage fest, dass sich Europa einer spannenden Heraus­forde­rung gegenübersieht, nämlich wie wir uns zukünftig international positionieren wollen oder, ich möchte sagen, positionieren müssen. Das ist eigentlich meine zentrale Botschaft, nicht nur am heutigen Tage, sondern bei vielen Gelegenheiten: Europa hat heute ein Standing in der Welt, das wir in zehn, in 20 Jahren nicht mehr haben werden, und das nicht, weil wir nicht ordentlich performen, ganz im Gegenteil, sondern deshalb – es ist simpel –, weil die anderen global gesehen aufholen, was offensichtlich ist, was naheliegend ist, denn wir führen die wirtschaftliche, die politische Entwicklung nicht nur seit Jahrzehnten, sondern de facto seit Jahrhunderten an.

Wenn Europa heute mit 6 Prozent der Weltbevölkerung noch immer fast ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung erbringt und dabei imstande ist, 40 Prozent der globalen Sozialleistungen zu finanzieren, dann ist das ein Wert, auf den wir alle stolz sein können. Es geht aber darum, dass wir das auch in Zukunft sicherstellen können – jedenfalls dieses Wohlstandsniveau, diese Standards, die wir heute in den unterschied­lichsten Bereichen haben.

Nur zur Illustration: Im Jahre 1900, also vor ungefähr 120 Jahren, betrug der Anteil der europäischen Bevölkerung an der Weltbevölkerung 25 Prozent. Heute liegt er bei 6 Prozent, und Mitte des Jahrhunderts wird er auf 4 Prozent heruntergegangen sein. Und trotzdem, wie gesagt, sind wir immer noch imstande, diese globale Wirtschafts­leistung zu erbringen.

Ich sage das auch deshalb, weil wir in Europa – nicht nur in Österreich – immer unter einem Minderwertigkeitsgefühl leiden, dass wir glauben, alle anderen blasen uns wirt­schaftlich davon. Wir sind wirtschaftlich ein Faktor, und wenn im Zusammenhang mit Europa von Soft Power gesprochen wird, dann bezieht sich das einerseits auf unsere wirtschaftliche Performance, aber andererseits eben auch auf unsere rechtsstaatliche Performance. Das ist auch etwas, worauf wir stolz sein sollten. Das ist auch der Grund, warum so viele Menschen nach Europa drängen: weil sie eben hier auf der einen Seite Wohlstand haben und auf der anderen Seite ein rechtsstaatliches Gefüge, das sozusagen die individuellen Freiheitsrechte absichert.

Sehr selten schafft man es, die beiden Dinge in einen Zusammenhang zu setzen. Es ist offensichtlich nur dann möglich, in dieser Art und Weise wirtschaftlich zu performen, wenn man dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, seine Interessen, seine Neigungen zu verfolgen und im Freiraum zu agieren und sozusagen für sich selbst Perspektiven und Lösungen zu finden.

Wir dürfen uns aber keinen Illusionen hingeben – wie gesagt, die anderen holen zwangsläufig auf. Und wenn ich Ihnen sage, dass heute bereits die sogenannten E7-Staaten, also die Emerging Markets China, Indien, Indonesien, Brasilien, Russland, Mexiko, Türkei, in etwa die gleiche Wirtschaftsleistung erbringen wie die G7, dann muss uns bewusst sein, was das bedeutet. Es bedeutet nämlich, dass in 20 Jahren voraussichtlich diese E7, was die Wirtschaftsleitung anlangt, zweimal so stark sein werden wie heute die G7. Das ist ganz einfach, weil dort eben auch die Bevölkerung dahintersteht, weil potenzielles Marktwachstum gegeben ist.

Alle reden ständig von China. Wir gehen davon aus, dass in wenigen Jahren, noch vor Mitte des nächsten Jahrzehnts, Indien China, was die Zahl seiner Bewohnerinnen und Bewohner betrifft, überholt haben wird. Das bevölkerungsreichste Land der Erde wird also Mitte des nächsten Jahrzehnts mit hoher Wahrscheinlichkeit Indien sein und nicht mehr China. Indien ist natürlich von einer anderen gesellschaftlichen und politischen Struktur geprägt, nämlich einer tatsächlich auch demokratischen oder wesentlich demokratischeren, hat, by the way, auch 28 Bundesstaaten und so weiter, aber, wie gesagt, fast 1,4 Milliarden Einwohner, und wird auch in Zukunft ein ganz wesentlicher wirtschaftlicher Player sein.

Wir Europäer sollten uns aber, wie gesagt, nicht zu klein machen. Als ehemaliger Wis­senschaftsminister bin ich, ehrlich gesagt, auch stolz, sagen zu können – denn auch das ist etwas, was, glaube ich, den wenigsten bewusst ist –: Wenn man sich die Zahl der bisherigen Nobelpreisträger anschaut, dann sieht man, dass 455 aus der Euro­päischen Union kommen und aus den USA nur, sage ich, 353. Die Idee, nur die Ameri­kaner produzieren Nobelpreisträger, ist also falsch; es sind auch sehr viele Europäer. Es kommt jedoch gelegentlich vor, dass Europäer, die in Europa ihre For­schungs­leistung erbracht haben, die letztlich Jahrzehnte später zum Nobelpreis führt, in der Zwischenzeit nach Amerika abgeworben wurden, an einer amerikanischen Universität lehren, und wenn sie dann den Nobelpreis bekommen, entsteht der Eindruck, dass das wieder jemand von einer amerikanischen Universität ist. In Wirklichkeit ist die For­schungsleistung in Europa entstanden.

Europa ist auch jener Kontinent, in dem von der öffentlichen Hand mit Abstand die meisten Gelder für Forschung und Innovation bereitgestellt werden. Horizon 2020 ist dotiert mit 80 Milliarden €, und ich hoffe, dass wir trotz aller Diskussionen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen dafür weiterhin Geld, hoffentlich sogar mehr Geld, bereitstellen.

Wo wir eine gnadenlose Schwäche haben, das ist bei der Überführung von For­schungsergebnissen in Business Cases. Daran gilt es zu arbeiten, und in diesem Bereich gilt es auch interessante Modelle zu finden, wie wir effektiver sein können.

Warum erwähne ich all das? – Weil ich glaube, dass Europa gut beraten ist, die Eisen zu schmieden, solange sie sozusagen noch formbar sind. Das heißt, gegenwärtig haben wir wesentlich mehr Einfluss, um zu unseren Konditionen internationale Verein­barungen zu schließen, als wir in zehn, geschweige denn 20 Jahren haben werden.

Das Interesse Europas muss darin bestehen, dass wir jetzt internationale Verträge vorzugsweise zu unseren Konditionen mit unseren Standards schließen, auch als Schutzmaßnahme für uns selbst, für unser eigenes Wohlstandsniveau und auch unser Niveau von Standards von Umweltbedingungen et cetera. Ich sage das deshalb, weil ich weiß: Nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen Ländern steht man inter­nationalen Handelsabkommen durchaus kritisch gegenüber.

Es ist immer okay, die Dinge zu diskutieren, und es gibt immer Raum für Verbes­serungen, wir sollten uns aber des Gesamtkontexts bewusst sein. Und ich sage Ihnen auch, dass vor dem Hintergrund der gegenwärtigen amerikanischen Administration, die alles andere als berechenbar ist, die eine Renationalisierung herbeiführt, die protek­tionistische Maßnahmen forciert, dass viele Länder dieser Welt gegenwärtig wirklich in Brüssel anklopfen und mit uns internationale Vereinbarungen schließen wollen. Das ist gut so, und diese Möglichkeit müssen wir nutzen, denn jetzt sind wir stark, und in zehn, 20 Jahren werden wir das zwangsläufig nicht mehr sein oder nicht mehr in diesem Ausmaß – daher nochmals mein dringender Appell, dieses Zeitfenster zu nutzen.

Das bringt mich zum letzten Punkt: Daher stellt sich natürlich auch die Frage: Was sind die künftigen Aufgaben einer Europäischen Union, und was ist nicht notwendig? Es ist gut, dass wir diese Diskussion führen.

Ich möchte hier kein abschließendes Urteil abgeben, das Einzige, was ich sagen möchte, ist, dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik sicherlich andere Formen der Entscheidungsfindung brauchen. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn wir immer Einstim­migkeit haben müssen, dann werden wir immer nur reaktiv sein und nie aktiv. Wenn also meine Kollegin Mogherini und subsidiär ich uns international nur auf Basis eines einstimmigen Beschlusses von 28 Mitgliedstaaten bewegen können, dann – um das zu erkennen, braucht man nicht wahnsinnig viel Fantasie – sind wir eher in der reaktiven Phase als in der aktiven Phase.

Ich könnte Ihnen viel über die europäische Nachbarschaft sagen, jetzt aber nur so viel: Wir haben gegenwärtig um uns herum 20 Millionen bis 25 Millionen Flüchtlinge oder sogenannte Binnenflüchtlinge. Wir reden zum Beispiel sehr viel über Libyen als Absprungort nach Europa – das ist richtig –, aber wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass es in Libyen aufgrund des Bürgerkriegs eine Million Binnenflüchtlinge gibt, und es sind schätzungsweise 300 000 Flüchtlinge, also Migranten aus Dritt­staaten, die sich gegenwärtig in Libyen aufhalten, mit dem Ziel, nach Europa zu kom­men. Also eine Million Binnenflüchtlinge vor dem Hintergrund von etwa fünf Millionen bis sechs Millionen Einwohnern ist nicht irgendetwas, und so komme ich eben auf die Zahl von 20 Millionen, 25 Millionen rund um Europa.

In dieser Situation ist es auch wichtig, die Dinge zu stabilisieren, ins Lead zu gehen, wenn es darum geht, auch die Situation in der Nachbarschaft zu gestalten, und sich nicht auf andere zu verlassen, wie das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.

Ich glaube, ein funktionierendes Europa, das das Subsidiaritätsprinzip, das wir im Ver­trag von Lissabon festgeschrieben haben, wirklich lebt, ist ein Europa, das klar unterscheidet, was auf europäischer Ebene zu erfolgen hat und was nicht auf euro­päischer Ebene zu erfolgen hat.

Wenn man dann aber zu dem Schluss kommt, dass dieses und jenes auf europäischer Ebene geregelt gehört, dann, so meine ich, sollte auch die Entscheidungsfindung schneller erfolgen, damit wir eben die Dinge, die auf europäischer Ebene geregelt gehören und die zwangsläufig in vielen Fällen in einem globalen Kontext stehen, schneller entscheiden können und so eben auch schneller agieren, um zu gestalten und nicht sozusagen auf dem Beifahrersitz zu sitzen. Es geht darum, dass wir Europäer in den vielfältigsten Bereichen auf dem driving seat sitzen und nicht sozu­sagen auf dem Rücksitz oder auf dem Nebensitz. Wir haben alle Möglichkeiten dazu, vorausgesetzt wir verständigen uns auf das, was notwendig ist, und geben dann auch den europäischen Institutionen die Instrumente in die Hand.

Ich glaube nicht, dass die europäische Ebene in irgendeiner Form undemokratisch zusammengesetzt ist. Wir haben ein europäisches Parlament, das direkt von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern gewählt ist. Wir haben nationalstaatliche Regie­rungen, die ja auch nicht per Diktum zustande gekommen sind, und auch die Kommissarinnen und Kommissare müssen sich – ich schaue die anwesenden Mitglieder des Europäischen Parlaments an, die kennen das – einem Hearing unter­ziehen, von dem die nationalen Kollegen und Kolleginnen nur träumen können; und ich wünsche ihnen, dass sie noch lange davon träumen können. – Vielen herzlichen Dank. (Beifall.)

10.31


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Herr Kommissar Johannes Hahn, für deine Ausführungen.

Ich darf als Nächsten Herrn Präsident Karl-Heinz Lambertz zum Rednerpult bitten. – Bitte, Herr Präsident.

 


10.32.05

Präsident des Ausschusses der Regionen Karl-Heinz Lambertz|: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kommissar! Meine sehr geehrten Damen und Herren Präsidenten und Parlamentarier!

Mit Ihrer Einladung zu dieser Enquete des Bundesrates machen Sie mich zum Wie­derholungstäter. Es ist knapp ein Jahr her, dass ich vor dem Bundesrat reden durfte. Seitdem hat sich vieles geändert. Das wohl Unwichtigste ist, dass ich vom Ersten Vizepräsidenten zum Präsidenten des Ausschusses der Regionen ernannt worden bin, was jetzt aber auch nichts Weltbewegendes ist. Wichtiger ist das, was in Europa seitdem passiert ist.

Wenn Sie sich noch an meine Rede vom 25. Oktober 2016 erinnern – das werden Sie natürlich nicht –: Damals habe ich darauf hingewiesen, dass auf den Tag genau am 25. Oktober der Autonomiestatus Kataloniens 37 Jahre alt wurde. Heute erleben wir in Brüssel eine Demonstration von 200 katalanischen Bürgermeistern, die ihre Meinung zur jetzigen Situation dort zum Ausdruck bringen. Und man kann heute nirgendwo mehr über regionale Autonomien und Entwicklungen reden, ohne dass man, wenn man es nicht schon selbst tut, zumindest bei der ersten Frage auf Katalonien angesprochen wird.

Besteht die Zukunft der 300 europäischen Regionen darin, alle zu Staaten, zu unab­hängigen Staaten, zu mutieren? Das kann eigentlich nicht die Zukunft auf unserem europäischen Kontinent sein, auch wenn natürlich der Einsatz für die Bildung eines neuen Staates nicht a priori illegitim ist. Die UNO hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg von 45 auf 200 Staaten entwickelt.

Aber ich glaube, dass in Europa zwei Dinge zum politischen Acquis communautaire gehören: Einerseits – davon bin ich zutiefst überzeugt, und als Belgier weiß ich ein bisschen, wovon ich rede – müssen Unzufriedenheiten mit Autonomiestatuten im Dialog in den jeweiligen Staaten zu einem Kompromiss gebracht werden, das ist fun­da­mental, das ist sehr wichtig. Und diese Kompromisse müssen, auch wenn sie insta­bil bleiben, allen erlauben, damit weiterleben zu können. Zum Acquis communautaire gehört meines Erachtens aber auch – und zu dieser Aussage stehe ich –, dass Konflikte um solche Themen herum nicht mit dem Einsatz des Strafrechts und der Polizei wirkungsvoll gelöst werden können.

Ich kann nur hoffen – und das tue ich wirklich aus tiefster Überzeugung –, dass in Spanien die Gesprächspartner wieder an einen Tisch kommen und verhandeln, über die Zukunft ihres Landes diskutieren. Denn das, was dort geschieht, ist natürlich zuallererst eine spanische Angelegenheit. Aber wir können in einem Europa, das so weit integriert ist wie das, in dem wir leben, nicht sagen, wir schauen weg, das betrifft uns nicht, die müssen da alleine klarkommen. – Das, was da geschieht, betrifft uns, ob wir es wollen oder nicht, auch selbst. Und es wirft auf jeden Fall ein Licht oder einen Schatten auf die ganze Diskussion über die Rolle der Regionen in Europa. Dass diese Diskussion heute hier in Wien auf diese Art und Weise geführt wird, dafür bedanke ich mich recht herzlich, genauso wie für die Einladung, denn ich glaube, dass es der rich­tige Zeitpunkt ist, und es ist sicherlich noch mehr der richtige Zeitpunkt für Österreich, weil ja die Republik Österreich in Kürze den Vorsitz in der Europäischen Union führen wird.

Europa durchlebt eine entscheidende Zeit, und da sind alle Regierungsebenen direkt betroffen. Das steht auch in der Erklärung von Rom anlässlich des 60-Jahr-Jubiläums der Union. Dort wird von den Staats- und Regierungschefs zu Recht gesagt: Wir werden auf der Ebene zusammenarbeiten, auf der wirklich etwas bewirkt werden kann – sei es auf der Ebene der Europäischen Union, der Mitgliedstaaten, der Regio­nen oder der Kommunen. Das ist genau das, worauf es ankommt. Und das ist auch das, wofür wir uns einsetzen, ganz besonders der Ausschuss der Regionen, der ja am 10. Oktober getagt hat, übrigens dem Tag – da bin ich schon wieder bei Katalonien –, als abends in Barcelona diese Erklärung anstand.

Deshalb haben wir im Ausschuss der Regionen zum ersten Mal in diesem Jahr einen Bericht zur Lage der Union aus der Sicht der Gebietskörperschaften vorgetragen.

Das ist jetzt nicht eine Miniaturausgabe des Juncker-Berichts, der jedes Jahr kommt, sondern einfach der Versuch, aus dieser Ebene der Gebietskörperschaften heraus einen konstruktiven Beitrag zur Weiterentwicklung Europas zu leisten. Und das ist wichtig, denn die Städte und Regionen Europas, die Dörfer, die Kommunen sind eine starke, positive Kraft in und für Europa. Die Berufung auf die europäische, nationale, regionale oder lokale Identität bedeutet nicht, dass man die eine zugunsten der anderen aufgibt. Ganz im Gegenteil! Alle Identitäten müssen zusammenfließen, sich gegen­seitig befruchten und Regionen dazu befähigen, sich dank ihrer tiefen Ver­wurzelung auch zu öffnen, mit anderen in Kontakt zu treten und sich auf diese Art und Weise gemeinsam europäisch weiterzuentwickeln. Das ist das, worauf es bei Europa ankommt, und das ist das, was der Ausschuss der Regionen auch als Haus der Städte und Regionen gerne mitgestalten möchte.

Die Menschen leben in ihren Dörfern, Gemeinden, Städten und Regionen und nirgend­wo anders, auch wenn sie sehr mobil sind. Deshalb entscheidet sich auch dort letzt­endlich, ob sie Europa als etwas Positives, Konstruktives für ihre Lebensgestaltung erleben und verstehen, oder ob sie Europa als etwas erleben und verstehen, was ihnen Angst macht, was sie ablehnen und vor dem sie sich in Acht nehmen müssen. Wir brauchen ein Europa, das positive Assoziationen in den Köpfen und Herzen der Menschen auslöst, ein Europa, eine europäische Politik, die als effektiver Mehrwert vor Ort erlebt wird. Das ist von ganz entscheidender Bedeutung. Da kommt es natürlich ganz wesentlich auf den Dialog mit den Gebietskörperschaften und mit den Bürgerinnen und Bürgern an.

Gestern hat der ehemalige AdR-Präsident Luc Van den Brande, ein ehemaliger belgi­scher Ministerpräsident von Flandern, einen im Auftrag des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker erstellten Bericht zu ebendieser Bürgernähe Europas vorgelegt. Es ist sehr interessant, sich diesen Text etwas näher anzuschauen. Die Schlussfol­gerung ist ganz einfach: Es führt kein Weg daran vorbei, die Zukunft im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern Europas zu gestalten. Auch wenn man – egal, wo – meint, man hätte die Weisheit gepachtet oder die genialsten Ideen entwickelt: Wenn das den Menschen vor Ort nicht klargemacht werden kann, wenn sie das nicht teilen und von sich aus mittragen, dann gelingt das Ganze nicht.

Die lokalen und regionalen Behörden spielen eine große Rolle in Europa. Sie setzen den größten Teil des europäischen Rechts ganz konkret um, und sie konzipieren, ko­finan­zieren, verwalten und gestalten auch europäische Vorhaben mit der Unterstützung ihrer jeweiligen Verwaltungen. Es ist auch sehr bezeichnend, dass das Vertrauen der Bevölkerung den lokalen und regionalen Behörden gegenüber am größten ist, größer als den staatlichen und auch den europäischen Behörden gegenüber. Daraus erwächst natürlich eine große Verantwortung, denn nur, wenn sich die lokalen und regionalen Verantwortlichen auch selbst als Europapolitiker, als Gestalter in Europa verstehen, wird es möglich sein, eine gemeinsame europäische Zukunft zu verwirklichen. Deshalb muss die Stimme der Städte und Regionen gehört werden, vielleicht mehr, als es bisher der Fall ist.

Der Ausschuss der Regionen hat da eine wichtige Aufgabe, aber auch jede einzelne Region, jede einzelne Stadt. Nun kann man nicht jedem der Hunderttausenden Bürger­meister die Handynummer von Herrn Juncker geben – das kann man zwar machen, aber ob man die dann immer anrufen kann, ist eine andere Frage –, aber es muss vermittelt über Verbände, über Kooperationen dieser Standpunkt der Gebietskör­per­schaften zum Ausdruck kommen, und es muss vor allem versucht werden, dann auch schlüssige Konzepte und Antworten zu vertreten. Wir werden im Ausschuss der Regionen Anfang 2019 im Vorfeld des Gipfels von Sibiu am 9. Mai einen weiteren Gipfel der Städte und Regionen organisieren und versuchen, da eine klare Botschaft zu formulieren.

Eines ist für uns klar: Wir müssen gemeinsam voranschreiten, vorzugsweise im gleichen Takt, wenn es sein muss auch mit unterschiedlichem Tempo, aber auf jeden Fall und stets alle in dieselbe Richtung – und das ist das, was zum jetzigen Zeitpunkt in Europa vor allem Probleme aufwirft.

Die Europäerinnen und Europäer sind diejenigen, die Europa letztlich gestalten, und dabei spielt lokale und regionale Autonomie eine ganz große Rolle. Deshalb müssen wir im Ausschuss der Regionen gemeinsam etwa mit dem Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates, dem übrigens zurzeit eine Österreicherin vorsitzt, oder mit den regionalen und europäischen Verbänden in Europa alles Wissen, alles Können in Sachen Dezentralisieren, Regieren im Mehrebenensystem oder bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sammeln, bündeln und immer weiterentwickeln.

Es kommt auf zwei Dinge an: erstens eben auf die Wahrung dieses Subsidiaritäts­prinzips; das ist ganz besonders wichtig, da spielen wir als AdR auch eine sehr aktive Rolle, und da freuen wir uns schon jetzt darauf, am 4. Dezember hier in Wien die 8. Subsidiaritätskonferenz gemeinsam mit dem Bundesrat austragen zu können. Wir werden darüber ja auch noch am 27. November in Brüssel mit den Präsidenten der Landtage diskutieren können, nachdem wir das bereits ein erstes Mal am 13. Juni in Feldkirch gemacht haben.

Der zweite wichtige Grundsatz ist der Dialog mit den Europäerinnen und Europäern, dieser muss vorangetrieben und noch viel intensiver gestaltet werden, als das bisher der Fall ist. Da kommt es darauf an, dass die Gebietskörperschaften eben ihre Rolle beim Vorantreiben von Wachstum und Beschäftigung, aber auch beim Garantieren von physischer, sozialer und ökologischer Sicherheit klar mitgestalten können. Da ist unter anderem, was die soziale Dimension angeht, der kommende Woche in Göteborg stattfindende EU-Sozialgipfel von ganz großer Bedeutung.

Und – damit möchte ich schließen – Europa braucht natürlich auch Mittel. Wir geben ja zurzeit nur knapp 1 Prozent des europäischen Inlandsproduktes für die große Aufgabe Europa aus. Dass man auf Dauer damit klarkommen kann, daran habe ich berechtigte Zweifel, aber es wird wohl bis auf Weiteres noch in dieser Größenordnung weitergehen müssen. Da ist es auf jeden Fall von allergrößter Bedeutung, dass diese Mittel richtig eingesetzt werden.

Zurzeit stehen wir vor einem großen Thema, nämlich der Zukunft der Kohäsionspolitik, diese ist sehr wichtig; sie ist nicht das Einzige, was wichtig ist, aber die Kohäsions­politik ist sehr, sehr wichtig, weil sie eben den Zusammenhalt zu garantieren hat. Es wäre äußerst tragisch, wenn diese Kohäsionspolitik jetzt aus finanziellen Gründen substanziell zurückgefahren oder sogar renationalisiert würde. Das kann aus der Sicht des Ausschusses der Regionen nicht der Fall sein, genauso wenig wie das Verbinden mit allen möglichen und unmöglichen Konditionalitäten. Darauf haben wir zurzeit unser Hauptaugenmerk gerichtet, indem wir eine Allianz für die Kohäsionspolitik schmieden; damit haben wir Anfang Oktober in Brüssel begonnen, und wir hoffen, dass auch viele von Ihnen sich dem anschließen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich war zu lang, Sie waren trotzdem geduldig mit mir, dafür vielen Dank. Ich hoffe, dass wir in den nächsten Monaten und Jahren noch manche Gelegenheit haben werden, unsere Arbeit gemeinsam fortzusetzen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)

10.45


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Präsident Lambertz! Ja, Sie waren zu lang, aber wenn man länger spricht, geht es auch um Inhalt, und den kann man als hervorragend bezeichnen. Vielen Dank, Herr Präsident!

10.46.10Landtage

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Ich darf jetzt den Vorsitzenden der Landtags­präsidentenkonferenz Ing. Penz zum Rednerpult bitten. – Bitte, Herr Präsident.

 


10.46.18

Präsident des Niederösterreichischen Landtags Ing. Hans Penz|: Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des AdR! Herr Kommissar! Geschätzte Kolle­ginnen und Kollegen! Europa – in diesem, unserem Europa gärt es, und ob es, um Georg Christoph Lichtenberg zu zitieren, Wein oder Essig werden wird, ist unge­wiss. Lichtenberg hat das zu Zeiten der Französischen Revolution geschrieben.

Ja, es gärt wieder in Europa. Nationale Fronten machen Front gegen Europa und gegen die Werte der Aufklärung, gegen Werte, die in die EU-Grundrechtecharta einge­gan­gen sind. Österreich hat diese Grundrechtecharta 2012 in den Verfassungsrang erhoben – und das war ein Meilenstein, weil sie in Verbindung mit der Verfassung und der Menschenrechtskonvention einen sehr dichten Grundrechtsschutz bewirkt. Diese Entscheidung Österreichs hat auch klargemacht, was Europa ist und Europa sein muss: eine Rechts- und Wertegemeinschaft, de jure und de facto.

De facto ist Europa aber zu einem geschundenen Wort geworden, zu einem Synonym für Krise, und es gibt so viele Krisen, die alle mit Europa eingeleitet werden. Europa ist ein Krisenkontinent, jedenfalls wenn man den gängigen Beschreibungen folgt, den Aussagen von Politikern und Publizisten. Um auch Heribert Prantl zu zitieren – so oder so ähnlich empfinden es aber auch Millionen von Menschen in Europa –: „Viel Tris­tesse, wenig Begeisterung.“ Aber bei aller Kritik an Europa: Die meisten Menschen wollen dieses Europa – davon bin ich überzeugt –, aber sie wollen ein anderes; sozial, solidarisch, human, aber vor allem bürgernahe.

Wie eine andere, eine bürgernahe EU aussehen könnte, das ist auch Thema dieser Enquete des Bundesrates, und daher, Herr Präsident: vielen herzlichen Dank für deine Initiative!

Ich habe als Vorsitzender der österreichischen Landtagspräsidentenkonferenz auch die deutschen Kollegen und den Kollegen des Südtiroler Landtags sowie des deutsch­sprachigen Parlaments in Belgien zu einer gemeinsamen Arbeitssitzung nach Brüssel eingeladen, und wir werden dort unsere Positionen zum Weißbuch zur Zukunft der Euro­päischen Union diskutieren und auch unsere Positionen einbringen. Dies ist letztlich das Ergebnis eines sehr intensiven Prozesses, den wir als Landesparlamente in den letzten Jahren initiiert und angestoßen haben.

Die Landesparlamente haben sich regelmäßig mit den Fragestellungen rund um Einflussnahmen und um die Verbesserung der Rechtsetzungsakte auf europäischer Ebene beschäftigt. Aus dieser Diskussion sind Vorschläge und Anregungen entstan­den, die nunmehr auch das entsprechende Gehör finden, und wir können recht selbst­be­wusst sagen, dass auch die Europäische Kommission den Mehrwert des stetigen Prozesses des Dialoges mit den Landesparlamenten zu schätzen weiß. Wir haben jedenfalls die Einladung, über die Zukunft der Union nachzudenken und Vorschläge zu entwickeln, angenommen und werden uns einbringen.

In welche Richtung sich die Europäische Union aus Sicht der Länder und Regionen und damit auch aus dem Blickwinkel der Bürgernähe entwickeln soll, kann in einem Satz zusammengefasst werden: die strikte Wahrung eines lebendigen Subsidiaritäts­prinzips. Oft sehr schnell dahingesagt, wird die eigentliche Bedeutung des Subsidiari­täts­gedankens übertüncht und das eine oder andere Mal auch unscharf gelebt oder gar ignoriert.

Subsidiarität bedeutet, dass darauf Bedacht zu nehmen ist, das Regelungen auf europäischer Ebene erst dann geschaffen werden, wenn durch sie ein substanzieller Mehrwert für Europa insgesamt, aber auch für die Mitgliedstaaten, für die Regionen und für die Bürgerinnen und Bürger zu erwarten ist. Dabei soll sich die Europäische Union auf jene Regelungsbereiche beschränken, die die Mitgliedstaaten beziehungs­weise die Regionen nicht oder nicht annähernd ähnlich gut lösen können. Und – um den Subsidiaritätsgedanken zu Ende zu denken –, was oft vergessen wird: Bestehen Zweifel darüber, auf welcher Ebene eine Regelung anzusiedeln ist, dann ist der föderalen beziehungsweise der subsidiären Kompetenz der Vorzug zu geben.

„In necessariis unitas, in dubiis libertas“, wie es in einem alten geflügelten Wort heißt – im Notwendigen die Einheit, im Zweifel die Freiheit. Worin bestehen die Notwen­digkeiten, in denen es ein gemeinsames starkes europäisches Handeln braucht? – Das wurde schon angesprochen: in der Außen- und Sicherheitspolitik, einem wirksamen Außengrenzschutz, auch in einer gemeinsamen Steuerung der Migrationsströme und vielem anderen mehr. Gleichzeitig muss die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten beziehungsweise das dauerhafte Bestehen der vier Grundfreiheiten in einem einheitlichen Währungs- und Wirtschaftsraum Ziel und Maßstab bleiben. Schieflagen müssen korrigiert werden, Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit dürfen nicht zu Sozialdumping führen, weder im Herkunftsland noch im Zielland. Daher ist die soziale Dimension Europas und die gleichzeitige Wahrung der nationalen und vor allem der regionalen Zuständigkeiten ein wichtiges Handlungsfeld europäischer Politik.

Über die großen Fragen, wie sich die Regionen das künftige Europa vorstellen, hinaus gibt es aber auch ganz konkrete Forderungen im Hinblick auf den parlamentarischen Rechtsetzungsprozess, der sich im europäischen Mehrebenensystem sukzessive manifestiert und in der Praxis gelebt wird.

Erstens sehen die Landtage die zunehmenden delegierten Rechtsakte seitens der Kommission als Problem an, weil damit eine Beschneidung der Mitgestaltungs­mög­lichkeiten der Regionen, aber auch der Nationalstaaten im Rechtsetzungsprozess mit der Europäischen Union verbunden ist.

Zweitens sollten Richtlinien der Kommission als Möglichkeit und Beitrag zur Deregu­lierung verstanden werden, die Wahl der Mittel aber stärker den Mitgliedstaaten und den Regionen überlassen werden.

Drittens wiederholen wir natürlich die Forderung, die Frist für die Subsidiaritätsprüfung von derzeit acht auf zwölf Wochen zu verlängern.

Viertens sollten Rechtsetzungsvorschläge überhaupt hinfällig werden, wenn eine Mehrheit der Parlamente eine Subsidiaritätsrüge erhebt.

Und fünftens sollten die Kommissionspapiere, die jährlichen Berichte über die Anwen­dung des Subsidiaritätsprinzips und der Verhältnismäßigkeit auch die Stellungnahmen der Landesparlamente oder der Länder ausdrücklich anführen – aus Gründen der Nachvollziehbarkeit für Dritte, aber auch als Botschaft nach außen, dass dieses Mehrebenensystem in der Praxis funktioniert.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nicht nur Landwirte wissen: Ein Wald, ein Garten wächst nicht von oben, er wächst von unten; die Pflanzen sprießen aus dem Boden. Man muss also, wenn man Europa sagt und Europa denkt, Europa durch die Regionen verstehen, und deshalb ist die Frage der Finanzierung der Regionen eine essenziell wichtige, deshalb ist Regionalpolitik und Kohäsionspolitik, wie vom Präsi­denten Lambertz schon angesprochen, von Bedeutung für Europa, und deshalb kommt es auch bei der Festlegung zukünftiger mittelfristiger Finanzperspektiven der Europä­ischen Union sehr darauf an, dass man die Förderkulisse nicht aus übertriebenem Sparwillen zerstört.

Es gibt Befindlichkeiten, die sehr unterschiedlich sind, Süden ist nicht Norden, und Westen ist nicht Osten, und deshalb ist der feine Umgang mit den regionalen Spezifika existenziell notwendig, damit man das Europäische nicht an der falschen Stelle übertreibt und das Richtige nicht an der falschen Stelle hinterlässt, wie es Jean-Claude Juncker einmal treffend formulierte; er war damals noch nicht Kommissionspräsident.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im 12. Jahrhundert hatte der Mönch Gratian den Auftrag, den in der Kirche anwachsenden Rechtsstoff zu vereinen und zu ordnen. Er hat dieses tausendjährige Material zusammengetragen, das ob seiner Herkunft sehr heterogen war; er hat es zu einer Synthese geführt, zu einer Harmonie – Concordia Discordantium Canonum, also die ausgleichende Zusammenstellung des Wider­sprüch­lichen.

Concordia Discordantium: Wir sollten an diesem Titel, weil er so europäisch ist, weil er uns sagt, wie Europa gebaut werden muss, Anleihe nehmen. Das Fundament dieses europäischen Hauses steht nicht auf den Trümmern von Nationalstaaten und ihren Rechtsordnungen. Wer die einzelnen Staaten zertrümmern will, um darauf Europa zu bauen, wer Verfassungen zerreißen will, um an einer anderen Stelle eine neue, eine gemeinsame Verfassung zu schreiben, der hat von Europa wenig verstanden.

Europa zerschlägt nichts, Europa zerreißt nichts; Europa fügt zusammen, und diesen Weg wollen wir gemeinsam gehen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)

10.56


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Präsident Ing. Penz.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Landtagspräsident Illedits. – Bitte, Herr Prä­sident.

 


10.56.58

Präsident des Burgenländischen Landtags Christian Illedits|: Sehr geehrter Herr Kommissar! Meine Herren Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst recht herzlichen Dank an die Damen und Herren des Bundesrates mit dem Herrn Präsidenten an der Spitze für diese Enquete über die Zukunft der Europäischen Union. Als Präsident eines Landesparlaments und Mitglied des Europäischen Ausschusses der Regionen darf ich diese Initiative nicht nur unterstützen, sondern ich begrüße sie ausdrücklich, weil sie nämlich einer regionalen Perspektive auf die supranationalen Entwicklungen eine nationale Plattform bietet.

Dieser vernetzte Austausch, denke ich, ist sehr wichtig, weil eine erfolgreiche Euro­päische Union – und Präsident Penz hat es schon erwähnt – als Bottom-up-Prozess aus ihren kleinsten Einheiten erwachsen muss. Nur wenn sie in den Köpfen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger stattfindet und sich flächendeckend in unseren Städten und Regionen wiederfindet, fußt sie auf einer stabilen Basis. Die Manifestation der EU in den europäischen Städten und Regionen vollzieht sich nicht zuletzt durch die EU-Rechtsvorschriften, die zu 70 Prozent direkte Auswirkungen auf die lokale und regionale Ebene haben.

„Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet“, so lautet der Leitspruch des Informatikers Alan Kay, eines Pioniers auf dem Gebiet der Pro­grammierung. Diese Maxime muss das Motto der Länder und der Regionen sein, wenn es um die Neuausrichtung der EU geht.

Im Rahmen seiner Präsentation des Weißbuchs hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verschiedene Zukunftsszenarien gezeichnet, und ich denke, es ist nun an uns, uns nicht einfach für jenes Szenario auszusprechen, welches uns am praktik­abelsten, am geeignetsten oder gar am wenigsten ungeeignet erscheint. Vielmehr ist es das Gebot der Stunde, eine Zukunft zu programmieren, die die Länder als Basis der EU stärkt.

Die Debatte, die heute hier im Bundesrat einmal mehr fortgeführt wird, ist eine Chance. Wir als Vertreter der Länder und Städte sind in der Pflicht, uns in der Gegenwart für die Zukunft einzusetzen – für stabile und in jeder Hinsicht sichere Länder und sichere Städte. Und Stabilität, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist meiner Meinung nach die wichtigste Existenzberechtigung der Europäischen Union.

In vielen Punkten stimme ich mit Kommissionspräsident Juncker überein, allen voran darin, dass es an der Zeit ist, ein neues europäisches Kapitel aufzuschlagen. Ein Sze­nario Junckers möchte ich jedoch einer kritischen Betrachtung unterziehen. Die Maxi­me dieses Szenarios lautet: Weniger, aber effizienter handeln. Die EU-27 konzen­trieren sich dabei darauf, in ausgewählten Politikbereichen rascher mehr Ergebnisse zu erzielen, unternehmen in anderen Bereichen aber weniger.

Diese Maxime droht aus Sicht der regionalen Gebietskörperschaften negative Kon­sequenzen nach sich zu ziehen. Durch die Konzentration auf spezifische Bereiche wie die Wirtschaft oder die Grenzsicherung könnte mitunter die Regionalpolitik aus dem Fokus geraten. Dies hätte, wie schon angesprochen, fatale Auswirkungen auf die Zukunft der Kohäsionspolitik, auf die entsprechenden Finanzierungsmodelle und damit langfristig auch auf die Angleichung der innereuropäischen Entwicklungsunterschiede.

Sehr geehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir, ein Beispiel für eine derartige Schieflage aus meinem Heimatbundesland zu erläutern! Die aktuellen Arbeitsmarkt­probleme, das Lohn- und Sozialdumping an der Wohlstandskante zu unseren östlichen Nachbarländern sind Folgen der ausbleibenden Lohnniveauangleichung in Europa. Schwächt man die Regionalpolitik, so entzieht man jenen Staaten, die im europäischen Wirtschaftsvergleich ohnehin schlechter abschneiden, die Entwicklungshilfe. Wie die Zunahme an Entsendungen und Scheinselbstständigkeiten an der burgenländischen Grenze zeigt, hätte dies nicht nur für das Burgenland und für Österreich, sondern für die gesamte Europäische Union Folgen.

Um die Regionalpolitik aber auch für die Zukunft abzusichern, sprechen sich die öster­reichischen Bundesländer gemeinsam für eine Stärkung der Kohäsionspolitik aus, und diese Kohäsionspolitik muss angesichts ihrer grundlegenden Funktion zur Stärkung des Zusammenspiels unterschiedlich entwickelter Regionen fortgeführt werden.

Selbstverständlich gilt es auch künftig vorrangig, schlechter entwickelte Regionen zu unterstützen, gleichzeitig darf aber nicht riskiert werden, besser entwickelte Regionen mit massiven Budgetkürzungen zu konfrontieren. Immerhin haben sich die Rahmen­bedingungen geändert. Die Regionen stehen vor neuen Herausforderungen wie Digita­lisie­rung, Klimawandel, Migration oder der immer rasanteren und dynamischeren Globalisierung. Besonders zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang gut entwickelte Regionen, die an deutlich weniger gut entwickelte Regionen angrenzen.

Die Länder sprechen sich auch für eine europäische Sozialpolitik aus. Ich habe vorhin das Problem des burgenländischen Arbeitsmarktes an der Wohlstandskante skizziert, und vor diesem Hintergrund begrüße ich die Absicht der Kommission, eine europä­ische Arbeitsmarktbehörde einzurichten.

Die EU kann als Gesamtsystem nur funktionieren, wenn sie auch im Kleinen funk­tioniert, das soll heißen, regionale Probleme brauchen regionale Lösungen. EU-Gesetze müssen grundsätzlich für alle Mitgliedstaaten bindend sein. Da die Wohl­stands­niveaus der EU-Staaten jedoch noch immer weit von einem Ausgleich entfernt sind, bestehen Schieflagen, und allgemeingültige Beschlüsse können diese verstärken und dadurch zum Vor- beziehungsweise Nachteil einzelner Staaten beziehungsweise Regionen gereichen. Daher braucht es eine Aufsichtsbehörde, welche daraus resultie­rende Symptome wie etwa Lohn- und Sozialdumping zwischen den Staaten klar nach­voll­ziehbar, aber auch sanktionierbar macht.

Das Prinzip des Rosinenpickens, das einzelne Mitgliedstaaten in diesem Zusammen­hang praktizieren, hat negative Auswirkungen auf die Stimmung der Menschen in jenen Nationalstaaten, zu deren Lasten dies geht, und diese Stimmung in den Regio­nen betrachte ich immer als Barometer der Fairness. In den Mittelpunkt des Diskurses über die Neuausrichtung der EU müssen wir daher die Gerechtigkeit stellen. Auch wenn deren Gewährleistung mit Kontrolle einhergeht, wie auch Präsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union angedeutet hat, muss in einer fairen und gerechten Union die soziale Säule gestärkt werden.

Bei all diesen Maßnahmen gilt es, die mitgliedstaatlichen und regionalen Kompetenzen zu achten. Direktdemokratische Elemente müssen mit Augenmaß angewandt werden. Bestrebungen, mehr direktdemokratische Elemente verfassungsrechtlich zu verankern, muss unser Europa der Regionen mit einer funktionalen Symbiose begegnen, einer Symbiose aus – erstens – Vertrauen auf Österreich, auf die Europäische Union als institutionelle Demokratie, und – zweitens – dem Respekt vor zentralen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger.

Einleitend habe ich die Notwendigkeit, ein neues europäisches Kapitel aufzuschlagen, zitiert. Auch wenn die Seiten dieses Kapitels noch weitgehend unbeschrieben sind, lassen Sie mich den ersten Leitsatz formulieren: Die institutionellen Rechte der Regionen mit Gesetzgebungskompetenzen müssen im Gefüge der Europäischen Union gewahrt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Zukunftsszenarien der Kommission sind ein fruchtbarer Boden für die Weiterentwicklung des Diskurses über die Zukunft un­serer Union, aber sie sind keineswegs in Stein gemeißelt. Wir werden unseren Beitrag leisten, damit die Stimmen der Städte und Regionen im Neugestaltungsprozess un­miss­­verständlich hörbar werden. Formate wie das gegenständliche sind wichtige Foren zur Produktion von Inhalten, um dieses neue europäische Kapitel gemeinsam zu füllen, damit wir unser Ziel eines vereinten, sozialen und friedlichen Europas auch gemeinsam erreichen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)

11.06


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Landtagspräsident Illedits.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Landtagspräsident Kommerzialrat Sigl. – Bitte, Herr Präsident.

 


11.06.25

Präsident des Oberösterreichischen Landtags Kommerzialrat Viktor Sigl|: Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident Edgar Mayer! Geschätzter Herr Kommissar! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch Oberöster­reich begrüßt diesen Diskussionsprozess, der heute vom Bundesrat gestartet wird, ausdrücklich. Ich bin absolut überzeugt, dass die Europäische Kommission durch die Vorlage des Weißbuches zur Zukunft Europas einen wichtigen Weg einleitet.

Wir befürworten ausdrücklich die zahlreichen, teils grenzüberschreitenden Bestre­bun­gen, die es auf der Ebene der Landtage, der Ämter der Landesregierungen oder hier im Bundesrat gibt, um den Regionen eine Stimme in diesem wichtigen Prozess der Orientierung, ich möchte durchaus auch sagen, der Selbstfindung Europas zu geben.

Oberösterreich ist, was Europaangelegenheiten anlangt, seit jeher eine sehr aktive Region. Daher ist die Zukunft der Union für uns sehr, sehr bedeutend; so bedeutend, dass sich der Oberösterreichische Landtag dazu entschlossen hat, eine eigene Posi­tion zum Weißbuch zu formulieren. In der Sitzung der Oberösterreichischen Landes­regierung vom 9. Oktober 2017 sowie im Ausschuss für Wirtschaft und EU-Angele­genheiten – die Vorsitzende, Frau Abgeordnete Gabi Lackner-Strauss, ist heute hier auch anwesend – vom 19. Oktober 2017 wurde unser Standpunkt bereits be­schlossen.

Wir haben übermorgen Plenarsitzung, und ich gehe davon aus, dass, da dieser Tagesordnungspunkt auf der Agenda steht, er ebenfalls positiv verabschiedet werden wird, und ich nehme an, einstimmig, was in Zeiten wie diesen, gerade beim Thema Europa, nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist, wie wir wissen.

In dieser Position äußern wir uns zu strukturellen Fragen der EU und formulieren generelle Forderungen für die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit der verschie­denen europäischen, nationalen und regionalen Ebenen. Aussagen zu konkreten Politikbereichen vermeiden wir bewusst, da wir der Überzeugung sind, dass zuvor eine Einigung über den formellen Zugang für ein erneuertes Europa erfolgen muss.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die fünf von der Euro­päischen Kommission im Weißbuch dargelegten Szenarien müssen meiner Meinung nach sehr differenziert beurteilt werden. Eine eindeutige Festlegung auf nur ein Modell ist aus unserer Sicht weder möglich noch sinnvoll. Es ist für den laufenden Nachdenk­prozess, für die Zukunft Europas vielmehr zielführender, bestimmte Orientierungs­punkte zu formulieren, an diesen sich das zukünftige Handeln der Union orientieren soll.

Diese Orientierungspunkte führen zur Einsicht, dass die Lösung weder in einem „weiter wie bisher“ noch in einem „viel mehr gemeinsames Handeln“ liegen kann. Beides würde die Stimmungslage in der Bevölkerung sowie die gerechtfertigten Bedürfnisse der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen ignorieren.

Will man die Einigkeit der Mitgliedstaaten und damit eine Union erhalten, die diesen Namen auch verdient, muss man sich bewusst machen, dass ein „Wer mehr will, tut mehr“ wiederum die Gefahr einer Entsolidarisierung und einer Zersplitterung in ver­schiedene Richtungen und Intensitäten birgt.

Eine Rückführung der Union auf einen Schwerpunkt Binnenmarkt und eine aus­schließliche Orientierung auf wirtschaftliche Themen würden meiner Meinung nach dazu führen, dass die EU auf neue Herausforderungen nicht entsprechend reagieren kann, auch in solchen Bereichen, in denen ein unionsweites Handeln jedenfalls sinnvoll und erforderlich wäre. Beispiele, die man hierzu anführen könnte, gibt es gerade in der letzten Zeit genügend.

Die Formel „weniger, aber effizienter“ greift wiederum zu kurz, da eine solche Auf­gabenkonzentration nicht zwingend bedeuten muss, dass die Union weniger Hand­lungsmöglichkeiten bekommt. Eine effizientere EU kann in manchen Bereichen auch mehr Kompetenzen benötigen, in anderen dafür weniger.

Ich bin der Überzeugung, dass die Lösung der Zukunftsfrage der EU letztlich nur in einer Differenzierung liegen kann, in einer konsequenten Abwägung, wo mehr und wo weniger Tätigkeiten der Union erfolgen sollen. Diese Differenzierung ist gerade das Wesensmerkmal eines Grundsatzes, welchen sich die EU selbst zu einem primär­rechtlichen Prinzip gemacht hat: des Subsidiaritätsprinzips. Dieses Prinzip, wonach die Union nur dort tätig wird, wo die angestrebten Ziele nicht durch Maßnahmen der Mit­glied­staaten oder ihrer Regionen besser erreicht werden können, ist der zentrale Schlüssel für das Zusammenwirken der Europäischen Union, ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Regionen. Nur ein solch differenzierender Ansatz ist meiner Meinung nach in der Lage, die Interessen aller politischen Ebenen zu vereinen und gleichzeitig der Bevöl­kerung den Nutzen einer unionsweiten Regelung zu verdeutlichen.

Kommissar Hahn hat das Beispiel Horizon 2020 kurz angesprochen. Dieser Schwer­punkt ist deswegen für ganz Europa wichtig, weil uns damit möglich werden soll, auch den transkontinentalen Wettbewerb für Europa zu gestalten. Er wird aber nur dann aufgehen, wenn es uns gelingt, in den regionalen Strukturen die Umsetzung dieses Schwerpunktes zustande zu bringen. Nur dadurch wird es möglich sein, dass von Innovationen auch entsprechende Prozesse in Richtung Business gestaltet werden können. Das sei nur am Rande erwähnt, das ist ein wesentliches Beispiel, woran man sieht, dass Subsidiarität eine unheimlich wichtige Klammer und Formel ist.

Wir schlagen deshalb vor, das Subsidiaritätsprinzip in den Mittelpunkt eines Zukunfts­szenarios der Europäischen Union zu stellen und die sachliche, gerechte und nach­vollziehbare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den europäischen, den natio­nalen und den regionalen Ebenen zum Ausgangspunkt der zukünftigen Gestal­tung der Union zu machen. Wir sind überzeugt, dass das der richtige und nachhaltige Weg für eine gedeihliche Zukunft ist.

Diese Differenzierung der einzelnen Politikbereiche anhand des Subsidiaritätsprinzips muss durch die Mitgliedstaaten erfolgen, sie sind es, die als „Herren der Verträge“ über die Zuordnung der Themen zu den verschiedenen Kompetenzbereichen entscheiden. Voraussetzung dafür, dass eine solche Multi-Level Governance tatsächlich gelebte europäische Realität wird, ist jedoch die Sicherstellung, dass das Subsidiaritätsprinzip tatsächlich eingehalten und kontrolliert wird.

In Oberösterreich versuchen wir seit nunmehr drei Jahren durch ein eigenes Subsi­diaritätsprüfungssystem unseren Beitrag zu leisten, dass die Stimme der Regionen im europäischen Rechtsetzungssystem besser vertreten ist. Es ist für unsere Abgeord­neten ein zentrales Mittel, um konkrete oberösterreichische Interessen im Rahmen der EU-Politik zu identifizieren und zu kommunizieren. Damit sind wir zu einem frühen Zeitpunkt in den Meinungsbildungsprozess zu EU-Vorhaben eingebunden, und zum anderen ermöglicht es uns, dass wir uns frühzeitig mit europäischen Themen beschäf­tigen, Themen, die unser Parlament mitunter Jahre später in Form von zwingenden Richtlinienumsetzungen wieder beschäftigen.

Gegenstand der oberösterreichischen Prüfungen ist ein streng formaler Ansatz, nämlich die Frage: Hält die Union bei ihren Rechtsetzungsvorhaben das Prinzip der Subsidiarität ein? Inhaltliche, quasi politische Positionen werden in unseren Stellung­nahmen tunlichst vermieden. Deshalb werden fast alle Prüfungsergebnisse im EU-Aus­schuss einstimmig beschlossen.

In der Praxis zeichnet sich dieses Prüfungssystem durch eine Konzentration auf The­men und Positionen aus. In einer Sitzung des EU-Ausschusses zu Jahresbeginn legt dieser eine Prüfungsliste mit fünf bis sieben zu prüfenden Dossiers fest. Nach der Veröffentlichung eines ausgewählten EU-Rechtsvorschlages erstellt die Landtagsdirek­tion in Zusammenarbeit mit den Subsidiaritätsverantwortlichen der zuständigen Fach­abteilung einen Stellungnahmeentwurf, der anschließend im EU-Ausschuss behandelt und beschlossen wird. Aufgrund der engen zeitlichen Vorgaben erfolgt die Zusam­menarbeit formlos und größtenteils auch auf kurzem Weg.

Die beschlossenen Stellungnahmen übermitteln wir sowohl dem Bundesrat als auch den anderen Landtagen in Österreich und Deutschland. Die gleichzeitig erfolgende Übermittlung an alle Ämter der Landesregierungen verfolgt den Zweck, unter Um­ständen einheitliche beziehungsweise gemeinsame Länderstellungnahmen zu beein­flus­sen.

Auch wenn all dies in der Gesamtbetrachtung natürlich nur einen kleinen Beitrag zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips leisten kann, so bin ich davon überzeugt, dass jede regionale, jede nationale Stimme wichtig ist, um sich im Gefüge der verschie­denen parlamentarischen Ebenen und der Regions- beziehungsweise Regierungsebe­nen Europas zu behaupten. Die stattfindende Vernetzung über Staatsgrenzen hinweg wird der Durchsetzung dieses zentralen Grundsatzes zweifelsohne weiteren Vorschub leisten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Subsidiarität ist zwar ein sperriges Wort, das Außenstehenden nicht immer leicht zu vermitteln und zu erklären ist, Subsidiarität ist aber nach meiner Überzeugung das einzige Mittel, das in der Lage ist, die Union und ihre Mitgliedstaaten und Regionen zusammenzuhalten. Subsidiarität ist das Bindemittel in einer Union, die Gefahr läuft, brüchig zu werden. Arbeiten wir mit diesem Subsi­diaritätsprinzip aktiv dagegen an! – Danke schön. (Beifall.)

11.16

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, lieber Präsident Kommerzialrat Viktor Sigl.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Landtagspräsident Mag. Sonderegger aus Vorarlberg. – Bitte, Herr Präsident.

11.17.01

 


Präsident des Vorarlberger Landtags Mag. Harald Sonderegger|: Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, lieber Edgar! Geschätzte Mitglieder des Bundesrates! Sehr geehrter Herr Kommissar! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Als Sechster in der Reihe ist es nicht immer ganz einfach, schon Aus­gesprochenes nicht noch einmal zu erwähnen. Ich bitte deshalb da oder dort um Verständnis für meine Ausführungen, ich werde mich trotzdem bemühen, in der gebotenen Kürze und vorgegebenen Zeit fertig zu werden.

Vorneweg darf ich aber auch noch einmal dem Präsidenten der Länderkammer, dir, lieber Edgar, ganz herzlich dafür danken, dass sich der Bundesrat des von der EU-Kommission im Frühjahr dieses Jahres vorgelegten Weißbuches zur Zukunft Europas angenommen und die Abhaltung dieser heutigen Enquete beschlossen hat.

Erlauben Sie mir, dass ich, wie meine Vorredner, ein paar allgemeine Bemerkungen zum Weißbuch und zum Weißbuchprozess aus der Sicht der Länder und Landtage, primär natürlich aus Vorarlberger Sicht, mache und damit auch manches verstärke, das meine Vorredner, meine geschätzten Präsidentenkollegen, vielleicht in ähnlicher Weise oder Betonung bereits gesagt haben.

Unzweifelhaft steht fest, dass alle österreichischen Länder, wohl in unterschiedlicher Weise und Intensität, aber doch, seit dem EU-Beitritt Österreichs 1995 von der Mit­gliedschaft in der Europäischen Union profitiert haben.

Wir in Vorarlberg konnten in der wirtschaftlich starken Region, in der wir geografisch eingebettet sind, vor allem wirtschaftlich noch stärker werden. Wir haben, wie andere Länder auch, von Förder- und Entwicklungsprogrammen, von der einheitlichen Wäh­rung, aber vor allem von den offenen Grenzen, sei es im Tourismus, aber auch in der Exportwirtschaft, profitiert. Den höchsten Mehrwert an der Europäischen Union sehen wir aber nach wie vor im Friedensprojekt Europa, das Zusammenhalt, Solidarität und Sicherheit für uns alle gebracht, ja nahezu garantiert hat. Die EU war auch immer Garant für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Werte, die wir alle wollen und schätzen, die aber keineswegs unverletzlich sind.

Sie haben sich jetzt vielleicht gewundert, weshalb ich die Vergangenheitsformen ver­wendet habe. Aber in jüngerer Vergangenheit sind Ereignisse – die Griechenland-Thematik, der Brexit, die Verteilproblematik bei den Asylsuchenden, Wahlergebnisse in den unterschiedlichen Mitgliedsländern und so weiter – und Stimmungen in Europa zutage getreten, die genau an diesen Grundfesten rütteln, die die EU als Ganzes oder in Teilen infrage stellen und – zumindest als Worst-Case-Szenario – ein mögliches Auseinanderbrechen der Union als nicht mehr völlig ausgeschlossen erscheinen lassen.

Umso wichtiger war es, denke ich, dass seitens der Kommission dieser Neuaus­richtungsprozess in der Gestalt des Weißbuches eingeläutet worden ist, und dafür möchte ich an dieser Stelle auch der Kommission sehr herzlich danken. Dieser Pro­zess ist mutig und kommt – wohl nicht zufällig – gerade zur rechten Zeit. Es ist nämlich Zeit, dass wir in Europa über die, über unsere, unser aller Zukunft reden. 60 Jahre nach den Römischen Verträgen soll und muss so manches in der EU sozusagen im Sinne einer altersbedingten Revision nachjustiert werden, wenn wir all die Dinge, die uns wichtig sind, bewahren wollen.

Gut am Weißbuch und am derzeit laufenden Prozess ist meines Erachtens vor allem, dass die Reformnotwendigkeit und der Plan, diese in einem breit angelegten Reform­prozess zu diskutieren, von der EU-Kommission, also aus dem Inneren der EU heraus, initiiert wurde, bevor ein nicht mehr steuerbarer Erneuerungsdruck von anderer Seite, allenfalls auch von mehreren Seiten, in nicht mehr kanalisierbare unterschiedliche Richtungen seinen Anfang und seinen Lauf genommen hätte. – Aber genug der Zurückschau.

Ich denke, wir dürfen, ja wir müssen unser aller Kraft in die Zukunft der Europäischen Union stecken, weil es um unsere Zukunft und auch um die unserer Kinder geht. Es geht um unsere Werte, um unsere Kultur, unsere Wirtschaft auch in der globalisierten Rolle, wie schon sehr treffend heute ausgeführt wurde, und es geht um unsere Stellung in der Welt.

Wir Länder stehen zur Europäischen Union. Wir wollen Teil der Europäischen Union, aber vielleicht nicht in allen Nuancen dieser Europäischen Union, wie wir sie heute vorfinden und sehen, sein. Diese EU braucht nämlich, wie schon erwähnt, einen Revisions- oder Modernisierungsprozess. Sie muss unmittelbarer, sie muss klarer und sie muss, wie heute schon oft angesprochen, subsidiärer werden, ohne die Grundideen und Grundfreiheiten der Wirtschafts- und Währungsunion infrage zu stellen oder aufzugeben. Die Handlungsfähigkeit der EU muss verbessert werden, und das Vertrauen der BürgerInnen in die Gestaltungskraft der EU muss mit den ent­sprechen­den Reformen hergestellt werden, sonst wird die Entfremdung der Bürge­rin­nen und Bürger, wie sie vielfach festgestellt wird und es heute ebenfalls schon ausgeführt wurde, von Europa größer.

Das Weißbuch enthält die bekannten fünf Szenarien, die sich weder gegenseitig aus­schließen noch erschöpfend sind. Wie meine Kollegen bereits ausgeführt haben, besteht seitens der Länder keine eindeutige Präferenz für ein bestimmtes Szenario, wie das wohl auch für den Bund zutreffen dürfte. Was ich aber aus Vorarlberg, aus meiner Sicht sagen kann, ist, dass ich mir ein Szenario für das Miteinander in der Europäischen Union wünsche, das man vielleicht unter dem Schlagwort „das Richtige effizienter tun“ zusammenfassen könnte. Dabei ist es mir ganz wichtig, darauf hinzu­weisen, dass effizienter nicht immer mehr bedeutet, dass Effizienz auch mit klaren Zuständigkeiten verbunden ist und die Königsaufgabe in diesem Prozess, wenn Sie so wollen, eben darin liegt, dass zu beantworten sein wird, in welchen Politikfeldern ein Mehr oder ein Weniger an EU richtig sein wird. Letzteres, da darf man sich nichts vor­machen, ist eine sehr herausfordernde Aufgabe, sind die Interessenlagen in den einzelnen Mitgliedsländern und auch in den Regionen doch sehr unterschiedlich.

Da komme ich auf einen, wenn Sie so wollen, vielleicht auch selbstkritischen Punkt zu sprechen, einen Punkt, bei dem wir uns als politische Verantwortungsträger in ganz Europa und in allen Regionen auch angesprochen fühlen müssen: Die Erneuerung beziehungsweise die Weiterentwicklung der Europäischen Union wird nicht gelingen, wenn wir einzelne nationale Interessen in den Vordergrund stellen und nur aus einer kurzfristigen Beurteilung heraus Entscheidungen treffen, die vielleicht keine mutigen Entscheidungen sind und keine echten Reformen mit sich bringen, sondern vielleicht wieder nur als kosmetisch empfundene Reförmchen betrachtet werden können, die keine für die Bürger nachvollziehbaren Antworten auf die Fragen und Nöte der Men­schen und ihres Wohlergehens in Europa geben können.

Gelingen kann dieses „Vorhaben Weißbuch“ nur, wenn wir uns zumindest darauf verständigen können, uns ehrlich auf diesen inhaltlichen Prozess einzulassen, dabei den Subsidiaritätsgedanken in den Vordergrund stellen und manches nationale Inter­esse, manche Wünsche im Kontext eines allfälligen Scheiterns und Auseinander­brechens der EU sehen. Diese Sichtweise wird es uns ermöglichen, gute Kompromisse zu finden, die nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegeln, sondern die ein Bild von Europa zeichnen, das nahe am Bürger ist.

Dieses Bild beinhaltet aber auch zwingend Politiker, die Europa nicht nur für das Schwierige, für das Ungelöste verantwortlich machen, sondern die die Fähigkeit besit­zen, Lösungen mit und in Europa zu suchen. Es braucht Verantwortungsträger in allen Mitgliedstaaten und in allen Regionen, die das gemeinsame Ganze in den jeweils vor Ort gefundenen Entscheidungen hervorheben und Wege aufzeichnen, die gut sind für jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns und damit für ganz Europa. Dafür brauchen wir starke Regionen, weil es nicht von oben herab verordnet werden kann, wie wir heute auch schon gehört haben, sondern auch von „unten“, von den regionalen und lokalen Politikverantwortlichen entsprechend mitgetragen werden muss.

In diesem Sinne lade ich Sie alle ein, meine Damen und Herren, den „Revisions­prozess Europa“ ehrlich und transparent, ambitioniert und solidarisch und nach aus­schließlich sachlichen Kriterien und Argumenten abzuarbeiten. Dann haben wir genü­gend zu tun vor uns. – Herzlichen Dank. (Beifall.)

11.27


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Herr Landtagspräsident Mag. Harald Sonderegger.

Bevor wir jetzt in die Diskussion einsteigen, darf ich mich im Namen des Bundesrates, aber auch persönlich sehr herzlich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit den Landtagen, mit den Landtagspräsidenten, aber auch mit der Landtagspräsiden­ten­konferenz bedanken. Ich denke, unsere Zusammenarbeit ist beispielgebend, nicht umsonst wurden wir vom AdR als Best-Practice-Beispiel auserwählt. – Vielen herz­lichen Dank dafür.

Da kann man auch applaudieren, wenn man möchte. – Danke schön. (Beifall.)

11.27.41Diskussion

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Wir gehen nun in die Diskussion ein. Bevor ich der ersten Rednerin das Wort erteile, weise ich darauf hin, dass die Redebeiträge die Dauer von 3 Minuten nicht überschreiten sollen, und ersuche gleichzeitig, diese Vor­gabe einzuhalten.

Als Erste zu Wort gemeldet ist Dr. Barbara Kappel, Mitglied des Europäischen Parlaments; die europäischen Parlamentarier sind es ja gewohnt, kurze Redezeiten zu haben. – Bitte.

 


11.28.09

Mitglied des Europäischen Parlaments Dr. Barbara Kappel (FPÖ)|: Das ist völlig richtig, 3 Minuten sind sehr großzügig, muss ich sagen.

Herr Präsident des Bundesrates! Herr Kommissar! Herr Präsident des Ausschusses der Regionen! Sehr geehrte Herren Landtagspräsidenten! Es ist eine tolle Initiative, die Sie, Herr Präsident, im Namen des österreichischen Bundesrates ins Leben gerufen haben, nämlich Konferenzen und die heutige Konferenz hier einzuberufen, über die Zukunft der EU zu diskutieren und das Prinzip der Subsidiarität hochzuhalten.

Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich als Österreicherin stolz bin, dass der öster­reichische Bundesrat als Best-Practice-Beispiel zum Thema Subsidiaritätsprüfung ausgewählt wurde. Gestern hat mir ein Kollege aus dem Wiener Landtag gesagt – die hatten eine Europasitzung –: Du, wir sind da wirklich gut! Ich sage: Ja, wir sind da wirklich gut. Österreich ist Best Practice, und wir sehen das auf der europäischen Ebene auch. Sie schicken uns das ja immer alles zu, und wir können die Unterlagen prüfen.

Das Subsidiaritätsprinzip – und die Subsidiaritätsprüfung – ist ein zentrales Prinzip, das die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union festigt und gleichzeitig die Funk­tionsfähigkeit der Europäischen Union festlegt. Es ist wirklich wichtig, dass der Bundesrat und auch der Ausschuss der Regionen und die verschiedenen Institutionen sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Es wird in den Konferenzen in Wien im Dezember und dann auch in Brüssel diskutiert, weil dort die Themen erarbeitet werden sollen, die tatsächlich für eine Weiterentwicklung der Europäischen Union von Bedeutung sind.

Auch das Europäische Parlament hat sich dazu bereits zusammengesetzt. Am 24. Oktober gab es eine Sitzung, in der auch ein Dokument erarbeitet wurde, nämlich ein Bericht darüber (besagten Bericht in die Höhe haltend), wie sich das Parlament ein Europa der Zukunft und eine europäische Vision der Zukunft vorstellt. Dazu haben Kommissionspräsident Juncker und auch Ratspräsident Tusk gesprochen. Es wurde gesagt, dass es Themen gibt, die die Europäische Union im Moment sehr beschäf­tigen, ob das die Migrationsthematik ist oder die Thematik der Terrorismus­bekämp­fung, ob das die Bewältigung der Finanzkrise ist, ob das die Bankenunion ist, ob das die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist, die Armutsbekämpfung – der Gipfel von Göteborg ist deshalb sehr wichtig, weil er sich nach 20 Jahren erstmals wieder mit Beschäftigung auseinandersetzt –, ob das der Klimawandel ist – die Konferenz COP 23 findet nächste Woche in Bonn statt – oder ob das der Brexit ist; auch Katalonien wurde heute mehrfach angesprochen.

Europa steht vor sehr großen Herausforderungen, und diese Herausforderungen können wir nur bewältigen, wenn wir alle gemeinsam Lösungsvorschläge erarbeiten. Dabei kommt dem Europäischen Parlament und insbesondere den Regionen und auch den Mitgliedstaaten eine enorme Bedeutung zu, und der Bundesrat wird, da bin ich sicher, die entsprechenden guten Vorschläge unterbreiten. (Beifall.)

11.30


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Frau Dr. Kappel.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr MMag. Christian Mandl von der Wirtschafts­kammer Österreich. – Bitte.

 


11.31.01

MMag. Christian Mandl (Wirtschaftskammer Österreich)|: Sehr geehrter Herr Bun­desratspräsident! Sehr geehrter Herr Kommissar Hahn! Sehr geehrter Herr Präsident Lambertz! Sehr geehrte Landtagspräsidenten und Mandatare! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich heute hier sein darf, und darf mich seitens der Wirtschaftskammer Österreich sehr herzlich beim Bundesrat für die aktive Einbindung auch der Wirtschaftskammer in die Subsidiaritätsprüfung bedanken.

Aus Sicht der Wirtschaftskammer Österreich sollte sich die EU auf Maßnahmen mit einem klaren europäischen Mehrwert konzentrieren, auch um Überregulierung zu ver­meiden. Deshalb unterstützen wir auch die von Kommissionspräsident Juncker ange­kündigte Einrichtung der Subsidiaritätstaskforce unter Vorsitz des Ersten Vizeprä­sidenten Timmermans. Wir sehen dies als Chance, das Subsidiaritätsprinzip mit echtem Leben zu erfüllen, und werden diesbezüglich auch gerne mit konkreten Vor­schlägen an den Bundesrat herantreten.

Diese Ausrichtung auf einen klaren europäischen Mehrwert soll sich auch im künftigen mehrjährigen Finanzrahmen widerspiegeln, mit dem Ziel, Wachstum und Investitionen anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Notwendig ist dabei, wie auch Kommissar Hahn gesagt hat, eine Anhebung der Mittel für das künftige EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation, um marktnahe, länderübergreifende Forschung, Entwick­lung und Innovation zu unterstützen. Österreich schneidet bisher überdurchschnittlich gut ab, auch die Unternehmensbeteiligung ist überdurchschnittlich hoch.

In der Kohäsionspolitik müssen die Themen Innovation, KMU und Wettbewerbs­fähig­keit im Vordergrund stehen, auch die reicheren Regionen sollen weiterhin unterstützt werden. Wichtig wäre jedoch eine Vereinfachung und Entbürokratisierung bei den Struktur­fonds. Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen und euro­päischen Wirtschaft ist auch der Ausbau leistungsfähiger IKT-Infrastrukturen durch europäische Programme bestmöglich zu unterstützen.

Der Europäische Sozialfonds (ESF) leistet eine wesentliche Unterstützung bei der Ausbildung und Integration auch von Flüchtlingen. Dies ist auch vor dem Hintergrund des bestehenden Fachkräftemangels von besonderer Bedeutung. Bei der Aufteilung der ESF-Mittel sollte jedenfalls die unterschiedliche Betroffenheit der Mitgliedstaaten durch die Flüchtlingsströme ausreichend berücksichtigt werden.

Sehr wichtig wäre auch ein Austausch von Best-Practice-Beispielen zwischen den EU-Mitgliedstaaten. So wurde zum Beispiel das Programm Mentoring für MigrantInnen der Wirtschaftskammer Österreich in Kooperation mit dem Österreichischen Integra­tions­fonds und dem AMS auf europäischer Ebene mehrfach als Vorzeigeprojekt zur ver­besserten Arbeitsmarktintegration von Personen mit Migrations- und Fluchthinter­grund hervorgehoben.

Und last, but not least: Die Förderung von Jugendbeschäftigung kann auch einen Beitrag zur Konvergenz leisten, sofern das Geld für Strukturreformen genutzt wird, zum Beispiel für die Anpassung der Bildungssysteme, und auch da ist Österreich mit dem dualen Ausbildungssystem ein Best-Practice-Beispiel.

Ich wünsche dem Bundesrat auch weiterhin viel Erfolg bei der Subsidiaritätsprüfung und bei den europäischen Themen. – Vielen Dank. (Beifall.)

11.34


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr MMag. Mandl, auch für die frommen Wünsche, die nehmen wir gerne entgegen.

Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Dr. Monika Vana vom Europäischen Parla­ment. – Bitte, Frau Kollegin.

11.34.46

 


Mitglied des Europäischen Parlaments Dr. Monika Vana (Grüne)|: Herr Präsident! Herr Kommissar! Meine Herren Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst ebenfalls natürlich dem Bundesrat meine Anerkennung für die heutige Enquete aussprechen. Ich denke, dieses Stärken auch der parlamentarischen Brücken zwischen der Europaebene und den Bundesländern, den Regionen, den Städten ist von eminenter Wichtigkeit, und es ist ja schon an verschiedener Stelle heute gesagt worden, dass der Schlüssel zur Zukunft Europas über mehr Europa einerseits, aber auch über ein anderes Europa läuft, über ein sozialeres Europa, aber insbesondere ein bürger- und bürgerinnennäheres Europa.

Ich bin Sprecherin meiner Fraktion im Regionalausschuss des Europäischen Parla­ments und darf deshalb auch gleich eine Art Gegeneinladung für den 22. November aussprechen, an dem der Regionalausschuss des Europäischen Parlaments eine Aus­sprache mit den nationalen Parlamenten abhalten wird, zur Zukunft der Kohäsions­politik und zur Zukunft des EU-Budgets, das weiterhin für europäische Regionalpolitik und Städtepolitik, auch für österreichische Städte und Regionen, besondere Bedeutung haben wird.

Es ist heute schon angesprochen worden, unter anderem von meinem Vorredner von der Wirtschaftskammer, und da gebe ich Ihnen auch vollkommen recht: Wir haben tief greifenden Reformbedarf auch bei den Strukturfonds. Sie müssen bürgerInnennäher werden, sie müssen transparenter werden, sie müssen unbürokratischer werden und leichter zugänglich. Das Wirrwarr von verschiedenen Programmen und Überschnei­dungen muss wirklich einer Reform unterzogen werden.

Insgesamt bin ich aber ein großer Fan der Kohäsionspolitik und auch der grenzüber­schreitenden Regionalpolitik in Europa, weil sie wirklich ein Instrument der Solidarität ist, ein Instrument zur Bekämpfung von Ungleichheiten zwischen Europas Regionen, zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit und zur Bekämpfung des Klimawan­dels – eine der vorrangigsten Aufgaben, die wir in den nächsten Jahren in der Euro­päischen Union haben, und ich hoffe auch, dass die österreichische Ratspräsident­schaft einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten wird.

Die Errungenschaften der Kohäsionspolitik, die wir gemeinsam mit den Städten, den Regionen, dem Europaparlament und auch den zivilgesellschaftlichen Organisationen erreicht haben, das sogenannte Partnerschaftsprinzip, nämlich dass Regionalpolitik nicht nur top-down beschlossen wird, sondern zusammen mit den lokalen Parlamenten einerseits und den Stakeholdern andererseits, mit den Akteuren, Akteurinnen, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft, diese Errungenschaften sind große, und für diese müssen wir hier gemeinsam kämpfen.

Ich anerkenne sehr und freue mich, dass es Unterstützung seitens der österreichi­schen Bundesländer gibt, die Kohäsionspolitik in Zukunft zu stärken und nicht zu schwächen, wie es zum Teil jetzt aktiv – leider, muss ich sagen; ich schaue da meinen Kollegen Hahn an – von der Europäischen Kommission aus betrieben wird, die ver­sucht, eine Transfermöglichkeit von den Kohäsionsfonds zum neu geschaffenen Juncker-Fonds zu schaffen. Das sehen wir doch sehr kritisch, auch die österreichi­schen Bundesländer sehen das sehr kritisch, auch der Rat sieht das sehr kritisch; wir sind ja derzeit in den sogenannten Trilogverhandlungen über dieses Thema. Ich denke doch, wir sollten gemeinsam dafür eintreten, dass die Kohäsionspolitik eine starke Zukunft hat. – Danke. (Beifall.)

11.38


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Frau Kollegin Vana.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Eduard Köck. – Bitte, Herr Bundes­rat.

11.38.19

 


Bundesrat Ing. Eduard Köck (ÖVP, Niederösterreich)|: Sehr geehrte Präsidenten! Sehr geehrter Herr Kommissar! Sehr geehrte Mandatarinnen, Mandatare, Mitwirkende und Gäste! Wir diskutieren hier die Entwicklung der EU aus Sicht der Länder und Regionen, und ich darf als Bürgermeister die Sicht der Gemeinden und der Bürger mit einbringen – das vor allem aus einigen Diskussionen, die ich in den letzten Tagen und Wochen wieder hatte, um auch herauszustreichen, wie die Bürger über die Euro­päische Union denken.

Es gibt sehr viel Zustimmung zur EU, sie gibt uns sehr viele Möglichkeiten; es gibt aber auch sehr viel Kritik, Kritik über die Wertigkeit der Themen. Wir sehen auf der einen Seite, dass die Europäische Union die Farbe der Pommes frites reglementieren will, eine Allergenverordnung machen will, Rauchverbot in Gasthäusern durchsetzen will – also große Kompetenz in kleinen Dingen. Auf der anderen Seite, gerade aktuell, sehen wir die Steuerflucht: Paradise Papers, die Steuerflucht von Privatpersonen, Panama Papers, das ist einige Monate her – es gibt keine Ergebnisse, es ist nichts passiert. Wir sehen die Steuerflucht von Konzernen, Gewinnverschleppung, wir wissen nicht, ob Internetkonzerne Umsatzsteuern zahlen oder nicht.

Es gibt die großen Finanzgeschäfte, und es wurde angedacht, eine Steuer auf Trans­aktionen zu machen, da uns diese Transaktionen vor fast zehn Jahren große Schwie­rig­keiten bereitet haben. Da sehen wir, dass das Agieren sehr langsam ist, dass in diesen großen Dingen die Kompetenz eher gering ist. Die Bürger erhoffen sich aber das Gegenteil.

Wir sehen auch verschiedene Geschwindigkeiten bei den Themen: Auf der einen Seite, als es darum ging, die Budgets der Länder in der Griechenlandkrise zu sichern, gab es beinahe im Monatstakt Kommissionstagungen; auf der anderen Seite gab es bei der Migrationskrise monatelang eine Schockstarre, und auch jetzt ist die Ge­schwindigkeit in den Handlungen nicht groß. – Die Bürger sehen das und auch, dass es da ein Umdenken geben muss, dass die EU die großen Dinge angehen und regeln und die kleinen Dinge den Ländern überlassen muss.

Bei den bereits angesprochenen Programmen – ich weiß nicht, wie viele es gibt, die solche Programme schon abgerechnet haben – muss es zu einer großen Entbürokra­tisierung kommen, denn wenn Sie einmal ein derartiges Programm eingereicht und abgerechnet haben, werden Sie es sich in Zukunft überlegen.

Ich glaube, das sind die Dinge, die die Bürger sehen und die angegangen werden müssen. Die Zustimmung zur EU wird dann größer werden, und dann können wir auch in eine gemeinsame gute Zukunft blicken. – Danke. (Beifall.)

11.41


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Kommissar Dr. Hahn. – Bitte, Herr Kommissar.

11.41.53

 


Dr. Johannes Hahn (Mitglied der Europäischen Kommission)|: Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident! Ich habe mich deswegen zwischendurch zu Wort gemeldet, da in weni­ger als einer Stunde mein Flieger geht. No risk, no fun, aber trotzdem möchte ich ihn erreichen.

Ein paar Bemerkungen nur: Erstens – sozusagen food for thinking –: Als ehemaliger Regionalkommissar habe ich größtes Verständnis für all die Bedenken und Sorgen und Nöte im Hinblick auf Bürokratisierung, Komplexität et cetera. Ich habe immer gesagt, der Hauptgrund dafür, dass ich noch einmal gerne Regionalkommissar geworden wäre – obwohl ich das, was ich jetzt mache, leidenschaftlich gern mache –, ist, dass ich eigenhändig einen neuen Entwurf für deregulations geschrieben hätte, da mir selbst das, was meine Beamten vorgelegt haben, schon zu kompliziert erschienen ist.

Ich sage aber euch allen: Am Ende des Tages gab es zu dem Entwurf, den wir von der Kommission vorgelegt haben, 73 politische Trilogsitzungen. Das heißt, 73 Mal sind Vertreter des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments mit der Kom­mission zusammengekommen und über diesem Gesetzentwurf gesessen, und es gab Hunderte von technischen Sitzungen auf Beamtenebene. Ich glaube nicht, dass es in einem Ausschuss des österreichischen Parlaments, des Bundesrates mehr als zwei oder drei Sitzungen über eine Gesetzesmaterie gibt; dazu hat es 73 Sitzungen gege­ben, und, ehrlich gesagt, diese 73 Sitzungen haben nicht dazu beigetragen, dass die Dinge einfacher geworden sind.

Ich habe keine Lösung, denn die Lösung wäre ja: weniger Sitzungen, weniger Mit­sprache et cetera. – Das ist es ja nicht. Ich sage das nur, um aufzuzeigen, wie die Dinge zustande kommen. Umgekehrt ist das aber auch ein Beweis dafür, wie intensiv die Mitsprache auf europäischer Ebene ist und welche Rolle zum Beispiel auch das Europäische Parlament bei der Gesetzwerdung spielt. Meine Damen und Herren vom Europäischen Parlament, vielleicht kann man auch darüber nachdenken, wie man da Möglichkeiten, ich weiß nicht, einer Art Selbstbeschränkung findet, um solche Dinge nicht ausufern zu lassen.

Zweitens – und das führt mich abschließend zum Thema Subsidiarität –: Wir reden viel von Subsidiarität, aber in meinem Verständnis heißt Subsidiarität, Dinge auf dieser Ebene zu behandeln, um zu entscheiden, wo die angemessene Ebene ist. Das ist mein Punkt: Es kann nicht sein, dass bei Themen, bei denen man der Meinung ist, sie sollen auf europäischer Ebene behandelt werden, alle immer mitsprechen. Wir brauchen heute aufgrund der vielfältigen Mitsprachemöglichkeiten eineinhalb bis zwei Jahre, bis ein normaler Gesetzgebungsakt zustande kommt.

Ich möchte schon darauf hinweisen, dass der Ausschuss der Regionen und der Wirt­schafts- und Sozialausschuss – das sind die beiden Interessenorganisationen auf europäischer Ebene, die qua Vertrag von Lissabon Begutachtungsrecht haben – die Möglichkeit haben – und auch davon Gebrauch machen –, Stellungnahmen zu den entsprechenden Gesetzesvorschlägen zu unterbreiten. Daher ist es, glaube ich, ganz wichtig, dass man sich sehr intensiv auch im Ausschuss der Regionen engagiert. Einige österreichische Bundesländer – das kann ich aus eigener Erfahrung sagen – tun das, bei den anderen, würde ich sagen, ist vielleicht noch mehr room for improvement.

Funktionierende Subsidiarität bedeutet, dass man sich entscheidet, wo die Dinge zu behandeln und auch zu entscheiden sind. Ich höre oft, dass andere viel schneller in der Entscheidungsfindung sind; ich möchte nicht von Russland oder China sprechen, aber ich höre das auch oft. Ich sage dann: Ja, aber wir sind eine Demokratie, und in einer Demokratie dauert es zwar, bis Entscheidungen zustande kommen, aber sie sind dann nachhaltiger, weil alle sozusagen daran beteiligt sind. Wir müssen aber auch eine sinnvolle Balance finden, dass wir Entscheidungen im Rahmen einer angemessen Frist zustande bringen, damit wir eben – ehrlich gesagt – nicht nur international wett­bewerbsfähig sind, sondern damit wir international gestalten und nicht nur, wie gesagt, reagieren.

Nochmals vielen herzlichen Dank! Es gibt viel zu sagen, viel zu diskutieren, aber wich­tig ist, dass man sich verschiedener Probleme auch bewusst ist. – Vielen herzlichen Dank. (Beifall.)

11.46


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Kommissar, für deine ab­schließende Stellungnahme.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Kollege Schennach, stellvertretender Obmann des EU-Ausschusses. – Bitte, Herr Kollege.

 


11.46.50

Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ, Wien)|: Sehr geehrter Präsident! Lieber Herr Kommissar! Meine Herren Präsidenten! Wir haben seinerzeit den Lissaboner Vertrag im Bundesrat zu 100 Prozent genutzt und aus einer Länderkammer eine Europa­kammer gemacht. Wir haben nicht nur Subsidiaritätsprüfungen, sondern, was auch oft vergessen wird, die Verhältnismäßigkeitsprüfungen durchgezogen. Wir stellen auch noch die Plattform in der Kommunikation zu den Bundesländern dar und vertreten das Gesamtparlament im Rahmen von COSAC und so weiter. Oft sind es Kollege Mayer und ich, die ganz alleine das gesamte österreichische Parlament vertreten.

Sprechen wir von Regionalisierung, dann machen wir einmal einen Punkt: Die EU beginnt bei uns zu Hause. Man lebt in einer Gemeinde, in einer Stadtgemeinde oder in einer Statutarstadt. Gehe ich von diesem Punkt aus, dann verstehe ich auch, dass sich Identitäten entwickeln. Verwendet man aber die Begriffe regional, Regionalisierung oder Subsidiarität, um die Souveränität der EU kleiner zu machen, so ist das der falsche Weg.

Wir brauchen – das im Zusammenhang mit den letzten Worten von Kommissar Hahn – eine viel stärkere Souveränität der EU in vielen Bereichen. Wir brauchen – was Kollege Köck gesagt hat – eine Steuerharmonisierung. Wir brauchen ein Trockenlegen der Steuerparadiese. Wir müssen ganz klare gemeinsame Linien finden. Das Steuerdum­ping, das zwischen einzelnen Staaten passiert, ist unanständig und schädigt letztlich alle zusammen. Kein Tisch kann auf drei Beinen stehen, wir brauchen die vierte Säule!

Wenn alles – der Waren-, der Kapital- und der Personenverkehr – frei ist, kann man nicht sagen: Um die sozialen Probleme kümmert ihr euch dann auf der national­staatlichen Ebene! Wir müssen Regionalisierung und regionale Werte auch verstehen, vor allem überregional. Zwischen München und Trient gibt es wahrscheinlich mehr Gemeinsamkeiten als zwischen Bregenz und Eisenstadt; insofern ist es ganz wichtig, dass man das nicht schon wieder in kleinen nationalstaatlichen Kästchen sieht, son­dern man muss auch eine übergreifende Zusammenarbeit sehen.

Natürlich gibt es auch Diskussionen wie die Schnapsdebatte, wie die Marillenmar­mela­dedebatte, und dazu muss man natürlich sagen, die braucht man wie einen Kropf. Auf der anderen Seite nimmt man die EU aber wirtschaftlich-ordnungspolitisch ernst, etwa dahin gehend, dass sie auf Patente zu achten hat, dass sie klare Marktregeln macht – dann kann sie so etwas regeln beziehungsweise muss sie so etwas regeln. Wir haben zum Beispiel betreffend Sacher-Torte sehr wohl internationale Gerichte bemüht, warum kann man das betreffend britische marmalade nicht?

Wir haben viele gemeinsame Werte zu verteidigen: Grundrechtecharta, Erasmus, das Schengener Abkommen. Schengen ist nichts, was wir aufs Spiel setzen dürfen. Die Mobilität, die wir alle mittlerweile kennen, mit der die Jugend aufgewachsen ist, darf nicht riskiert werden. Es schadet den Regionen, wenn wir plötzlich wieder Grenzen haben.

Noch einmal: Den delegierten Rechtsakten sind wir auf der Spur. Es ist wirklich eine Fehlentwicklung, dass wir in kleinsten Gesetzen 150, 160, 180 delegierte Rechtsakte versteckt finden.

Zum Schluss: Ich unterstreiche das, was Kommissar Hahn sagt: Wir sind eine Demo­kratie, das ist der Unterschied. – Dann soll er aber auch verstehen, dass man bezüg­lich Freihandelsabkommen die Nationalstaaten nicht an die Leine nehmen kann und nicht durch Vorab-in-Kraft-Setzen alle Nationalstaaten zwingen kann, dem dann zuzu­stimmen. – Danke. (Beifall.)

11.51


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Fraktions­obfrau Schreyer. – Bitte.

 


11.51.12

Bundesrätin Mag. Nicole Schreyer (Grüne, Tirol)|: Sehr geehrter Herr Präsident des Ausschusses der Regionen! Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates! Sehr geehrte Herren Präsidenten der Landtage! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kommissar Hahn ist leider schon weg, ich möchte eigentlich genau bei dem anknüp­fen, was er am Anfang seiner Rede gesagt hat, nämlich bei Handelsabkommen – Handelsabkommen wie CETA, TTIP und TiSA; aktuell wird gerade mit Australien und Neuseeland verhandelt.

Kommissar Hahn hat explizit erwähnt, dass Umwelt- und Sozialstandards in Außen­handelsabkommen der EU auf alle Fälle erhalten bleiben müssen. Das sieht in Österreich jeder so, da sind wir uns parteiübergreifend einig, dass es so bleiben muss, und da sind wir auch ganz nahe an den BürgerInnen.

Das große Thema in allen Redebeiträgen heute lautet: Welche Aufgaben, welche Kompetenzen soll die EU haben? – Heute Morgen wurde in den Nachrichten gesagt, dass die Landeshauptleutekonferenz gerade einen Brief zum EU-Teil der Koalitions­verhandlungen, welche Kompetenzen eben die EU haben soll, vorbereitet. Genannt wurden gemeinsame Wirtschaftskompetenz, Außen- und Grenzsicherung, die gesamte Sicherheitskompetenz. Explizit wurde erwähnt, dass in diesem Brief stehen soll, dass das Umweltreglement nicht auf EU-Ebene verlaufen und nicht weiterhin als EU-Kompetenz geführt werden sollte.

Ich freue mich, dass Herr Landtagspräsident Illedits erwähnt hat, dass die Landes­hauptleute sehr wohl hinter der EU-Arbeitsmarktbehörde stehen, also quasi die soziale Kompetenz auf EU-Ebene sehen.

Damit wieder zurück zu den Handelsabkommen: Welche Umweltstandards sollen bei Handelsabkommen vertreten und hineinverhandelt werden, wenn das nicht mehr auf EU-Ebene gemeinsam behandelt wird? Sollen die besten oder die lockersten Umwelt­standards reinkommen?

Dasselbe gilt auch für die Sozialstandards. Es braucht so viele Bemühungen, weil es so massive Unterschiede in den Mitgliedsländern gibt, die auch schon mehrfach angesprochen worden sind. Solange es um Sozial- und Lohndumping und um das von meinem Vorredner angesprochene Steuerdumping geht, so lange wird es nicht nur bei den Außenhandelsabkommen, sondern auch innerhalb der EU langfristig nicht möglich sein, freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr zu erhalten, sodass wirklich alle davon profitieren und die gesamte Union gestärkt wird. – Danke schön. (Beifall.)

11.53


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Frau Kollegin Schreyer.

Als Letzter in dieser Diskussion zu Wort gemeldet ist Herr Mag. Drimmel vom Öster­reichischen Gemeindebund. – Bitte.

 


11.54.05

Mag. Nicolaus Drimmel (Österreichischer Gemeindebund)|: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Österreichische Gemeindebund und der Österreichische Städtebund sitzen natürlich auch im Ausschuss der Regionen, deswegen auch ein Gruß an Herrn Präsidenten Lambertz. Sie haben heute mit Ihrer Aussage, die Städte, Gemeinden und Regionen seien eine positive Kraft in Europa, bereits als Anwalt der Städte, Gemeinden und Regionen fungiert. Für den Gemeindebund ist damit eigentlich das Wesentlichste gesagt. Wir haben auch eine Stellungnahme zum Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union verfasst und haben das dort etwas ausgestaltet.

Angesichts der Kürze der Redezeit werde ich nur grundsätzliche Dinge sagen: Der Bundesrat ist die Kammer des Föderalismus, wir befinden uns quasi auf dem Boden unserer bundesstaatlichen Verfassung. Ohne selbständige Partner, ohne die Gemein­den und ohne die Regionen ist kein Staat zu machen. Es gibt keinen Staat, keine Union, die auf diese selbständigen Partner verzichten kann.

Der Föderalismus hat auch demokratische Elemente, er bedingt, dass man aufeinan­der zugeht. Foedus, foederis – lateinisch der Vertrag, man geht aufeinander zu. Wir kennen das in Österreich. Wir haben eine Tradition des kooperativen Bundesstaates – den Kollegen aus dem Finanzministerium habe ich gesehen –: das Paktum des Finanz­ausgleiches, ganz typisch, oder auch andere Dinge wie Stabilitätspakt, Konsul­ta­tionsmechanismus.

Verträge bedingen oft Kompromisse, man geht aufeinander zu. Verträge bedingen aber auch eine klare Richtlinie darüber, was vereinbart ist, was geprüft wird. Die Wichtigkeit der Subsidiaritätsprüfung ist heute bereits angeklungen, die Gesetzesfolgenabschätzung ist auch ganz wichtig für uns im Ausschuss der Regionen, und letztlich müssen auch Sanktionsmittel da sein.

Herr Präsident Lambertz, da Sie heute da sind, möchte ich nur kurz eine Geschichte aus der gemeinsamen Geschichte, der Geschichte Österreichs, also der Habsburger, und der Österreichischen Niederlande, erzählen. Es gab die Brabantische Revo­lution 1789 bis 1790. Letztlich haben sich die Österreichischen Niederlande damals für selbständig erklärt, weil ihnen die Reformen Josephs II zu weit gegangen sind. Warum? – Es war keine bürgerliche Revolution, es war eine ständische Revo­lution. Die Stände haben ihre Verfassung eingemahnt und haben den Souverän quasi geklagt, weil er die Verfassung gebrochen habe. Ihr erstes Sanktionsmittel: Sie haben keine Steuern mehr abgeliefert. – Das ist eine sehr interessante Geschichte, die uns wieder zeigt: Dialog ist wichtig und essenziell, man darf den Bogen nicht überspannen.

Wie aktuell dieses Thema ist, haben wir heute auch schon gehört: Die derzeitige Krise in Katalonien ist auch eine Krise Spaniens und seiner Verfassung, und es ist auch eine Krise Europas. Nehmen wir unseren Föderalismus daher ernst! Wieder eine Anleihe aus Belgien: Die Gemeinschaft macht stark. Und noch für das Protokoll: Das Europa des Dialogs fängt in den Gemeinden und Regionen an. (Beifall.)

11.57


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank für Ihren Beitrag.

Damit ist die erste Diskussionsrunde beendet. Ich bedanke mich sehr, sehr herzlich bei Präsident Karl-Heinz Lambertz, bei den Landtagspräsidenten Ing. Hans Penz, Chris­tian Illedits, Kommerzialrat Viktor Sigl und Mag. Harald Sonderegger für ihre Beiträge.

11.58.02III. Impulsreferate zu „Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Wir kommen zum nächsten Panel, zu den Impulsreferaten zum Thema: „Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen“.

Ich darf die Herren Dr. Jörg Wojahn, Mag. Georg Pfeifer, Mag. Alexander Schallenberg und Universitätsprofessor Dr. Peter Bußjäger bitten, auf dem Podium Platz zu nehmen, und sie ersuchen, die Redezeit von 10 Minuten pro Statement nicht zu überschreiten.

Ich darf eingangs Herrn Dr. Wojahn, Leiter der Vertretung der Europäischen Kom­mission in Österreich, um seinen Beitrag ersuchen. – Bitte.

 


11.58.30

Dr. Jörg Wojahn (Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich)|: Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank für die Initiative und für die Einladung! Sehr geehrte Herren Präsidenten! Sehr geehrte Abgeordnete zum Europäischen Parlament, zum Bundesrat, zu den Landtagen! Ich freue mich sehr, vor Ihnen zu einem Thema sprechen zu dürfen, das die Europäische Kommission – ich würde das für uns in Anspruch nehmen – mit angestoßen hat. Sie haben den Unbekannten im Raum nicht erwähnt. Wir sind durch den Brexit eigentlich alle dazu gezwungen worden, uns kon­kre­tere Gedanken zu machen, etwas konkreter zu fassen, worüber wir schon länger diskutiert haben, nämlich über die Zukunft der Europäischen Union, die Zukunft der EU mit 27 Mitgliedstaaten.

Ich möchte kurz mit einer Erwägung beginnen, auf die auch die Landtagspräsidenten hingewiesen haben, speziell Herr Sonderegger, nämlich: nahe am Bürger. – Das muss für uns alle der Maßstab sein, aber das wirft dann gleich eine Folgefrage auf: Nahe an welchem Bürger oder welcher Bürgerin?

Ich will das an einem Beispiel festmachen, das vielleicht noch öfter in meinem kurzen Vortrag kommen wird: Nehmen Sie die Frage der Entsenderichtlinie! Es gibt im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit die Entsende­richtlinie, mit der viele nicht mehr zufrieden waren. Wir, die Kommission, haben eine Überarbeitung vorgeschlagen und mussten uns die Frage stellen: Im Sinne welcher Bürger? Im Sinne der Bürger im Burgenland, die sagen: Jetzt kommen die ganzen Ungarn zu uns und arbeiten bei uns!, oder im Sinne der Bürger in Ungarn, die sagen: Wir haben hier nicht viel zu bieten außer unserer Arbeitskraft, und das machen wir halt für ein bisschen weniger Geld, bevor wir daheim nichts verdienen oder arbeitslos sind!?

Haben Sie bei der Debatte im Burgenland auch die Bedenken oder die Wünsche der Bürger in Ungarn mitgedacht? – Das müssen Sie vielleicht auch gar nicht tun, wir jedoch schon, denn das ist eben die Aufgabe der Europäischen Kommission. Wir müssen versuchen, nicht nur nahe an einem abstrakten Bürger zu sein, wir müssen uns den Bürger konkreter vorstellen. Und da werden wir öfter feststellen – was Herr Sonderegger ebenfalls erwähnt hat –, dass die Interessen verschieden sind, auch die Interessen der Regionen.

Diese Frage leitet dann direkt zur Diskussion über die Subsidiarität über: Was ist das Interesse der einen Region? Ist es dasselbe Interesse wie das der anderen Region? Wie können die Regionen dies dann auf europäischer Ebene zum Ausdruck bringen?

Ich möchte meinen Vortrag so gliedern, dass ich an unseren Vorschlägen entlanggehe, beginnend mit dem Weißbuch. Ohne da groß ins Detail zu gehen, werde ich nur die Dinge hervorheben, von denen ich denke, dass sie für die Diskussion hier relevant sind. Ich werde also nicht alle fünf Szenarien vorstellen, sondern nur kurze Anstöße geben, vor allem zu dem Szenario, das hier am häufigsten angesprochen wurde: Die EU muss sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren und die vielleicht weniger wichtigen wieder an die Mitgliedstaaten zurückgeben. Das ist ja im Kern die Frage der Subsidiarität, hier abgekürzt und in dem Sinn: „Weniger, aber effizienter“.

Da stellt sich dann die konkrete Frage: In welchen Bereichen sollen wir mehr und in welchen Bereichen sollen wir weniger tun? Weniger, effizienter!, ist leicht gesagt, aber die Antwort, die Sie im Bundesrat, aber auch die Regierungen aller Mitgliedstaaten uns werden geben müssen, ist, wo wir denn mehr tun sollen und wo wir weniger tun sollen.

Ich nehme einfach drei provokante Beispiele, die Ihnen das vor Augen führen: Sollen wir bei der Landwirtschaft weniger tun? Sollen wir bei der Verteidigung mehr tun? – Es gibt viele Mitgliedstaaten, die sich das wünschen. Sie haben die Neutralität, die in der einen oder anderen Weise interpretiert wird. Können Sie da mitgehen? Die einen sagen, wir müssen da mehr machen, andere sagen, bei der Landwirtschaft müssen wir weniger machen.

Die dritte Frage ist – eigentlich liegt es auf der Hand – der EU-Außenhandel. Die Staaten der EU haben schon ganz früh im Einigungsprozess die Zuständigkeit für Außenhandelsverträge auf die EU übertragen, weil sie gesehen haben, dass es bei sechs Milliarden Menschen, bei vielen starken Staaten wie China, USA leichter ist, als Block von 500 Millionen zu verhandeln, denn als Land von 8,7 Millionen. Dennoch gibt es darüber aber offenbar keinen Konsens mehr; früher war das der Konsens, heute gibt es aber über 700 TTIP-freie Gemeinden in Österreich. Es gibt also viele politische Entscheidungsträger in Österreich, die meinen, man sollte die Handelspolitik vielleicht sogar auf lokale Ebene herunterführen. – Das nur, um die Forderung: weniger, effizienter!, beziehungsweise das Szenario dazu zu illustrieren. Wir müssen uns darüber ernste Gedanken machen, und wir müssen von der politischen Debatte ausgehen, wie sie existiert.

Sie haben gesehen, wir haben nicht nur das Weißbuch vorgelegt – das Ihnen sicherlich vorliegt, das hier auch oft angesprochen wurde –, wir haben auch fünf Reflexions­papiere produziert, die etwas mehr ins Detail gehen. Ich werde sie jetzt nicht alle referieren, sondern nur die Titel ansprechen.

Das erste Reflexionspapier haben wir zur sozialen Dimension Europas vorgelegt. Sie wissen, am 17. November – das wurde schon erwähnt – wird in Göteborg ein euro­päischer Sozialgipfel stattfinden. Uns ist die soziale Dimension wichtig, und wir, die Kommission, sehen auch, dass diese in Europa noch nicht genug ausgebaut wurde. Aber – da kommt die grundsätzliche Frage – wie kann sie denn ausgebaut werden? – Wir können im Moment nur auf der Grundlage der Verträge arbeiten. Wollen wir die Verträge ändern, brauchen wir Konsens zwischen allen 28 beziehungsweise dann 27 Mitgliedstaaten. Das heißt, denjenigen, die von dem, was wir in dieses Papier geschrieben haben, vielleicht enttäuscht sind, müssen wir sagen: Wir haben alles hineingeschrieben, was wir auf der Grundlage der Verträge für möglich halten. Will man mehr, ist das ein legitimer Wunsch, aber hier erinnere ich an das, was ich zu Beginn gesagt habe: Es gibt andere Mitgliedstaaten, die denken, die EU sei schon viel zu sozial, das solle die EU nicht machen, das solle auf mitgliedstaatlicher Ebene bleiben.

Das Reflexionspapier zur Globalisierung haben wir „die Globalisierung meistern“ genannt. Herr Kommissar Hahn hat es sehr ausführlich geschildert, ich möchte dazu noch ein kleines konkretes Beispiel nachschicken, bei dem Sie sich vielleicht auch wieder Gedanken über Subsidiarität, aber auch über verschiedene Interessen machen müssen: Wir hatten beim europäischen Gesetzgebungsprozess eine schwierige De­batte über die sogenannten Trade Defence Instruments; das sind Antidumping­regeln und Antisubventionsregeln, die sicherstellen sollen, dass zum Beispiel keine gedump­ten chinesischen Güter auf unseren Markt kommen.

Das konkrete Beispiel, das auch in der österreichischen Diskussion sehr im Vorder­grund stand, war Stahl und der Ruf danach, dass wir die Antidumpingzölle auf Stahl erhöhen sollen. Das ist natürlich eindeutig, wenn Sie in Oberösterreich sind und das Land Oberösterreich vertreten, denn dort gibt es einen Stahlproduzenten, der sich auf dem Weltmarkt behaupten muss und eben nicht von ungerechtfertigt gedumpten oder unterpreisigen chinesischen Produkten konkurrenziert werden will. Wenn Sie aber in Italien sind, wenn Sie vielleicht in der Region Lombardia sind, wo ganz viele Autos gebaut werden und es keine eigene Stahlindustrie gibt, dann ist Ihr Interesse, so billigen Stahl wie nur möglich zu bekommen. – Und schon sehen Sie, wie schwierig die Debatte bei uns war.

Weitere Papiere gibt es zur „Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion“ – sehr komplex – und zur „Zukunft der europäischen Verteidigung“ – das habe ich schon provokant angesprochen. Das aus meiner Sicht wichtigste Reflexionspapier, und auch das, von dem ich denke, dass es das für Sie im kommenden Jahr das wichtigste sein wird, betrifft die „Zukunft der EU-Finanzen“, gerade mit Blick auf die Debatte, wie sie in Österreich begonnen hat. Sie wissen alle, die Debatte in Österreich nach dem Brexit hat damit begonnen: Wir wollen keinen Euro mehr zahlen! Österreich ist ein Netto­zahlerstaat – das ist unbestritten – und wird es auch bleiben, aber der Ausgangspunkt der Debatte, und zwar, wenn ich mich recht erinnere, von allen politischen Parteien war: kein Euro mehr!

Da müssen wir dann aber umso mehr fragen: Wo wollen wir dann einsparen? Kein Euro mehr!, heißt zugleich, dass wir am Ende irgendwo einsparen müssen, denn mit dem Austritt Großbritanniens wird uns Geld verloren gehen. Können dann die Länder – wahrscheinlich zu Recht – fordern: Wir möchten aber das gleiche Niveau von Kohäsionspolitik finanzieren!? Können dann die wohlhabenderen Regionen und Länder immer noch fordern: Wir möchten auch als wohlhabendere Regionen weiter von Kohäsionspolitik profitieren!? – Diese Fragen müssen wir uns stellen, zumindest wenn wir gleichzeitig sagen, wir wollen als Nettozahler keinen Euro mehr zahlen.

Die abstrakte Frage, die Sie dann konkret werden beantworten müssen, ist natürlich: Wofür wollen wir denn das vorhandene Geld noch ausgeben? Da gibt es viele Vorschläge, und das wird dann nächstes Jahr sehr viel konkreter diskutiert werden müssen, wenn wir den mehrjährigen Finanzrahmen der EU diskutieren. Die Kom­mission wird im Mai ihren Vorschlag vorlegen.

Wir werden uns auch nicht nur Vereinfachungen bei der Verwaltung der Mittel über­legen müssen – das wurde schon angesprochen, und das ist absolut notwendig –, son­dern wir werden auch überlegen müssen, ob wir ganz neue Instrumente verwenden, ob wir mehr Kredite statt Subventionen vergeben, ob wir mehr Finanzinstrumente ver­wenden; jetzt versuchen wir das schon beim Juncker-Fonds – Frau Abgeordnete Vana hat das ja schon angedeutet – und das, wie wir denken, mit einigem Erfolg. Wir werden wahrscheinlich auch nach neuen Quellen für Eigenmittel suchen müssen. (Vorsit­zender Präsident Mayer gibt das Glockenzeichen.)

Zum Abschluss kurz zum dritten großen Element oder unserem dritten großen Beitrag zur Zukunftsdebatte, zur Rede zur Lage der Union des Präsidenten Juncker: Ich werde diese jetzt nicht durchgehen, sondern nur noch einmal hervorheben, dass er dort ganz explizit die Subsidiarität angesprochen und eine Taskforce zur Subsidiarität eingesetzt hat, die jetzt ihre Arbeit aufnimmt. Die Frage wird eben auch hier sein, und das ist die Frage, die wir Ihnen, die sich damit befassen, durch Gesetz dazu verpflichtet und berechtigt, in dieser Diskussion über Subsidiarität stellen: Was soll denn das in der Praxis bedeuten? Wo sollen wir Dinge abgeben – nach unten an die Mitgliedstaaten oder vielleicht an die Regionen –, und wo sollen wir EU-Kompetenzen behalten?

Wir, die Kommission, können da nur Fragen stellen, denn wir sind, wie Sie wissen, nicht der Gesetzgeber, wir sind der Impulsgeber, wir sind die, die Vorschläge vorlegen, die Entscheidungen werden aber vom Nationalrat gemeinsam mit Ihnen getroffen, von den Regierungen der Mitgliedstaaten und natürlich vom Europäischen Parlament. – Vielen Dank. (Beifall.)

12.09


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Dr. Wojahn.

Zu Wort gelangt Herr Mag. Pfeifer, Leiter des Informationsbüros des Europäischen Parlaments in Österreich. – Bitte.

 


12.10.34

Mag. Georg Pfeifer (Leiter des Informationsbüros des Europäischen Parlaments in Österreich)|: Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates! Sehr geehrte Landtagspräsidenten! Meine Damen und Herren Bundesräte und Euro­paabgeordnete! Sie erinnern sich, am 25. März 2017 gab es die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge in Rom. Damals hat unser Präsident Antonio Tajani erklärt: „Der Traum von einem vereinten Europa bot einen Weg, den Alptraum Krieg für immer Vergangenheit werden zu lassen.“ Und weiter: „Wir müssen stolz auf das Vermächtnis sein, das wir unseren Kindern hinterlassen: die Freiheit zu reisen, zu studieren, zu arbeiten, Unternehmen zu führen, zu erneuern.“

Ich denke, wenn wir es schaffen, das zu bewahren, zu erhalten, aber auch weiter­zu­entwickeln, dann haben wir die Zukunft Europas fast schon gemeistert. Selbstver­ständlich ist das nämlich nicht.

Diese Debatte zur Zukunft Europas ist sehr wichtig, und deswegen hat das Euro­päische Parlament schon sehr früh auch dazu seinen Beitrag geleistet. Ich bin kein Politiker, sondern ein Mitarbeiter des Europäischen Parlaments und möchte Ihnen kurz referieren, was das Europäische Parlament damals vorgeschlagen hat, und zwar vor dem Weißbuch der Kommission, das von Kollegen Wojahn bereits angesprochen und am 1. März 2017 präsentiert wurde.

Das Europäische Parlament hat am 16. Februar 2017 drei Entschließungen ange­nommen, die sich genau dieser Fragen zur Zukunft Europas annehmen, hat das aber anders gegliedert, nämlich in drei Berichten. Im ersten Bericht wird angesprochen, was wir im Rahmen des bestehenden Regelungswerkes oder Vertragswerkes, nämlich des Vertrages von Lissabon, noch alles machen können, um Europa weiterzuentwickeln. Dieser Bericht wurde von der italienischen Sozialdemokratin Mercedes Bresso und dem deutschen Christdemokraten Elmar Brok entwickelt. Im zweiten Bericht des Frak­tionsvorsitzenden der Liberalen, Guy Verhofstadt aus Belgien, geht es darum – und dafür wäre im Europäischen Parlament derzeit, würde ich sagen, eine Mehrheit zu finden –, wie man die Lissaboner Verträge im Rahmen eines Konvents, also im Rah­men einer Vertragsänderung, weiterentwickeln muss. In diesem Bericht wird ange­sprochen, was – wie das Europäische Parlament mehrheitlich meint – in Zukunft ange­gangen werden muss. Und im dritten Bericht geht es schließlich um die Stärkung der Eurozone, ein Bericht des deutschen Christdemokraten Reimer Böge und der franzö­sischen Sozialdemokratin Pervenche Berès.

Ich möchte Ihnen ganz kurz in Erinnerung rufen, was in diesen Berichten steht, und dann mit einem Appell schließen.

Im ersten Bericht steht, was wir innerhalb des Lissaboner Vertrages bereits jetzt machen können, um die europäische Zusammenarbeit weiterzuentwickeln. Folgende Vorschläge werden da gemacht: Der Ministerrat sollte „in eine wirkliche zweite Gesetz­gebungskammer umgewandelt“ werden. „Die derzeitigen spezialisierten legislativen Ratsformationen sollen als Vorbereitungsgremien für eine einzige legislative öffentliche Ratstagung nach dem Muster der Arbeitsweise der Ausschüsse des Europäischen Parlaments genutzt werden“. Ein weiterer Vorschlag beinhaltet, „dass jeder Mitglied­staat mindestens drei Kandidaten beiderlei Geschlechts für das Amt ‚seines‘ Kom­missars/,seiner‘ Kommissarin benennen sollte“. Das ist wahrscheinlich ein Vorschlag, der bei den Mitgliedstaaten weniger populär ist, der aber in diesem Bericht vom Euro­päischen Parlament mehrheitlich beschlossen wurde. Weiters sollte „der Rat vollstän­dig zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit“ übergehen, nämlich immer dann, wenn es „vertragsmäßig möglich ist, so dass wichtige Gesetze nicht blockiert werden können und der Gesetzgebungsprozess beschleunigt wird“. Und schließlich sollte „ein ständiger Rat der Verteidigungsminister eingesetzt“ werden, „um die Verteidigungs­politiken der Mitgliedstaaten zu koordinieren“.

Das sind die wichtigsten Vorschläge, was man innerhalb des Lissaboner Vertrages machen könnte, um die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene jetzt schon zu verbes­sern.

Was im Zuge einer Vertragsreform angegangen werden sollte, steht im zweiten Bericht von Guy Verhofstadt. Darin wird unter anderem vorgeschlagen, dass „die Schaffung eines EU-Finanzministers“ anzugehen wäre. Es wird auch daran erinnert, dass das Europäische Parlament mehrheitlich der Meinung ist, es sollte nur „einen einzigen Sitz haben“ – Sie wissen, das ist nicht in der Hand des Europäischen Parlaments, sondern in der Hand jener, die die Verträge ausverhandeln. Es sollte „eine substanzielle Verrin­gerung der Größe der EU-Kommission“ geben, „inklusive der Reduzierung der Zahl der Vizepräsidenten auf zwei“ – ob das die Kommission so gern sehen würde, weiß ich nicht. Und schließlich sollte jeder EU-Bürger das Recht haben, „direkt die Spitzen­kandidaten der europäischen Parteien für das Amt des Kommissionspräsidenten wählen“ zu können – das käme einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten gleich.

Bei der Stärkung der Eurozone geht es darum, einen Europäischen Währungsfonds zu errichten, „eine Fiskalkapazität, bestehend aus dem Europäischen Stabilitätsmecha­nismus und einer spezifischen zusätzlichen Haushaltskapazität für den Euroraum, finanziert durch die Mitgliedstaaten als Teil des EU-Haushalts“, einen „Konvergenz­kodex“, das wäre ein „Schwerpunkt auf Konvergenzkriterien in den Bereichen Besteue­rung, Arbeitsmarkt, Investitionen, Produktivität und sozialer Zusammenhalt“. Und schließ­lich sollte im Rahmen der „Steuerung“ der Eurozone „eine größere Rolle für das Europäische und nationale Parlamente“ anvisiert werden.

In diesen Berichten ist die Rolle der Regionen insofern angesprochen, als dass eine Sicherung der Rolle des Ausschusses der Regionen in zwei Berichten jeweils ange­sprochen wird, und auch die Zusicherung einer gemeinsamen Unterstützung schwäche­rer Regionen „durch die Anwendung des Grundsatzes der Solidarität“, also eine Stär­kung beziehungsweise eine Beibehaltung dessen, was derzeit im Rahmen der EU-Regionalpolitik gemacht wird.

Viellicht darf ich kurz einen der Berichterstatter zitieren, nämlich den belgischen Liberalen Guy Verhofstadt, der den Stellenwert der lokalen, regionalen Dimensionen in der EU betont: „Wir können eine starke und mächtige EU haben, die respektiert wird, und gleichzeitig blühende lokale und nationale Demokratien. Ich bin der Überzeugung, dass das eine nicht ohne das andere geht“.

Jetzt ist es natürlich so, dass viele dieser Vorschläge nicht bis zu den Europa­wahlen 2019 umgesetzt werden können, sondern wenn, dann eher mit Blickrichtung auf Mitte des nächsten Jahrzehnts. Trotzdem – und jetzt kommt mein Appell – sehe ich hier im Saal sehr viele Institutionen, die in Österreich im Bereich Europa­kommu­nikation, Europapolitik tätig sind: Nutzen wir das, was wir bis zu den Europawahlen tun können, nutzen wir unsere Chance, soll heißen, nutzen wir das Momentum, das wir nächstes Jahr mit der EU-Präsidentschaft Österreichs bekommen, um etwas zu erreichen, was für uns alle wichtig ist, nämlich eine hohe Beteiligung bei der Euro­pawahl! Eine Steigerung bei der Beteiligung bei den Europawahlen würde die euro­päische Demokratie stärken und auch das europäische Einigungswerk. Ich denke, das müsste unser aller Anliegen sein, und nutze sozusagen heute hier die Bühne, um Sie alle einzuladen, da mitzumachen. Ich hoffe auch, dass dies in den derzeitigen Regie­rungsverhandlungen Ausdruck findet, in dem Ergebnis, das dann am Schluss heraus­kommen wird.

Mit diesem Appell, die Europawahl 2019 zu einem Erfolg zu machen, danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall.)

12.19


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Mag. Pfeifer.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist der Vertreter des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres, Herr Botschafter Mag. Schallenberg. – Bitte, Herr Bot­schaf­ter.

 


12.19.22

Mag. Alexander Schallenberg, LL.M (Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres)|: Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates! Sehr geehrte Präsidenten der Landtage! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich danke zuerst einmal für die Einladung, hier sprechen zu dürfen, und ich danke vor allem auch für die Initiative zu dieser Diskussion. Ich glaube, es tut not, dass wir über Europa diskutieren, und ich freue mich und bin sehr dankbar, dass der Bundesrat gewissermaßen die Speerspitze ist und diese Diskussion anstößt. Und ich bin sicher, das wird auch nicht die letzte Enquete sein, die wir hier zum Thema Zukunft der Europäischen Union führen werden.

Es gibt das schöne chinesische Fluchwort: „Mögen Sie in interessanten Zeiten leben.“ – Wenn man die Europäische Union betrachtet, hat man das Gefühl, wir leben tatsächlich in interessanten Zeiten. Manchmal hat man den Eindruck, das meistge­brauchte Wort im Zusammenhang mit dem Kürzel EU ist Krise: Migrationskrise, Ukrainekrise, Russlandkrise, Brexit, Finanzkrise, Eurokrise. Es gibt auch die Kritik, dass die Europäische Union kein ausreichender Player, Spieler gegenüber den Bezie­hungen zu den Vereinigten Staaten oder China sei.

Carl Bildt hat einmal dieses schöne Bild des Outer Ring of Fire geprägt – dass die Europäische Union von einem Feuerring umgeben sei. Wir haben auf der einen Seite die angespannten Beziehungen mit Russland und die Sanktionen, die weiterhin laufen, und den Konflikt um die Ukraine. In der Südflanke haben wir den gescheiterten Arabischen Frühling. Im Nahen Osten haben wir kriegerische Auseinandersetzungen und enorme Spannungen. Und in der Zwischenzeit haben wir – das muss man auch offen zugeben – ein gewisses Fragezeichen in den Beziehungen zu unserem eigentlich wichtigsten Partner, den Vereinigten Staaten, also in den transatlantischen Bezie­hungen, Stichwort Klimaabkommen zum Beispiel.

Man könnte zu diesem Bild, das Carl Bildt, der ehemalige Außen- und Premierminister Schwedens, geprägt hat, eigentlich noch eines hinzufügen, nämlich dass die Euro­päische Union nicht nur mit einem äußeren Feuerring konfrontiert ist, sondern auch mit einem inneren.

Ich denke da zum Beispiel an die Migrationskrise oder an den Brexit. Letzterer war vielleicht der brutalste Weckruf, den die Europäische Union haben konnte – einer der größten Mitgliedstaaten hat im Referendum beschlossen, diese Europäische Union zu verlassen. Ich denke an die laufende Diskussion über die Außenhandelspolitik der Europäischen Union, Stichwort CETA und TTIP, die heute schon angesprochen worden ist. Ich denke an den Umgang mit unseren Partnern und Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan, den Umgang mit der Türkei. Ich denke an eine Diskussion mit den Mitgliedstaaten über den Wertekanon und die Wertegemeinschaft, die die Europäische Union bildet – das ist heute interessanterweise nicht zum Thema gemacht worden. Und ein sozusagen neues Phänomen – neu in gewisser Form in der Drastik, in der es jetzt aufkommt – ist der Regionalismus, Stichwort Puigdemont und Katalonien.

Es braucht daher, glaube ich, eine Zukunftsdebatte in der Europäischen Union. Business as usual ist meiner Meinung nach momentan keine Option. Im besten Sinne des Wortes bedarf es eines Kurswechsels, einer offenen Diskussion darüber, wo wir stehen und wo wir hinwollen.

In diesem Zusammenhang will ich eigentlich sagen, dass der Brexit im Grunde genommen etwas sehr Positives ist, wenn man das so sagen darf – bitte mich nicht außer Kontext zu zitieren! Er ist nämlich ein Weckruf, er zeigt, dass die Europäische Union kein Selbstläufer ist. Wenn wir diese Integration wollen, dann braucht es mehr als Lippenbekenntnisse, man muss dafür auch etwas tun, und zwar sowohl im Inneren, auf der regionalen Ebene, auf Landesebene, als auch auf EU-Ebene.

Die Zukunftsdebatte hat de facto schon begonnen: Wir haben – es wurde schon erwähnt – das Weißbuch von Juncker. Wir haben die State of the Union Address vom Präsidenten der Europäischen Kommission. Macron, der Präsident Frankreichs, hat eine hochinteressante Rede gehalten. Und es gibt die Leaders’ Agenda von Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates. Wir warten natürlich – auch noch mit einer gewissen Spannung – darauf, was vielleicht in Zukunft aus deutschem Mund, insbe­sondere zum Thema WWU, kommen wird.

Wichtig ist, dass es diesen Prozess gibt und dass dieser Prozess vor allem – das sind vielleicht die Parameter, die ich kurz ansprechen will – ein breiter Prozess und ein transparenter Prozess ist. Macron hat die interessante Idee vorgebracht, dass Kon­vente auf nationaler Ebene diesen Prozess begleitend vorbereiten sollten. Das ist eine durchaus überlegenswerte Idee. Wichtig ist, dass er das Europäische Parlament mit­einbezieht, den Ausschuss der Regionen, also alle Institutionen, aber insbesondere auch die Zivilgesellschaft in den Regionen auf nationaler Ebene.

Wenn man über Parameter der Zukunftsdebatte redet, ist sicherlich das zweite wich­tige Element der Fokus auf Kernthemen. Wir glauben momentan, dass es nicht der Augenblick für eine große Diskussion über die Finalité européen ist – wenn wir an die Rede von Joschka Fischer in der Humboldt-Universität im Jahr 2000 denken. Worum es momentan eher geht, sind, wie es Donald Tusk gesagt hat, praktische Ergebnisse für konkrete Probleme der Bürger – das heißt Fokus auf Kernthemen.

Ganz oben steht sicherlich das Thema Sicherheit im weitesten Sinne: innere Sicher­heit, Außengrenzschutz, äußere Sicherheit, Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsdimension, Stichwort Asyl, sozusagen Reformpaket und Migrations­management. Das zweite Thema ist die Vertiefung und Absicherung der Wirtschafts- und Währungsunion. Und das dritte Thema – ein ganz wesentliches Thema – ist natür­lich die Funktionsweise der Europäischen Union. Von unserer Warte aus ist das überbordende Thema der gesamten Diskussion das Thema Subsidiarität.

Es wurde heute schon mehrmals angesprochen, dass wir ein Darstellungsproblem haben. Das erfahren wir im Europaministerium natürlich aus erster Hand. Wir haben ein Darstellungsproblem, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck besteht, dass eine Gemeinschaft von über einer halben Milliarde Menschen existiert, die sich um die Färbung von Pommes frites oder – wie vorher erwähnt wurde – Marillenmarmelade kümmert, aber nicht in der Lage ist, die Außengrenzen zu schützen. Das klingt jetzt wahnsinnig populistisch, aber das ist das Feedback, das wir bekommen, und da muss man ansetzen. Das heißt, man muss Lösungen präsentieren können, um auch das Vertrauen, das in den letzten vier, fünf Jahren doch erschüttert wurde, wiederzu­gewin­nen.

Ich glaube, dass die Subsidiarität dabei ein ganz wesentliches Element ist. Der öster­reichische Außenminister hat ja den Subsidiaritätspakt vorgeschlagen. Vorhin wurde auch die Taskforce erwähnt, die Präsident Juncker in seiner State of the Union Address erwähnt hat, die Taskforce Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Wir haben das sehr begrüßt, denn das sind genau die richtigen Signale.

Ich glaube, dass man in Brüssel ansetzen muss und dass es in Wirklichkeit auch ein bisschen darum geht, dass sich die Mitgliedstaaten auch selbst an der Nase nehmen und sagen, welche Bereiche – das wurde vorhin bereits sehr deutlich angesprochen – sie eigentlich im Fokus und welche Bereiche sie vielleicht nicht mehr so sehr im Fokus haben.

Es geht gar nicht unbedingt um eine Änderung der Verträge, es geht um das, was man tatsächlich auf den Tisch legt, um das, was man tatsächlich als Legislativakte oder als Weißbücher, Grünbücher und so weiter auf europäischer Ebene beschließt oder auf den Weg bringt. Da gab es auch schon in der Vergangenheit sehr sinnvolle, sehr gute Vorschläge. Ich denke zum Beispiel an die niederländische Regierung, die vor einigen Jahren schon sozusagen eine Subsidiaritätsüberprüfung vorgenommen hat. Das sind Elemente, bei denen man ansetzen kann.

Im Zusammenhang mit der Zukunftsdebatte möchte ich nur noch zwei Punkte besonders erwähnen, weil sie heute in dieser Form noch nicht erwähnt wurden. Der erste Punkt – der auch im Fokus unseres EU-Vorsitzes in der zweiten Jahres­hälfte 2018 stehen wird – ist ein Element, das wir als sehr gefährlich in der Entwicklung der europäischen Integration ansehen, das auch in die Zukunftsdebatte miteinfließen muss: Innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union darf es nicht das Gefühl einer Zweiklassengesellschaft geben. Momentan hat man das Gefühl, dass es eine Divergenz zwischen reich/arm, neuere/ältere und Nord/Süd gibt. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung innerhalb der Europäischen Union, die sich als wirklicher Sprengsatz erweisen könnte. Ich glaube, Österreich ist diesbezüglich relativ gut positioniert, um als Brücke zu fungieren und die Sensibilitäten von der einen wie von der anderen Seite zu verstehen.

Der zweite Punkt, den ich noch ansprechen will, ist, dass diese Zukunftsdebatte wie auch die Brexit-Verhandlungen, die wir zum Beispiel unter österreichischem Vorsitz in der zweiten Jahreshälfte 2018 abschließen müssen, nicht zu einer Nabelschau der Europäischen Union verkommen dürfen. Wir haben eine internationale Verantwortung, und es gibt Partner – Gio Hahn hat vorhin die europäische Nachbarschaft erwähnt, und ich möchte diesbezüglich ganz besonders den Westbalkan erwähnen –, die auf uns schauen, die uns brauchen und bei denen wir einfach aktiv und präsent sein müssen, wie auch die Migrationskrise wieder gezeigt hat.

Das heißt, der Zukunftsprozess sollte nicht dazu führen, dass wir alle Energien nur in das interne Management der Europäischen Union kanalisieren und darauf vergessen, dass die Europäische Union eine ganz massive Erwartungshaltung sowie auch eine Verantwortung gegenüber Regionen außerhalb der Europäischen Union hat.

Als Schlusswort will ich nur sagen – wie ich auch anfangs gesagt habe –, dass ich glaube, dass das nicht die letzte Zukunftsdebatte sein wird. Wir bereiten gerade sehr intensiv den Vorsitz Österreichs in der zweiten Jahreshälfte 2018 vor. Unter unserem Vorsitz werden allein drei Gipfeltreffen stattfinden. Es wird eine intensive Phase im europäischen Einigungsprozess sein. Wir müssen die Brexit-Verhandlungen ab­schließen, die europäischen Wahlen stehen unmittelbar bevor, und wir müssen, glaube ich, 450 Legislativakte auf den Weg bringen.

Ich kann nur eines sagen: Österreich wird sich auf jeden Fall sehr aktiv und sehr kon­struktiv in diese Zukunftsdebatte einbringen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerk­samkeit. (Beifall.)

12.28


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Botschafter Schallenberg, für Ihre Ausführungen.

Ich darf nun dem Direktor des Instituts für Föderalismus, Herrn Professor Dr. Bußjäger, der auch schon als Hüter des Föderalismus bekannt ist, das Wort erteilen. – Bitte, Herr Professor.

 


12.29.19

Univ.-Prof. Dr. Peter Bußjäger (Universität Innsbruck, Institut für Föderalismus)|: Sehr geehrter Präsident! Präsident des Ausschusses der Regionen! Präsidenten der Landtage! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für die Einladung.

Das Wort Katalonien stand am Beginn unserer Tagung und wird nun auch bei mir noch einmal zur Sprache kommen, weil es paradigmatisch dafür ist, was sich in der Euro­päischen Union abspielt. Dabei werde ich keine Partei ergreifen.

Eine Sezession ist grundsätzlich einmal immer etwas Illegales. Es gibt so gut wie keine nationalstaatliche Verfassung, die Sezessionen zulässt, von vier Ausnahmen abge­sehen: Äthiopien, St. Kitts und Nevis, Sudan und Liechtenstein.

Ich erwähne Katalonien deswegen, weil Katalonien auch eine europäische Krise ist, wie heute schon gesagt wurde. Ich knüpfe an ein persönliches Erlebnis an. Eine Kollegin vom dortigen Institut für Autonomiefragen, also sozusagen vom Partnerinstitut des Instituts für Föderalismus in Barcelona, hat in einer Rede vor ein paar Wochen gesagt – sinngemäß –: Als wir durch die spanische Verfassung 1978 eine Autonomie erhielten, waren wir glücklich und wollten diese Rechte ausschöpfen. Einige Jahre später hielten wir die Autonomie noch immer für gut, aber für stark verbesse­rungs­würdig, und wir versuchten, ihre Mängel zu beheben. Weitere Jahre später sahen wir nur noch die Mängel, weil der spanische Staat nichts für ihre Reparatur unternahm. Und schließlich fühlten wir uns nur noch betrogen.

Mit dem Wort betrogen nahm sie auch auf die Aufhebung von sehr wesentlichen Teilen des Autonomiestatuts der katalonischen Gemeinschaft durch den spanischen Verfas­sungsgerichtshof im Jahre 2010 Bezug, wofür auch der momentane Ministerpräsident Rajoy einen guten Teil der Verantwortung zu tragen hat.

Besonders berührte jedoch die Schilderung, wie die spanische Polizei das Institut auf der Suche nach wer weiß was durchsuchte. Das war auch ein Vorgang, den die anwesenden Kolleginnen und Kollegen aus Indien, Nigeria oder Argentinien offenbar noch nie erlebt hatten.

Seither ist noch mehr geschehen. Mein Kollege Carles Viver, seinerzeit Vizepräsident des spanischen Verfassungsgerichtshofes, ist in Anwendung von Artikel 155 der spanischen Verfassung seiner Funktion enthoben worden und ist mit einem Strafver­fahren konfrontiert. Zwei weitere Mitarbeiter wurden ebenfalls entfernt. Zwischenzeitlich hat die Europäische Union der spanischen Zentralregierung ihre volle Unterstützung zugesichert.

Dieser Fall zeigt deswegen auch ein wenig das Problem: Irgendwie fühlen wir uns hinsichtlich der europäischen Verfassung ähnlich wie hinsichtlich der spanischen Verfassung. Anfangs kann man sagen, dass die Regionen gut in dieser europäischen Verfassung aufgehoben sind, mit der Zeit aber entdeckt man die Mängel. Nun geht es meines Erachtens darum, diese Mängel – anders als in Spanien – zu sanieren.

Die Europäische Union hat mit dem Topos vom Europa der Regionen ein Schlagwort produziert, mit dem man Buchpreise gewinnen kann, hellsichtige Essays schreiben kann, als Intellektuelle, Intellektueller reüssieren kann, aber mit der Realität hat das nicht allzu viel zu tun.

Das Europa der Regionen spielt sicherlich dort eine Rolle, wo die Union mit den sanften Instrumenten der Programme und Strategien arbeitet, also in der Multi-Level Governance, in der Regionalpolitik. Abseits von dieser Multi-Level Governance im Bereich der Unionsrechtsetzung dominieren die Nationalstaaten den Entscheidungs­pro­zess auf der EU-Ebene. Es ist heute mehrfach das Wort Nationalismus gefallen. Ja, die Europäische Union beruht auf einem Nationalismus, es ist noch immer der Nationalismus der EU-28 – vermutlich bald der EU-27.

Ich werde Ihnen die Gründe für den enttäuschenden Befund nennen. Es gibt letztlich keine effiziente Mitwirkung der Länder und Regionen am EU-Entscheidungsprozess. Diese läuft über zwei Schienen, über den AdR, der letztlich keine rechtlich verbindliche Stellungnahme abgeben kann, und über die nationalen Parlamente. Das wäre in Österreich – das haben wir heute mehrfach gehört – das geringste Problem, weil die Zusammenarbeit zwischen den Landtagen und dem Bundesrat eine hervorragende ist und weil der Bundesrat – auch das wurde heute bereits gesagt – bezüglich Subsi­diaritätsprüfung Best-Practice-Beispiel in Europa ist.

Deutlich problematischer sind dann aber die Schwächen des Verfahrens der Subsi­diaritätsprüfung. Die Erfahrungen seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon haben bestätigt, dass die vorgegebenen Fristen von acht Wochen – auch das wurde heute schon erwähnt – viel zu knapp sind. Wenn Kommissar Hahn sagt, dass einein­halb Jahre Rechtsetzungsprozess zu viel beziehungsweise lang genug sind, dann hat er natürlich recht, aber man sieht an diesem Beispiel, dass dann eine Verlängerung von der derzeitigen Achtwochenfrist auf zwölf Wochen, wie es heute gesagt wurde, wohl auch noch möglich sein wird.

Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gab es meines Wissens lediglich drei Anwendungsfälle, in welchen die erforderliche Zahl der Stimmen erreicht wurde. In zwei von diesen drei Fällen beschloss die Kommission, die Vorschläge weiterzu­ver­folgen, ohne die Bedenken der nationalen Parlamente zu berücksichtigen. Es gab nach meiner Berechnung lediglich einen Fall, bei dem die mitgliedstaatlichen Parlamente – man kann auch sagen: Mitgliedstaaten und Regionen – erfolgreich waren.

Demgegenüber steht die Tatsache, dass seit dem Jahr 2010 bis einschließlich 2016 insgesamt 350 begründete Stellungnahmen mit Subsidiaritätsrügen von nationalen Parlamentskammern eingebracht wurden. Dieses Verhältnis ist zweifellos ein Miss­verhältnis; das muss verbessert werden.

Der nächste Kritikpunkt richtet sich an die Mitgliedstaaten selbst und auch an die natio­nalen Parlamente: Es gibt bisher so gut wie keine Judikatur des Europäischen Gerichtshofes zum Subsidiaritätsprinzip – das heute bereits mehrfach zur Sprache gekommen ist –, auch deshalb, weil es so gut wie keine Klagen der Mitgliedstaaten beziehungsweise der Mitgliedstaaten im Auftrag ihrer nationalen Parlamente gibt.

Da gibt es also offenbar ein schwarzes Loch. Es gibt zahlreiche Subsidiaritäts­bedenken, denen im Verfahren durch die Europäische Kommission im Rechtsetzungs­prozess offenbar keine Rechnung getragen wird. Der nächste Schritt aber, nämlich das Subsidiaritätsprinzip auch einmal rechtlich einzufordern und vom Europäischen Gerichtshof zu hören, was er denn dazu sagt, wurde bisher noch nicht gesetzt. Deswegen auch hier mein Appell gerade an Sie: Nützen Sie die Rechte, die Ihnen zur Verfügung stehen – so viele sind es ja nicht!

Ich komme daher auch schon zu meinen Schlussfolgerungen. Der Befund ist ein eher ernüchternder: Die Verheißung einer Partizipation der Regionen im Wege des AdR am Entscheidungsprozess hat sich ebenso wenig erfüllt wie die des Frühwarnmecha­nismus und des Verfahrens der Subsidiaritätsprüfung. Das ähnelt eben ein bisschen den Erfahrungen der Katalanen mit ihrer Zentralregierung.

Die Folgerung, die sich daraus ergibt: Wir müssen versuchen, an diesen Rahmen­bedin­gungen anzusetzen. Abseits dieser – wenn man das ein wenig überspitzt formu­lieren will – Wohlfühlprogramme makroregionaler Strategien haben die Regionen von der Union derzeit, wenn sie passiv bleiben, nicht allzu viel zu erwarten.

Im Gegenteil, ich glaube, dass gerade die Katalonienkrise dazu führen wird, dass die Mitgliedstaaten Autonomiebestrebungen noch kritischer als bisher gegenüberstehen werden und dass sie sich auf der europäischen Ebene – und noch einmal: auf der europäischen Ebene dominieren noch immer die Nationalstaaten den Entscheidungs­prozess – vor allem wenig anstrengen werden, um eine Aufwertung der Regionen und Länder zu erreichen.

Es ist schon auch paradigmatisch – es wurde daher schon erwähnt –, dass Joschka Fischer in seinem Gastkommentar im „Standard“ vor ein paar Tagen bereits im Titel „Europa versus Regionalismus“ Europa und die Regionen gegeneinander ausspielt. Man muss und sollte das natürlich keineswegs überbewerten, aber es bringt zum Ausdruck, was sich viele Entscheidungsträger auf der europäischen Ebene denken.

Was daher die Empfehlung ist: Ich glaube, dass die österreichischen Länder versuchen müssen, ihre hervorragenden verfassungsrechtlichen Partizipationsrechte gegenüber der Bundesregierung auszunutzen, damit der Mitgliedstaat Österreich noch stärker als bisher für die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips eintritt. Meine Empfehlung hinsicht­lich der Subsidiaritätsklage wiederhole ich an dieser Stelle ebenfalls.

Und eine letzte Überlegung: Die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips im Wege des Mitglied­staates Österreich in der Reform der EU durchzusetzen, das ist eine Sache, das ist sozusagen der pragmatische Schritt. Worüber wir grundsätzlich vielleicht nachdenken sollten – das lasse ich jetzt einmal sickern –, ist die Umgestaltung der Europäischen Union zu einem Bundesstaat, der dann aber vielleicht durchaus mehr als nur 27 Mitglieder haben kann. – Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall.)

12.40

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Professor Bußjäger.

12.40.20Diskussion

 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Bevor wir nun in die Diskussion einsteigen und ich dem nächsten Redner das Wort erteile, darf ich darauf hinweisen, dass die Redebeiträge die Dauer von 3 bis 4 Minuten nicht überschreiten sollen. Ich ersuche gleichzeitig, diese Vorgabe einzuhalten.

Als Nächster zu Wort gelangt Herr Bundesrat Längle. – Bitte.

 


12.40.44

Bundesrat Christoph Längle (FPÖ, Vorarlberg)|: Herr Präsident! Sehr geschätzte Fachreferenten! Sehr geehrte Landtagspräsidenten! Sehr geehrte Damen und Herren! Seien wir froh, dass wir heute diese Debatte führen, denn die Zukunft der Euro­päischen Union, die Zukunft unseres Europa ist sehr wichtig.

Um aber die Zukunft positiv bestreiten zu können, ist es wichtig, dass wir die Vergan­genheit verstehen und diese auch richtig deuten. Leider ist es vorgekommen, dass wir in der Vergangenheit doch einige Fehler gemacht haben, speziell auf EU-Ebene, aber auch sonst gibt es in Europa viele Probleme und Herausforderungen. Zu nennen sind die Vorkommnisse in den ehemaligen Staaten auf dem Balkan: In Ex-Jugoslawien wurden – von der EU auch befürwortet – Wirtschaftsräume geschaffen, die selbst wirtschaftlich nicht überlebensfähig sind. Das ist ein Problem, und da muss man leider sagen, dass da falsch reagiert wurde.

Zusätzlich gibt es an den Rändern der EU einige große Herausforderungen. Es gibt immer noch die Konflikte in der Ukraine, wir haben zum Beispiel mit Moldawien auch einen Nachbarstaat der Europäischen Union, der von politischer Instabilität geprägt ist und wo es leider auch sehr viel Korruption gibt.

Stichwort Brexit: Da haben wir eine recht seltsame Konstellation. Zum einen gibt es da die Schotten, die bei der EU bleiben wollen, und andererseits die Engländer, die von der EU weg wollen. Es wird sich zeigen, wie die EU, die dann nur noch aus 27 Staaten besteht, damit umgehen wird. Meiner Meinung nach ist Großbritannien schon ein sehr wichtiger Partner der Europäischen Union, und es war auch in den letzten Jahrzehnten immer ein wertvoller Partner.

Herr Mag. Schallenberg hat vorhin gesagt, der Brexit ist als Weckruf zu verstehen. Es klingt auch fast so wie formatio, deformatio und reformatio, in Anlehnung an das Jahr 1517. Es gibt viel zu tun: Wir müssen damit beginnen, den Europäischen Rech­nungshof zu reformieren und ihm volle Prüfmöglichkeiten einzuräumen, aber auch die Steuertransparenz einzuführen. Die in den Panama Papers und Paradise Papers und all den anderen angeführten Dinge, bei denen viele Steuergelder abwandern, müssen wir endlich abschaffen und ihnen mit entsprechenden Kontrollen und Gesetzen entge­genwirken.

Es ist auch wichtig, dass es zwischen den einzelnen Staaten Gleichberechtigung gibt. Wir müssen den Ausbau der Wahlmöglichkeiten forcieren und auch die EU in sich selbst umbauen, wie das schon Herr Mag. Pfeifer ausgeführt hat.

Grundsätzlich wurde vorhin gesagt, dass die Subsidiarität sehr wichtig ist; dem möchte ich mich als freiheitlicher Politiker gerne anschließen. Das ist auch nichts Neues: Schon Ende des 19. Jahrhunderts hat Papst Leo in seiner Enzyklika Rerum Novarum gesagt, dass das sehr wichtig ist, denn im Kleinen passiert viel Gutes. Im Kleinen ist man direkt an den Problemen dran und kann besser auf die Dinge einwirken. Dies gilt es zu unterstreichen, das haben auch die Vertreter der Landtage so gesagt, daran müssen wir arbeiten.

Schlussendlich möchte ich festhalten, dass es für uns Freiheitliche wichtig ist, dass wir ein Europa des Miteinander, dass wir ein Europa der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit haben, aber den Gedanken des subsidiären Europa nicht hintan­stellen dürfen, sondern diesen in den Vordergrund stellen und ganz gezielt auf die von mir angesprochenen Probleme eingehen müssen.

Dann wird es uns gelingen, Europa so zu bauen, dass wir größtmögliche Zufriedenheit erreichen und in eine tatsächlich bessere Zukunft blicken können. – Danke. (Beifall.)

12.44


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Herr Kollege Längle.

Als Nächster gelangt Herr Templ von der Bundesarbeitskammer zu Wort. – Bitte.

 


12.45

Mag. Norbert Templ (Bundesarbeitskammer)|: Herr Präsident des Bundesrates! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Präsidenten! Einleitend danke ich dem Bundesrat für diese wichtige und interessante Enquete zur Zukunft Europas.

Ich möchte mich in meinem Redebeitrag in aller Kürze auf ein Thema fokussieren, das in einigen Referaten schon angeklungen ist, das uns besonders am Herzen liegt und das alle Bürger und Bürgerinnen in Europa betrifft, egal wo: in den Gemeinden, in den Regionen, in den Ländern. Für uns ist die Frage der Zukunft Europas untrennbar mit der Frage der Stärkung der sozialen Dimension verbunden. Um es plakativ zu sagen: Wir wollen auch eine Sozialunion.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle gleich einen politischen Einschub. Es gibt politische Kräfte in der Europäischen Union, auch bei uns, die davor warnen, dass sich die Euro­päische Union zu einer Sozialunion weiterentwickelt. Sie verbinden diese Thematik mit der Frage des Sozialmissbrauchs durch EU-Ausländer. Darüber kann man diskutieren, aber das darf nicht dazu führen, dass der an sich positiv besetzte Begriff Sozialunion in ein schiefes Licht gerückt wird. Im Gegenteil, wir brauchen eine breite Debatte darüber, wie die geltenden sozialen Ziele der EU-Verträge – Wohlstand, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt – endlich realisiert werden können. Wir brauchen Weichenstellun­gen für eine soziale Neuausrichtung der EU.

Das erfordert aus unserer Sicht zuerst einmal eine offensive Auseinandersetzung mit den Defiziten des Binnenmarkts. Im derzeitigen Rahmen stehen die nationalen Sozial­modelle in einem Wettbewerb, bei dem sie auf Basis von Lohn- und Sozialkosten sowie der Höhe der Unternehmenssteuern und -investitionen konkurrieren. Die Antwort kann da nur sein: Wir brauchen mehr Europa, wir brauchen eine Ausweitung von europaweit verbindlichen sozialen Mindeststandards und effektive Maßnahmen gegen Sozial- und Steuerdumping.

Es gibt in der Zukunftsdebatte hoffnungsvolle Ansätze: Ich verweise auf die geplante Europäische Säule sozialer Rechte, ich verweise auf die sehr, sehr spannende und wichtige Rede von Jean-Claude Juncker zur Lage der Union, in der er gesagt hat, es darf keine Arbeitnehmer zweiter Klasse geben, es muss überall das Prinzip gelten: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Auch Emmanuel Macron fordert eine Steuer- und Sozialkonvergenz; generell soll der Binnenmarkt mehr ein Konvergenz- denn Wettbewerbsraum sein. – Das sind ganz hoffnungsvolle wichtige Ansätze.

Die Frage einer sozialen Neuausrichtung bedarf auch einer ehrlichen Auseinander­setzung mit den Defiziten der WWU – damit komme ich auch schon zum Schluss. Die Kommission weist selbst immer wieder darauf hin, dass die Mitgliedstaaten hauptver­antwortlich für Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit sind, und sie sagt immer, das EU-Sozialbudget umfasst nur 0,3 Prozent der gesamten Sozialausgaben der Mitglied­staaten. – Das ist richtig, aber die Kommission blendet einen wesentlichen Zusammen­hang aus: Die Mitgliedstaaten sind verantwortlich für diese Politikbereiche, ihre Hand­lungsmöglichkeiten sind aber durch die restriktiven EU-Fiskalregeln massiv einge­schränkt.

Die derzeitige Konstruktion der WWU kostet Wachstum und gefährdet den sozialen Zusammenhalt, daher brauchen wir Einnahmequellen für den Staat in Form einer Finanztransaktionssteuer, aber auch Maßnahmen gegen Steuerflucht, Steuerdumping und Steueroasen. Das wurde alles schon gesagt, aber wir fordern darüber hinaus konkret noch eine goldene Investitionsregel, die bestimmte EU-Zukunftsinvestitionen aus den Defizitregeln ausnimmt. Dazu gehören auch soziale Investitionen, die eine soziale Rendite abwerfen, wie das auch die Kommission sagt.

Ich denke, in diese Richtung müssen wir uns weiterbewegen. – Danke schön. (Beifall.)

12.48


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Als Nächster gelangt Herr Illedits, Präsident des Burgenländischen Landtags, zu Wort. – Bitte.

 


12.48.43

Präsident des Burgenländischen Landtags Christian Illedits|: Herr Präsident! Ich möchte nur das ein wenig ergänzen, was Kollege Templ an uns weitergegeben hat; dazu animiert hat mich der Redebeitrag von Herrn Wojahn.

Ich habe genau dieses Prinzip, das Jean-Claude Juncker uns übermittelt hat – gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort –, schon ganz klar als eine Maxime für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa verstanden. Es kann deshalb nicht egal sein, ob ein Arbeitnehmer aus Ungarn – 150 000 Entsandte gibt es speziell aus den ehemaligen osteuropäischen, jetzt EU-Nachbarn mittlerweile in Österreich – im Burgenland, in Österreich 400, 500, 600 € verdient, der Kollektivvertrag in Österreich in derselben Profession aber bei 1 400 € liegt. 

Das ist moderne Sklaverei, und die dürfen wir in Europa keinesfalls tolerieren und akzeptieren. Deshalb, so denke ich, kann man in den Regionen, in den Ländern nicht versuchen, das Sozialniveau nach unten zu revidieren, sondern, und das ist eben das Entscheidende, diese soziale Säule – die wir zwar von Jean-Claude Juncker ver­nommen, von der wir in einer Überschrift gelesen haben, deren Inhalte uns aber noch nicht zur Kenntnis gebracht wurden muss zur Umsetzung gebracht werden.

Ich denke, auch der ungarische Arbeitnehmer, der jetzt sehr gerne um weniger arbeitet, hat es zweifelsohne verdient, für den gleichen Lohn wie sein Kollege, der auf derselben Baustelle mit ihm arbeitet, der aber Österreicher ist, tätig zu sein. Wenn man dann die Beispiele sieht – vor circa zwei Monaten wurde in Graz eine Baustelle ausgehoben, bei der 800 entsandte Arbeitnehmer unter arbeitsrechtlich sehr schlech­ten Bedingungen gearbeitet haben; das waren Scheinentsendungen, das war Schwarz­arbeit im herkömmlichen Sinne –, dann, denke ich, ist zweifelsohne Handlungsbedarf angesagt.

Es muss unsere Aufgabe sein, da pflichte ich Ihnen bei, für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ganz Europa gleiche Sozialstandards zu schaffen. Wenn Firmen aus Ungarn andere Lohnnebenkosten, andere Personalkosten zu entrichten haben, dann führt das natürlich zu einem Verdrängungswettbewerb und zu einem unfairen Wettbe­werb am Arbeitsmarkt, und zwar nicht nur im Burgenland, sondern auch in anderen Regionen in Europa. Ich denke, die Entsenderichtlinie, so wie sie jetzt trotz der Reform ist, stellt die Basis für Lohn- und Sozialdumping dar.

Da müssen wir noch vieles tun, dass dies abgeschafft wird. – Danke schön. (Beifall.)

12.52 


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Herr Präsident Illedits.

Als Nächster gelangt Herr Bundesrat Schennach zu Wort. – Bitte.

12.52.11

 


Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ, Wien)|: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Professor Bußjäger, Sie sind ja an sich eine kompetente Fachkraft, in sich ruhend, deshalb ist es immer ein bisschen schwer, Ihnen zu widersprechen. Heute haben Sie aber die pessimistischste Rede, die ich seit Langem gehört habe, gehalten, darum versuche ich, das aus der Praxis ein bisschen zu relativieren.

Ja, Sie haben recht, von 350 Subsidiaritätsrügen erhielten nur drei die erforderliche Anzahl der Stimmen, und davon war wiederum nur eine erfolgreich, aber schauen Sie sich doch die Praxis an – und der österreichische Bundesrat ist da ja ganz oben auf! Nehmen wir zum Beispiel die Katastrophenschutzrichtlinie: Da gab es eine beispiel­hafte Subsidiaritätsrüge des österreichischen Bundesrates. Innerhalb von 10 Tagen war die Kommissarin hier, hat mit uns diskutiert, und bei dem, was letztlich heraus­gekommen ist, hat man genau unsere Bedenken berücksichtigt, denn Katastrophen­schutz ist eine Weiheangelegenheit im Rahmen des Föderalismus.

Das Nächste: Wettbewerbsrichtlinie, Konzessionsrichtlinie. Wir waren nur acht; zwei Länder, die das schon durchgewinkt haben, haben wir zurückgeholt. Da ging es um das Trinkwasser. Damals haben wir sogar das Antwortschreiben der EU-Kommission als unzureichend zurückgewiesen und haben das in das Plenum gebracht. Daneben ist die Europäische Bürgerinitiative gelaufen, die inhaltlich auch nicht akzeptiert wurde, und trotzdem: Es wurde zurückgezogen.

Nächster Punkt: Saatgut- und Veterinärmedizinrichtlinie, vollgespickt mit delegierten Rechtsakten. Die Kommission hat verstanden und reagiert. Datenschutzrichtlinie: Da wurden ganz viele Dinge aufgenommen. – Insofern darf man nicht nur das sehen, wo wir orange erreicht haben, das heißt, die nötige Anzahl von Subsidiaritätsrügen aus den nationalen Parlamenten, sondern man muss auch sehen, was in dem Prozess bewirkt wurde.

Da wir auch das Außenministerium hier haben: Wie oft sagen unsere Vertreter bei den Ratsverhandlungen, wie wichtig es ist, dass sie Stellungnahmen der Bundesrat macht ganz viele Stellungnahmen! mit auf dem Weg haben, das stärkt ihre Position. Dadurch gibt es Änderungen: Richtlinien werden verändert oder komplett in den Papierkorb geworfen, da gibt es ein großes, weites Feld, lieber Herr Bußjäger. Ob etwas in den Papierkorb kommt, dafür ist nicht nur die Bewertung entscheidend, wie wichtig, gut und wie effizient die Subsidiaritätsrüge beziehungsweise die Verhältnis­mäßigkeitsprüfung ist.

Ich glaube, da haben wir in vielen Dingen wirklich Meilensteine gesetzt, deshalb war ich ein bisschen überrascht über so viel Pessimismus. Der ist gar nicht angebracht.

Ein letzter Punkt: Die Europäische Bürgerinitiative, die müssen wir natürlich verbes­sern, da müssen wir Möglichkeiten für eine Verbesserung finden. Was die Kommission vor allem nicht darf, ist, wenn es zwei Millionen Unterschriften gibt, zu sagen: Unzuständig! Das geht nicht. Wenn zwei Millionen Menschen unterschreiben, kann man nicht sagen: Unzuständig! So etwas geht nicht. Da brauchen wir wesentlich mehr.

In diesem Sinne: Nehmen Sie es mir nicht böse, aber zu viel Pessimismus ist einfach zu viel. (Beifall.)

12.55


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Kollege Schennach.

Zu einer abschließenden Stellungnahme hat sich Herr Lambertz, Präsident des Aus­schusses der Regionen, zu Wort gemeldet. – Bitte.

12.55.57

 


Präsident des Ausschusses der Regionen Karl-Heinz Lambertz|: Herr Präsident! Seien Sie unbesorgt, ich weiß, dass ich das letzte Hindernis vor dem Mittagessen bin, und da muss man sich entsprechend benehmen.

Ich wollte aber trotzdem noch einmal kurz das Wort ergreifen, um Ihnen zu allererst für diese äußerst interessante Veranstaltung, die Sie durchgeführt haben, zu danken, und Ihnen allen, die Sie sich hier geäußert haben, danke ich für die Präzision und das Konkrete an Ihren Aussagen.

Ich glaube, das ist genau das, was wir brauchen: diese Art von Dialog, breit, verstreut über ganz Europa, in den gewählten Körperschaften, aber auch mit der Bevölkerung. Wenn wir das hinbekommen und wenn wir dadurch die Menschen davon überzeugen können, dass Sie sich selbst als Europa sehen – wir sind Europa, nicht die da in Brüssel! –, dann wird das Ganze auf die richtige Spur zu setzen sein. – Da bleibt noch vieles zu tun.

Es ist natürlich klar, dass es am besten wäre, wenn man diesen Laden EU einmal richtig umorganisieren könnte, sodass er auch mit 27 Mitgliedsländern zu funktionieren vermag und nicht mehr so aufgestellt ist, wie er es einmal mit sechs, zwölf oder 15 war. Dann kann man mit einer besseren, einer kohärenteren Europapolitik loslegen. Das Problem bei dem Ganzen ist nur, dass man den Reformprozess nur einstimmig hinkriegt, und da beißt sich die Katze wirklich in den Schwanz, und zwar ganz gehörig.

Ich glaube, man muss sich in Richtung dieser Reform bewegen, aber man muss auch vorher noch einmal beweisen, dass man Ergebnisse liefern kann. Wir können nicht warten, bis wir alles in Ordnung haben, und dann anfangen zu arbeiten; das ist das Schwierige an dieser Restauration. Das ist ein bisschen vergleichbar mit einem alten Haus, das man kauft oder erbt und dann plötzlich feststellt, da ist viel mehr zu tun und das ist sehr viel komplizierter, als man sich das vorgestellt hat.

Es wurde richtigerweise gesagt: Kernthema ist die Subsidiarität. Wir müssen diesen Begriff jetzt einmal so konkret wie möglich machen. Dazu möchte ich Sie vor allem auch auffordern, sich aktiv in der Vorarbeit zur Subsidiaritätskonferenz, auch an den Debatten, die wir auf der Präsidentenebene in Brüssel weiter führen werden, zu betei­ligen. Da ist sehr viel Musik drinnen, da hat der AdR eine der stärksten Waffen über­haupt: Er kann klagen, und zwar sehr schnell, er braucht nur eine qualifizierte Mehrheit.

Bisher waren wir damit ein bisschen vorsichtig, und ich kann Ihnen sagen warum. Ich habe mich, weil ich eben auch aus diesem Metier stamme, sehr oft mit Richtern und Präsidenten am EuGH unterhalten. Wenn ich die reden höre, wie die gegebenenfalls so eine Klage bewerten könnten, dann habe ich große Angst, dass eine voreilige Klage, bei der man nicht viele Chancen hat, zu gewinnen, das ganze Instrument sehr viel schwächer macht, als es heute ist.

Es heißt ja Frühwarnsystem. Woher kommt der Begriff? – Aus der nuklearen Kriegs­führung. Man muss also am besten damit warnen können und nicht dann unbedingt immer losschießen. Da, glaube ich, können wir noch vieles verbessern.

Das ist das, was ich dem Präsidenten ganz konkret am 13. Juni auf der Konferenz in Feldkirch etwas leichtsinnig versprochen habe. Ich wollte ihm für den 27. November in Brüssel einige Vorschläge machen, und meine Mitarbeiter schwitzten schon: Was erzählt er denn jetzt da? Was kriegen wir da hin?

Ich glaube, wir müssen früher und auch sehr informell arbeiten. Der Start muss das genaue Anschauen des Jahresarbeitsprogramms der Kommission sein, und da muss man versuchen, so wie Sie es eben richtig sagten, sehr frühzeitig – auch informell – und koordiniert etwas zu machen. Da, so meine ich, könnten wir einiges hinkriegen.

Auf jeden Fall: Noch einmal vielen herzlichen Dank dafür, dass ich heute hier sein durfte.

Nicht als Weihnachtsgeschenk, sondern eher als Belästigung lasse ich Ihnen noch den Text meiner Rede zur Lage der Union aus Sicht der Regionen und Städte in einigen Exemplaren hier. Also wenn Sie unbedingt etwas mit nach Hause nehmen wollen, dann nehmen Sie das mit – wenn nicht, ist es auch gut. Eine Nachtlektüre ist das nicht unbedingt, aber es steht vielleicht das eine oder andere drinnen, mit dem man etwas anfangen kann. – Vielen Dank und weiterhin auf gute Zusammenarbeit. (Beifall.)

13.00


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Vielen Dank, Herr Präsident Lambertz. Wir fühlen uns nicht belästigt, sondern geehrt. Ich weiß, Sie haben einen Termin im fernen Kaukasus abgesagt und haben gesagt: Ich komme gerne nach Wien. Ich bin im letzten Jahr eingeladen worden, im Bundesrat zu sprechen. Man hat mich so gut aufge­nommen und behandelt, dass ich gerne wieder komme. – Also: Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Beiträge.

Damit ist die zweite Diskussionsrunde beendet. Ich bedanke mich herzlich bei Herrn Dr. Jörg Wojahn, bei Herrn Mag. Georg Pfeifer, bei Herrn Botschafter Mag. Alexander Schallenberg und bei Herrn Universitätsprofessor Dr. Peter Bußjäger für ihre Expertisen und Referate.

Wir setzen um 14 Uhr mit dem Punkt „Die Zukunft der EU – Erfahrungen aus der Praxis“ fort. Dazu haben wir EU-GemeinderätInnen eingeladen. Herr Mag. Harald Witwer, Frau Pia Vinogradova, MA, Herr Mag. Wolfgang Jung und Herr Alois Schmidt werden dann ihre Erfahrungen aus den Gemeinden schildern. Moderiert wird das Ganze vom bekannten Journalisten Mag. Johannes Huber, den ich auch herzlich begrüßen möchte. Wir freuen uns schon auf 14 Uhr, aber jetzt freuen wir uns gemein­sam – auch mit den EU-GemeinderätInnen – auf das Mittagessen. Sie sind so ein großartiges Publikum und sind jetzt zum Mittagessen eingeladen. (Beifall.)

Ich darf die Verhandlungen bis 14 Uhr unterbrechen.

Die Enquete ist unterbrochen.

*****

(Die Enquete wird um 13.02 Uhr unterbrochen und um 14.03 Uhr wieder aufge­nommen.)

*****

 


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl| (den Vorsitz übernehmend): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Vizepräsident des Bundesrates darf ich in Vertretung von Herrn Präsidenten Edgar Mayer die unterbrochene Sitzung wieder aufnehmen. Er wird dann in circa einer Stunde wieder zu dieser Enquete zurückkom­men.

14.03.32IV. „Die Zukunft der EU – Erfahrungen aus der Praxis“

 


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Wir kommen nun zu unserem dritten Block mit dem Thema „Die Zukunft der EU – Erfahrungen aus der Praxis“.

14.03.49Diskussion mit EU-GemeinderätInnen

 


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Ich darf für diese Diskussion unseren Moderator, Herrn Mag. Johannes Huber, herzlich willkommen heißen und die EU-Gemeinderätinnen und EU-Gemeinderäte bitten, auf der Regierungsbank Platz zu nehmen – was Sie ja bereits getan haben. Für die Diskussion mit den EU-Gemein­derätinnen und EU-Gemeinderäten steht ein Funkmikrofon zur Verfügung.

Ich darf somit das Wort gleich an unseren Herrn Moderator übergeben. – Bitte.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Wir kommen nun zum Praxistest. Wir haben schon sehr viel über die Notwendigkeit von Subsidiarität und Bürgernähe gehört. Es ist dann immer die Frage, wie das bei den Bürgern ankommt. Heute sind vier Vertreter, die das wissen, wie kaum andere Personen es wissen können, nämlich Europagemeinderäte, hier. Bei 512 Millionen EU-Bürgern ist es ja leicht gesagt, bürgernah sein zu wollen, aber das Tun ist dann eine andere Herausforderung und eine andere Frage.

Wohl vor diesem Hintergrund haben das Außenministerium und die Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich 2010 beschlossen, „Europagemeinderäte zu schaffen“ – unter Anführungszeichen –, also möglichst viele Gemeinderäte und Bürger­meister einzuladen, als Europagemeinderäte zur Verfügung zu stehen. Sie haben die Funktion, sozusagen die Ansprechpartner und das Gesicht Europas vor Ort zu sein.

Diese Menschen sind wirklich am Puls der Zeit, können wahrscheinlich in Summe viel mehr als jeder Meinungsforscher, als jede Eurobarometerumfrage, so qualitätsvoll sie gemacht wird, zum Ausdruck bringen kann, sagen. Daher ist es sehr schön, dass wir vier der insgesamt 900 Vertreter, die es in Österreich mittlerweile gibt, bei uns begrüßen dürfen.

Ich darf sie der Reihe nach vorstellen. Ich beginne bei Pia Vinogradova. Sie ist aus dem Burgenland und war bis zur Gemeinderatswahl Europagemeinderätin in Neudörfl, einer 4 500 Einwohner zählenden Gemeinde im Burgenland.

Neben ihr sitzt Alois Schmidt. Er ist Gemeinderat und eben auch Europagemeinderat in Oberösterreich, nämlich in der Marktgemeinde Buchkirchen mit 4 000 Einwohnern.

Ganz außen darf ich Wolfgang Jung begrüßen und vorstellen. Er ist einer der ganz wenigen Europäer, die auf allen Ebenen tätig waren. Vielleicht eine kleine Anregung an den Bundesrat, sofern mir das zusteht: Wenn Sie ihn auch noch aufnehmen würden, dann wäre er wirklich in allen parlamentarischen Kammern vertreten gewesen, die es gibt. Er war Bezirksvertreter in Wien, ist jetzt ebenfalls in Wien Landtagsabgeordneter und Gemeinderat für die FPÖ, und er war einer der ersten – er ist in der ersten Runde dabei gewesen – Europaabgeordneten; im Übrigen war er auch schon Mitglied des Nationalrats.

Zu seiner Linken begrüßen wir Harald Witwer. Er ist aus Vorarlberg, Bürgermeister von Thüringen und schon sehr lange mit Europafragen beschäftigt. Er hat schon vor vielen Jahren an der Universität Innsbruck bei Heinrich Neisser Europapolitik studiert und so – wie er dann später auch noch näher ausführen wird – sozusagen Feuer für Europa gefangen, und er lebt das jetzt täglich in der Gemeinde.

Angesagt ist dieser Punkt als Diskussion. Wir haben gedacht, es ist in Anbetracht des Settings viel einfacher, wir lassen jetzt einen Vertreter nach dem anderen in mode­rierten Gesprächen erzählen, wie Europa bei den Bürgern ankommt und von ihnen wahrgenommen wird, wo es Handlungsbedarf und Probleme gibt und – durchaus aus allen natürlich von Person zu Person unterschiedlichen Aussagen schlussfolgernd – wie sich Europa verändern sollte.

*****

Herr Schmidt, ich darf Sie als Ersten bitten, in die Mitte zu kommen, um das Gespräch zu beginnen.

Sie haben auf Ihrer Website einen ganz spannenden Spruch, er lautet: „Seien wir realistisch; versuchen wir das Unmögliche.“ – Ist das, um es salopp zu formulieren, einer der Gründe gewesen, der Sie dazu bewogen hat, Europagemeinderat zu wer­den?

 


14.08

Alois Schmidt| (Grüne): Ja, das ist auch einer davon. Der Spruch kommt aber aus der Zeit, als ich in Nicaragua im Ernteeinsatz war, dort habe ich den Spruch von Che Guevara aus dem Jahr 1963 gelesen und mir gedacht, das ist das, was mich motiviert, um auch Neues anzufangen – ungewiss, aber doch wissend, wohin es geht.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Sie sind jetzt Europagemeinderat und haben das Ohr am Volk. Heute wurde viel über Krisen und darüber, dass sich Europa in einer entscheidenden Situation befindet, gesprochen. Was nehmen Sie im Alltag wahr?

 


Alois Schmidt|: Im Alltag ist es so, dass in der Gemeinde jeder fragt: Was ist Europa? – Europa ist das, was wir jetzt haben: Frieden, einheitliche Reisemöglich­keiten ohne Grenzen in ganz Europa. – Ach so? – Warum stehst du nicht mehr für Europa? – Na, weil die uns da nur so eine Liste vorhalten. – Dann sage ich: Schau dir die andere Seite der Liste an, denn bei jeder Seite gibt es auch eine zweite; du hast auch Vorteile! – Die kenne ich nicht!

Das ist wirklich so. Draußen merken die Leute nicht, welche Vorteile sie eigentlich haben, weil es normal geworden ist, einfach ganz normal, dass man reisen kann, dass man Geld ausgeben kann, ohne wechseln zu müssen. Das ist kein Problem.

Geht es dann aber um die Landwirtschaft, geht es schon los, dann sagt er: Ja, ich brauche die Subventionen, aber jetzt schreiben sie mir vor, wann ich mein Feld pflügen muss, also an diesem und jenem Tag, denn sonst ist die Subvention weg. – Dann habe ich gesagt: Schau dir an, worum es bei dem Ganzen geht! – Ja, ich muss das aus­füllen, ich muss das, ich muss das und das! – Dann stehe ich da und denke mir, ich kenne mich auch nicht aus, da muss ich selbst nachschauen.

Dann habe ich mir gedacht, es gibt die Möglichkeit EU-Gemeinderat zu werden – das mache ich, ich möchte mich informieren! Wie wird man das? – Man meldet sich ganz einfach via Internet an; die Frau Bürgermeisterin, der Herr Bürgermeister bestätigt, dass man Gemeinderat ist. So bin ich es geworden. Ich bin heute noch mit Leib und Seele dabei und will das weitertragen, weil ich merke, dass der Spruch, dass in der Gemeinde Europa anfange, wirklich stimmt. Wenn man dort angekommen ist, dass der Bürger merkt, was Europa für ihn bedeutet, dann trägt er auch Missbildungen, kritische Ausbildungen mit. Man darf aber nicht immer nur sagen: Das ist nichts! – Das ist jedes Mal meine Erfahrung gewesen.

Heute kann in der Gemeindezeitung – sie erscheint bei uns alle zwei Monate – einen Kurzbericht darüber, was die EU macht, schreiben. Ich habe mit den Grundlagen der EU angefangen, mit der Gesetzgebung; dann rufen mich die Leute an und sagen, dass sie das nicht gewusst haben. – Das kann es doch nicht sein! Wer hat denen die EU erklärt? Sie haben ja alle gesagt: Ja, wir wollen beitreten!, und plötzlich sagen sie: Ich weiß es nicht!

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Da wäre also noch viel mehr Information notwen­dig. Haben Sie dazu Vorschläge?

 


Alois Schmidt|: Es braucht einfachere und prägnante Informationen, die erklären, wie der Aufbau aussieht. Mir fehlt einfach eine politische Bildung in der Schule; die ist im Moment wirklich absurd geworden. Ich habe noch gelernt, dass es verschiedene Parteien gibt. Dann kann ich mir aussuchen, was gut und was schlecht ist. Heute nehme ich es einfach an; das, was ich brauche, nehme ich und den Rest gebe ich weg.

Der Vortrag heute Vormittag war super, aber wenn ich ein ganz normaler Bürger wäre, dann hätte ich Kopfweh bekommen, weil so oft gesagt wurde: Da gibt es einen Baustein, da noch einen. – Wo ist aber der richtige Baustein, den ich jetzt brauche?

Herr Professor Bußjäger hat mir das richtige Stichwort gegeben. Negativ finde ich es nicht, was Sie tun; Sie zeigen auf, was passiert, und das gibt mir die Kraft, um zu sagen: Ja, da setze ich an, da kann ich etwas verändern!

In allen Vorträgen waren Punkte drinnen, worüber man sagt, das ist zu nehmen, das ist zum Angreifen – auch für mich persönlich –, das kann ich weitergeben. Da passiert es dann direkt, dass man konkret sagen kann, das schaue ich mir an, das möchte ich geändert haben. Wenn ich das dem Bürger weitergeben kann, dann funktioniert es – besser und einfacher, als man oft glaubt.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Kommen bei den Bürgern auch die Krisen an, von denen schon gesprochen wurde und die auch in den letzten Jahren bestimmend waren, Flüchtlingskrise, Brexit et cetera?

 


Alois Schmidt|: Ja, die Flüchtlingskrise, weil plötzlich einfach nur Angst vorhanden ist. Die Angst muss man wahrnehmen, die nehme ich ernst. Warum soll man keine Angst haben, wenn wer kommt? Wenn man es aber erklärt und sagt, das kann nur die EU gemeinsam lösen, nationale Ansätze bringen keine Problemlösung, aber dann die EU sagt, sie wisse, fünf Jahre gäbe es den Konflikt, dann sagt der Bürger: Warum haben sie nichts getan, wenn sie es eh schon wissen?

Da haben wir vielleicht nicht aufgepasst. Vielleicht haben wir einfach erwartet, dass die EU das macht, dass sie zu uns kommt. Wir gehen aber nicht hin und stellen unsere Fragen, was dahinter steckt; wir fragen auch nicht unsere Minister.

Ich finde es so traurig, dass die Abgeordneten zum EU-Parlament, die hören was in Brüssel passiert, nicht hier ins Parlament kommen und berichten können, was sie, die Abgeordneten aller Fraktionen in Brüssel machen. Jedes Monat sollten sie einen Bericht legen; und den Bericht hört dann jeder draußen und alle sagen: Aha, der erzählt etwas anderes! Der Minister kommt nach Hause und sagt: Die sind so gemein zu uns, jetzt haben sie uns wieder überstimmt! – Dabei sind es nur 27 Länder die Ja oder Nein sagen. Wenn einer Nein sagt, dann gibt es das nicht – das versteht draußen aber niemand. Diese Vielfalt ist unmöglich geworden.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Haben Sie ein Bild, das es für die Menschen verständlicher macht, was Europa ist?

 


Alois Schmidt|: Ja, ich habe Honig meiner Bienen mitgebracht. Den übergebe ich dem Herrn Präsidenten. (Der Redner überreicht Vorsitzendem Vizepräsident Gödl ein Glas Honig.) Teilen Sie ihn mit allen, so gut es möglich ist. (Allgemeine Heiterkeit.) Es sind meine Bienen, es sind Biobienen, der ist ausgezeichnet worden. Die Biene fliegt überall hin und fragt nicht, welche Blüte es ist, sie kommt aber zurück in den Stock – und das ist für mich Europa. Europa ist vielfältig und wir können ausschwärmen, wir können zurück und können sagen, das ist unser Europa.

Gestern habe ich ein schönes Beispiel gehört. Reinhold Messner hat am Abend im Fernsehen gesagt, er sei Südtiroler, aber Europäer. Dort sollten wir hinkommen. Ich kann sagen: Ich bin Österreicher, ich bin Oberösterreicher, aber ich fühle mich als Europäer.

Als ich nach Brüssel gefahren bin, habe ich gedacht, das musst du erleben – wun­derbar, eine andere Welt, sozusagen ein anderer Bienenstock. Dort bekommt man Informationen, die frisch sind; dann frage ich mich aber, warum ich die zu Hause nicht habe, warum mir das niemand sagt. Ich kann sie mir bei meiner Fraktion holen, aber ich bekomme sie sonst nicht. Der Zugang mit der europäischen Gemeinde, den man jetzt geschaffen hat, ist super, denn ich kann das jetzt aufgreifen, frage an und bekomme eine Antwort.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Sie werden auch tagtäglich mit Fragen konfron­tiert. Sie sind ja Abgeordneter der Grünen: Spielt da die Partei überhaupt eine Rolle? Gibt es da Scheu oder kommen alle auf Sie zu?

 


Alois Schmidt|: Es kommen alle auf mich zu, das ist das Schöne. 25 Menschen haben sich am Flughafen getroffen, um nach Brüssel zu fliegen. Wir haben uns auf der Fahrt kennengelernt und keiner hat irgendwann einmal die Partei erwähnt. Beim Zusammensitzen hat sich dann jeder vorgestellt, was er tut, welcher Partei er angehört. Ich habe mir dann Folgendes gedacht: Herrlich, man kann mit allen Parteien reden, wenn sie einmal das Klischee ihrer Partei weggeben, wenn sie offen sind.

Ich bin gerne offen, und ich habe irrsinnig viel gelernt. Dort haben 25 Leute zusam­mengearbeitet, fast 13 sind jetzt noch über das Internet verbunden und schreiben sich, was beim einen passiert ist, was beim anderen passiert ist und was man verändern kann.

Im Dorf sagen mir dann alle: Jetzt bist du EU-Gemeinderat, was bekommst du bezahlt? – Nichts! – Das gibt es nicht, jeder, der in der EU ist, wird bezahlt. – Ja, die, die dort arbeiten, werden bezahlt, aber ich nicht; ich bin in der Gemeinde und ich mache das nebenbei. – Ach so, aber das war super, was du geschrieben hast, jetzt weiß ich, wie die EU aufgebaut ist. Das Andere, was du über die Handyverträge geschrieben hast, das haben wir auch nicht gewusst.

Das sind so Kleinigkeiten, die zwar irgendwo in den Medien vorkommen, aber für den Bürger nicht parat sind, die er nicht angreifen kann, sondern die dann wieder weg sind. Das fehlt den Bürgern, und dann kommen sie immer zu mir und fragen: Wann schreibst du wieder? – Ich antworte: Alle zwei Monate erscheint unsere Gemeinde­zeitung, darin steht dann ein Bericht. – Aber du bist ein Grüner? – Es ist egal, was ich momentan bin, es weiß eh jeder im Dorf, dass ich ein Grüner bin, das brauche ich nicht zu schreiben; mir ist die EU wichtig!

Das ist das, was ich draußen, auf der Brüsselreise, kennengelernt habe, dass wirklich von allen Parteien keine besser oder schlechter gewesen ist. Es wäre auch schön, das bei uns zu sehen. Das funktioniert aber anscheinend in der EU besser als bei uns.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Vor diesem Hintergrund, dass es auch darum geht, Europa weiterzuentwickeln – heute ist die Zukunft der EU Thema, das Weißbuch der Europäischen Kommission mit verschiedenen Reformoptionen, vom Status quo bis Vertiefung in allen Bereichen –: Haben Sie Wünsche oder Vorstellungen?

 


Alois Schmidt|: Wünsche habe ich schon, ja, nämlich dass die EU bei gewissen Dingen noch klarer und transparenter werden kann und muss, dass das Parlament gestärkt werden muss, dass auch der Bundesrat gestärkt werden muss. Ich als Öster­reicher stehe zu ihm und finde ihn ganz wichtig. Ich denke auch, dass der Bundesrat in Zukunft eine Aufwertung braucht, da er die Länderkammer ist, die meines Erachtens der nächste Schritt zur EU ist – wenn ich es von mir aus gesehen betrachte.

Auch wenn man mit den Menschen draußen so redet, stellt man fest, dass eigentlich keiner den Bundesrat akzeptiert und alle sagen, die sitzen nur drinnen. Natürlich sitzen sie drinnen, ich sitze auch im Gemeinderat und könnte nichts tun; aber wenn man etwas tut, dann kommt etwas heraus – und das fehlt! Das ist mein dahin gehender Wunsch.

Was für die Zukunft sicher geregelt gehört sind Transparenz und der Finanzmarkt; man ist eh schon auf einem Weg in diese Richtung.

Das Nächste ist die Flüchtlingsfrage: Wie lösen wir sie wirklich? – Sie ist nur gemeinsam zu lösen, und es ist auch zu wünschen, dass man sie endlich einmal gemeinsam in der EU angeht. Es gibt Bestrebungen, die sehr gut ausgerichtet sind.

Diese Wirtschaftsabkommen überfordern einen, man muss fast ein Fachexperte oder eine -expertin sein, um zu sagen, wie die Details aussehen. Wenn man es aber transparent vermittelt, dann versteht es der Bürger draußen ebenso – das fehlt bisher.

Die Zukunft für die EU, muss ich sagen, gibt es aber. Sie muss neu sein, aber mit Herz. Um es einfach zu sagen: Ich darf sagen, ich bin Österreicher, ich bin Ober­öster­reicher, aber ich bin auch ein EU-Bürger.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Es geht sozusagen um mehr Europa, mehr Regionen und ein bisschen weniger nationalstaatliche Ebene. Sie haben ja auch insbe­sondere die Bedeutung des Bundesrates hervorgehoben.

 


Alois Schmidt|: Ja, mehr Regionen! Die Regionen sieht man ja! Es gibt diese Regionsförderungen, Regef heißen sie bei uns. Das sind kleine Projekte, die auch von der EU gefördert werden, und die Leute wissen zum Teil nicht einmal, warum man dort etwas ausbaut oder warum es das gibt. Ich sage: Häng die Tafel auf! Genier dich nicht für das Geld der EU, das haben wir einbezahlt! Die Leute haben aber Angst und sagen: Na, dann heißt es, ich habe etwas von der EU gekriegt. – Darauf sage ich: Das kannst du herzeigen. Da kannst du ja stolz sein. Wir zahlen, und du kriegst etwas zurück.

Das fehlt, es sollte mehr das Bewusstsein geben: Ich bin auch EU. Ich bin ein Ober­österreicher, ich bin aber auch gerne in Wien. – Das fehlt, das muss kommen, das wünsche ich mir. Darum ist der Leitsatz vom Anfang auch wieder mein Leitsatz am Schluss: Versuchen wir das Unmögliche! Es geht. – Vielen Dank. (Beifall.)

14.20


Moderator Mag. Johannes Huber|: Vielen Dank für die Ermunterung.

Herr Jung, ich darf Sie als Nächsten zum Gespräch bitten. Wir haben heute vom Präsidenten des Ausschusses der Regionen gehört, dass es entscheidend ist, wie man Europa in den Gemeinden sieht, ob man Angst davor hat oder ob man es als Chance sieht. Wie sieht man Europa in Wien?

 


14.21

Mag. Wolfgang Jung| (FPÖ): Differenziert, würde ich sagen, sogar sehr differenziert. Es hat aber, glaube ich, auch ein bisschen mit der Europapolitik der Stadt Wien zu tun, die man auch darstellen müsste. Ich habe mit Neid dem Oberösterreichischen Land­tagspräsidenten zugehört, was dort alles läuft, Informationen für die Ausschüsse und so weiter. Das ist in Wien leider nicht der Fall.

Wir hatten gestern in Wien eine Sitzung des Europaausschusses mit drei Tagesord­nungspunkten, zu jedem Tagesordnungspunkt hat man zwei bis drei Blatt Papier bekommen. Das waren nur so unbedeutende Sachen wie den österreichischer Rats­vorsitz 2018 zur Kenntnis zu nehmen, der Kohäsionsbericht mit den Fakten oder die Subsidiarität, ein ganz wichtiger Punkt bei der europäischen Rechtssetzung. Der Bericht dazu hat allein 250 Seiten, wenn man ihn herunterlädt. Elektronisch kriegt man ihn von der Stadt Wien nicht, erst eine Woche vorher, dazwischen liegen Allerheiligen und ein Wochenende. Sie können sich vorstellen, wie viel Zeit man hat, sich zu informieren. Dann wird eine Stunde darüber geredet. Es gibt von keiner einzigen Partei – außer von meiner – eine Wortmeldung dazu.

Das ist Europa in Wien: leider totales Schweigen, die Information beschränkt sich auf ein paar Seiten, wenn man sich nicht zusätzlich etwas holt; und das ist nicht ganz einfach.

Die EU bietet zwar eine Unmenge an Informationen, aber: Gerade der letzte Bericht zur Subsidiarität, über die ja heute viel gesprochen worden ist, ist in Englisch. Ich bin nicht schlecht in Englisch, aber es ist doch eine ziemlich aufwendige Sache, sich im Fachenglisch durch so etwas durchzuarbeiten. Das verstehen auch sehr viele Leute nicht, dazu wird man auch immer gefragt: Wieso kommt da so viel in Englisch? Zahlenmäßig ist die Hauptsprache der EU Deutsch, wenn jetzt die Briten weg sind, bleiben überhaupt nur noch Malta und Irland. Das betrifft auch kleine und mittlere Firmen bei Ausschreibungen und bei Ähnlichem. Wieso erfolgt das nicht?

Mit diesen Berichten kann der Normalbürger gar nichts anfangen, die sind viel zu kompliziert. Das fängt dann meistens so an: unter Berücksichtigung von; Zugrunde­legung des Berichts sowieso; und so weiter. Man müsste sich so viel herunterholen, dass man auch als Mandatar, der ja nicht nur die EU bearbeitet, gar nicht die Zeit hat, das alles zu machen.

Das führt beim Normalbürger überhaupt zu noch viel mehr Unverständnis. Der liest dann halt nur die Überschriften in den Zeitungen, und die sind weitgehend negativ, weil da natürlich die kleineren Sachen angesprochen werden, die den Bürger betreffen. Das sind aber nicht immer die wichtigsten Sache in der EU.

Subsidiarität wäre ein unglaublich wichtiger Punkt. Einem Bürger das zu erklären, ist sehr, sehr schwierig, wenn man hernimmt, was es da alles gibt: Green Card, Yellow Card, alles Mögliche, die Einspruchsmöglichkeiten, die dann von der EU letztlich doch schubladisiert werden. Den Bericht haben wir gestern auch behandelt. Es kommt ja fast nichts durch, man hat das Gefühl, da schreibt man eine Menge Stellungnahmen, aber es kommt bei den ganzen Sachen nichts raus.

Die Skepsis wird meinem Gefühl nach bei den Bürgern größer, nicht gegen die EU an sich, aber gegen die Institutionen, vor allem gegen die Kommission. Es wäre höchste Zeit, dass Herr Juncker abtritt, denn es gibt sehr viele negative Meinungen über ihn in der Bevölkerung.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Was würden Sie sich für Ihre Arbeit als Gemeinderat und als Ansprechpartner zu Europafragen wünschen? Werden Sie als solcher auch auf der Straße angesprochen?

 


Mag. Wolfgang Jung|: Auf der Straße weniger, das Wirtshaus ist in Wien nicht das Thema. Ich war vorige Woche in Oberösterreich – ich bin auch ein geborener Oberösterreicher –, da wird man dann wirklich konkret darauf angesprochen. Da geht es aber auch eher um die Probleme, die den Bürger direkt betreffen oder die er halt merkt, vom Rauchverbot bis zu dieser Geschichte mit den Pommes Frites; es geht um diese Sachen, denn mit Subsidiarität fängt er wenig an. Wenn man das zu erklären anfängt, dann muss man eine kleine Arbeit darüber schreiben und man hat praktisch nicht die Zeit, das dem Normalbürger zu erklären.

Da kann ich nur sagen – es ist vorher schon gesagt worden –: Pass auf, du kannst durch ganz Europa reisen! – Na ja, das ist auch schwierig. Ich bin auf Dienstreise mit einer Zwischenlandung nach Barcelona geflogen. Ich habe sechsmal meinen Pass vorzeigen müssen. Es ist also nicht so, dass man den Pass nicht mehr brauchen würde.

Das kriegt man dann von den Leuten zu hören. Man kriegt eher das Negative zu hören, das stimmt schon.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Wenn ich Sie richtig verstehe, wäre es auch wichtig, dass Sie viel mehr Material und Bilder in die Hand bekommen, die es Ihnen einfacher machen, Begriffe, wie zum Beispiel Subsidiarität, zu erklären?

 


Mag. Wolfgang Jung: Mehr Material braucht es nicht, Material gibt es genug, sehr viel sogar, sondern einfachere Erklärungsmöglichkeiten: Am ehesten gehen Schaubilder oder vielleicht sogar Comics oder so irgendetwas, weil die Leute nicht die Zeit haben, sich durchzufressen und womöglich x Ausdrücke und komplizierte Wendungen nachzuschlagen. Man ist sich selbst in der EU oder auch in den Unterlagen, die wir heute gekriegt haben, nicht einig, was Subsidiarität ist. Da gibt es ja ein Papier, das ganz von der üblichen Meinung abweicht. Solange man sich dort selbst nicht einig ist, ist es schwierig, das wirklich zu vermitteln.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Wohin soll sich Europa aus Ihrer Sicht entwickeln – lassen wir einmal weg, was realistisch ist –, was wäre aus Ihrer Sicht das Ideal?

 


Mag. Wolfgang Jung|: Ich habe in meinem Beruf gelernt, realistisch zu sein, denn dann lässt sich das eine oder andere durchsetzen. Es wird gerade meiner Fraktion immer wieder vorgeworfen, wir wären Europafeinde. Das ist es nicht. Ich habe einmal von einem guten Freund ein Buch geschenkt bekommen, da steht drinnen: Nicht jeder, der dich lobt, ist ein Freund, und nicht jeder, der dich kritisiert, meint es schlecht mit dir. Man muss Fehler – ich will nicht unbedingt gleich Missstände sagen – aufzeigen kön­nen, ohne dass man dafür verteufelt wird. Die Kommission und Brüssel als Ganzes, wenn man es so nehmen kann, sehen anscheinend Europagemeinderäte oder andere Vertreter als Lobbyisten für Brüssel in Österreich. In Wirklichkeit bin ich der Lobbyist für meine Bürger und meine Wähler in Brüssel. Dafür wird man dort zum Teil schief angeschaut.

Es ließe sich aber schon einiges machen. Es wird sich auch einiges machen lassen, aber nicht so schnell. Wir haben heute über die Probleme Grenzland und Arbeits­migration gesprochen. Warum passiert das? – Weil alles zu schnell gegangen ist. Wenn sich das langsam angleicht, schrittweise, mit einer gewissen Geduld, dann wird das problemlos aufgenommen. Wir haben ja auch Einkommensunterschiede zwischen Tirol und Wien, aber die sind in einem verträglichen Rahmen.

Die EU macht immer sehr schnell etwas, was nicht verträglich ist. Das hat man bei Griechenland gesehen, das uns im nächsten Jahr wieder auf den Kopf fallen wird, und bei vielen anderen Bereichen. Langsamer ist also manchmal mehr.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Heißt das jetzt, dass man den Status quo beibe­halten soll, jetzt aber einmal abkühlen lassen und die Integration sozusagen nach­wach­sen lassen soll?

 


Mag. Wolfgang Jung|: Nicht abkühlen, aber vernünftiger, langsamer, schrittweise vorgehen und Korrekturen vornehmen. Es sind schon ein paar Korrekturen, gerade im Bereich der Subsidiarität, notwendig.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Gibt es Bereiche, wo Sie sagen, da braucht es mehr Europa, da braucht es weniger Europa?

 


Mag. Wolfgang Jung|: Ja, durchaus. Es ist ja, glaube ich, heute auch schon erwähnt worden: Im Bereich der Sicherheitspolitik sollte es mehr Europa geben. Das betrifft vor allem auch die Zusammenarbeit der Exekutivorgane. In Richtung europäische Armee wird es in nächster Zeit ein bisschen langsam oder gar nicht gehen, weil da vor allem von den osteuropäischen Staaten zu starke NATO-Interessen vertreten werden, auf die wir hoffentlich in Österreich in der Form nicht einsteigen wollen. Eine Kooperation ist aber in einem sinnvollen Ausmaß möglich, natürlich gerade im Sicherheitsbereich.

Es wird sich auch im Wirtschaftsbereich und so weiter etwas machen lassen, aber sicher nicht auf dem Weg von TTIP und CETA, wo man über die Bürger drüberfährt, sogar innerhalb der österreichischen Parteien; das wollen die Leute gar nicht.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Wäre bei so einer Frage eine europaweite Volksabstimmung das Ideal oder wäre es schwer, in 27 oder noch 28 Mitgliedstaaten jeweils eine Abstimmung dazu zu machen?

 


Mag. Wolfgang Jung|: Eine europaweite Volksabstimmung hätte das Problem, dass über die Kleinen drübergefahren werden kann, und zwar völlig – Macron oder Frau Merkel, egal wer das ist, im Vergleich zum österreichischen Bundeskanzler –, da hätten wir keine Chance, unsere Interessen auch nur einigermaßen unterzubringen, wenn es sozusagen ans Eingemachte geht.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Es sollen also weiterhin die Mitgliedstaaten die Souveränität so weit behalten, dass sie zum Beispiel nicht durch Mehrheitsbeschlüsse überstimmt werden können?

 


Mag. Wolfgang Jung|: Na ja, das gibt es in gewissen Bereichen ja jetzt schon. Aber sicherlich, wenn Sie so fragen, bin ich für ein Europa als Staatenbund und nicht als Bundesstaat. (Beifall.)

14.30


Moderator Mag. Johannes Huber|: Vielen Dank fürs Erste, Herr Jung.

Frau Vinogradova, ich darf Sie bitten, zu mir zu kommen. Sie haben sich wie Herr Witwer auch schon an der Universität mit Europapolitik beschäftigt, Sie haben einen Master dazu gemacht. Sie sind also auch auf der theoretischen Ebene wirklich firm, vor allem aber auch in der Praxis als Europagemeinderätin in Neudörfl. Aus dem Burgen­land hat man immer wieder erfahren, dass es dort durch die europäische Integration sehr viel Profit in Form von Förderungen und Entwicklungen gegeben hat. In jüngster Zeit gibt es aber immer mehr Meldungen über Probleme mit Arbeitsmigration. Wie schaut das in der Praxis aus? Wie nehmen die Burgenländer beziehungsweise Ihre Neudörfler Europa wahr?

 


14.31

Pia Vinogradova, MA| (SPÖ): Ja, es stimmt tatsächlich, ich habe mich auf einer sehr, sehr theoretischen Ebene mit dem politischen Konstrukt der Europäischen Union beschäftigt. Wenn ich aber auf die Erfahrungen eingehe, die ich ja auch hier in Wien mache, weil ich mittlerweile in Wien lebe, die ich im Burgenland als EU-Gemeinderätin gemacht habe, dann ist es schon so, dass die Menschen gerade im Burgenland den Benefit schon sehr stark wahrgenommen haben – ich sage haben –, weil man es auch sieht. Wenn man durch unser wunderschönes Bundesland fährt, dann sehe ich an jeder Ecke, in jeder Gemeinde, in jeder Kommune den großen Benefit, den es ohne die Förderung nie – nie, weiß ich nicht –, aber auf jeden Fall viel, viel später gegeben hätte. Wir haben davon ungemein profitiert. Wir sind beispielsweise zu Beginn ein bisschen unter 70 Prozent – ich glaube, es sind 69,9 Prozent – des Durchschnitts-BIPs der Europäischen Union gewesen. Mittlerweile bewegen wir uns bei fast 90 Prozent. Das ist also schon enorm, und darauf bin ich sehr stolz.

Leider, glaube ich, tendiert der Mensch dazu, im Kollektiv ein bisschen an Amnesie zu leiden, wenn es um die Errungenschaften und darum geht, sich zurückzuerinnern, dass früher nicht immer alles besser war, sondern dass früher vieles auch schlechter war. Es ist meine Aufgabe als EU-Gemeinderätin gewesen, dieser Amnesie ein bisschen entgegenzuwirken, so habe ich sie wahrgenommen. Ich habe aber auch in den Diskussionen ganz stark gemerkt: Mit den Ängsten der Menschen spielt man nicht! Man spielt politisch nicht mit den Ängsten der Menschen. Das ist ganz furchtbar und gefährlich.

Sie haben die Nähe zum Nachbarland, in dem Fall Ungarn, angesprochen. Natürlich ist die Frage, die die Menschen bewegt: Nimmt mir der jetzt meinen Job weg? Wieso wird der eingestellt, wenn ich mich um den Job bewerbe? Genau das ist es, wovon viele meiner Vorredner schon gesprochen haben; es braucht eine Sicherung des Sozial­systems und Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping. Das sind die Dinge, die die Leute wirklich interessieren, denn das ist es, was sie tagtäglich am Arbeitsplatz, in der U-Bahn, überall sehen, hören, spüren. Mit diesen Unsicherheiten wird auch ein bisschen gespielt – und das ist brandgefährlich.

Ich möchte auf Präsident Lambertz zurückkommen, der das dankenswerterweise so schön formuliert hat, dass wir Europa in den Köpfen der Menschen, aber auch in den Herzen der Menschen brauchen. Das ist, glaube ich, das Thema, um das es gehen muss. Wir müssen es schaffen, die Legitimation in Form von Gefühl wieder näher zu den Menschen zu bringen. Europa ist mehr als ein politisches Konstrukt, es ist ein Gefühl, eine Idee, ein Commitment. Wenn wir es nicht schaffen, das wieder in die Her­zen und in die Köpfe der Menschen zu bringen, dann brauchen wir uns darüber, welches Europa wir politisch wollen, nicht mehr zu unterhalten. Das ist meine Erfah­rung.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Sie haben darauf hingewiesen, dass die Probleme der Menschen sehr unmittelbare Themen wie insbesondere den Arbeitsmarkt betref­fen. Spielen da Dinge wie Brexit, Eurokrise, Schuldenkrise, Griechenland gar keine Rolle?

 


Pia Vinogradova, MA|: Sie spielen schon eine Rolle, und da wäre ich bei der zweiten Notwendigkeit, beim Thema Solidarität. Der Solidaritätsgedanke ist auch etwas, das ein bisschen abhandengekommen ist. Ich denke an den Brexit und daran, was gerade in Spanien läuft oder was damals in Griechenland gelaufen ist; diese Entwicklungen sind unglaubliche Zerreißproben für die Europäische Union. Das Wissen darum, dass es im Kleinen wie im Großen Solidarität braucht, ist stark verloren gegangen, und da braucht es, glaube ich, wirklich ein Mehr an Solidarität. Das spielt für die Leute schon eine Rolle, aber es ist jetzt nicht so, dass sie mir die Tür einrennen und sagen: Du, erklär mir jetzt den Brexit! – So ist es nicht. Das sind schon ganz unmittelbare Bezüge, die die Menschen, wenn überhaupt, zum Thema Europäische Union haben.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Können Sie zum Verständnis vielleicht auch schildern, wie es in der Praxis als Europagemeinderätin läuft? Sie haben ja nicht nur den Titel, und die Leute in der Gemeinde wissen unter Umständen, dass Sie das sind und dass man Sie mit Europafragen oder -sorgen konfrontieren kann. Passiert das auch in der Praxis? Wie läuft das? Sie werden ja auch betreut und offenbar vom Außenministerium mit Informationen versorgt, es gibt auch Brüssel-Reisen et cetera.

 


Pia Vinogradova, MA|: Die Leute wissen es schon. Es ist auch so: Wie stark oder wie schwach oder wie wenig man sich dem Thema Europäische Union in den Gemeinden widmet, steht und fällt natürlich wie bei so vielen Dingen mit den Personen, die in den Kommunen sind. Ich kann natürlich regelmäßig Artikel in der Zeitung schreiben, ich kann Veranstaltungen organisieren. Schlussendlich ist aber aus meiner Sicht auch eine gewisse Eigenleistung als Voraussetzung dafür notwendig, weil die Informationen, die man bisher bekommt, doch sehr technisch sind. Die sind als Hintergrundwissen gut, wenn man sich damit näher auseinandersetzt, man kann sich dann Sätze oder Wirtshausdiskussionen darum herumbauen. Wenn ich das Thema jetzt aber nicht so detailliert kenne, dann ist es schon sehr technisch, um daraus Ableitungen für die Kommune zu generieren. In Wirklichkeit würde ich mir wünschen, dass die Infos, die man bekommt, einfach – ich sage es so – praktikabler sind.

Das fängt beispielsweise bei einer Drucksorte für den Schaukastenaushang am Euro­patag an; ich habe keinen Grafiker. Es sind so ganz simple Dinge, die ich nehmen kann, ich kann aufs Gemeindeamt gehen, das fünfmal, zehnmal ausdrucken und in den Schaukasten hängen, für einen Tag oder auch länger. Das sind die Dinge, die ich mir wünschen würde. Der Kollege hat ohnehin gesagt, dass es schon viele Infos gibt, aber die Frage ist, wie verwertbar sie sind. Bei den Schulungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Zugang oder die Kenntnisse rund um die Europäische Union in der Gruppe sehr unterschiedlich waren. Es waren also keine homogenen Gruppen, und da halte ich es schon für schwierig, dass man das immer so verwerten kann.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Gemeinsame Schule sozusagen, hoffentlich mit individuellem Unterricht.

Die Zukunft der EU ist das Thema, Sie haben das schon in Richtung mehr Solidarität angesprochen. Haben Sie eine Vision, ein Bild, wohin sich Europa entwickeln soll? Soll das ein supranationales Gebilde sein, in dem auf der anderen Seite zum Beispiel die Regionen gestärkt werden und die nationale Ebene in den Hintergrund tritt? Gibt es thematische Bereiche, wo Sie mehr Europa wollen, und das andere soll wirklich auf nationaler Ebene bleiben?

 


Pia Vinogradova, MA|: Wie schon gesagt: Bevor die Frage auf dem Tisch liegen soll, ob ich mehr oder weniger Europa oder mehr oder weniger Subsidiarität brauche, geht es für mich darum – und ich sage es noch einmal –, dass es ein Mehr an Europa in den Köpfen und in den Herzen der Menschen braucht, denn sonst sind die anderen Fragen über kurz oder lang obsolet. Kein Gebilde, das sich auf ein gewisses Com­mitment der Bevölkerung stützt, für die es arbeiten möchte, hat Bestand, wenn das Commitment nicht da ist.

Für mich aus der Rolle als EU-Gemeinderätin heraus ist es wesentlich, das Thema EU wieder mehr auf die persönliche Ebene, auf die Gefühlsebene zu bringen, auf die positive Gefühlsebene. Schlussendlich ist das Projekt der Sicherheit, der Hoffnung für mich etwas, was mich noch immer fasziniert. Wenn wir das wieder mehr und stärker in den Vordergrund rücken, dann können wir die Leute so auch wieder für andere Konzepte gewinnen; und die anderen Konzepte werden ohnehin woanders als hier am Tisch ausgemacht. Insofern würde ich mir wünschen, das Thema Europäische Union einfach wieder mehr auf die Gefühlsebene zu bringen.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Das heißt aber auch, man muss sehr behutsam sein, bevor man neue Schritte setzt, damit man sich da nicht schon wieder übernimmt.

 


Pia Vinogradova, MA|: Na, behutsam, das kann ich so jetzt nicht sagen. – Ich würde einfach sagen, wie auch Jacques Delors gesagt hat: „Niemand verliebt sich in einen Bin­nenmarkt.“ Also, man muss schon die Agenda haben: Sicherung der Sozialsysteme, Steuerflucht eindämmen. – Das sind die Dinge, mit denen man die Leute auch – ich sage einmal – auf der Verliebtheitsseite treffen könnte; das behaupte ich einmal. Das Europa der Bilanzen oder das Europa der Wettbewerbsfähigkeit ist schön und gut, aber das ist nicht das, was die Leute tief berührt, weil es auch nicht so nah an der Realität dran ist. Ich sage, der durchschnittliche Mensch in der EU hat konkretere, ganz andere Sorgen als irgendwelche Konzepte. Die sind gut und schön auf der politischen Ebene, aber dort, wo man mit den Menschen in den Kommunen ist, geht es um ganz andere Dinge. (Beifall.)

14.41


Moderator Mag. Johannes Huber|: Vielen Dank, Frau Vinogradova.

Herr Witwer, Sie sind der einzige Bürgermeister in der Runde, wie erwähnt. Sie haben sich auch schon in der Ausbildungszeit, also an der Universität, mit Europapolitik beschäftigt. Wie sind Sie dann auf Gemeindeebene zum Europagemeinderat gewor­den?

 


14.41

Mag. Harald Witwer| (ÖVP): Vielleicht ausgeholt: Es ist tatsächlich so, ich habe mich an der Universität mit dem Thema sehr intensiv auseinandergesetzt, auch auf einer sehr theoretischen Ebene. Ich bin dann wieder nach Vorarlberg zurückgekommen; für mich stellte sich tatsächlich einmal die Frage: Gehe ich nach Vorarlberg, nach Wien oder nach Brüssel? – Für mich war klar: Es kann nur das Ländle sein, da kommt nichts anderes in Frage.

Mir war es aber schon wichtig, meine theoretischen Gedankengänge auf den Boden zu bringen, und mir war einfach wichtig, dass das Thema EU, das in sehr vielen Köpfen sehr abstrakt ist, auch mit Leben gefüllt wird. Ich glaube, das darf nicht nur ein Kopf-, sondern das muss ein Herz- beziehungsweise ein Bauchthema sein. Ich denke, wenn es im Bauch ankommt, dann ist es richtig angekommen.

Ich habe dann gemerkt, als ich 2010 zum Bürgermeister gewählt wurde, dass die Anfangseuphorie eigentlich schon lang entschwunden ist, dass man meint, dass Brüssel sich vielleicht von den Leuten entfernt hat. Mir war es dann wichtig, dass man, wie gesagt, das Thema auch zu den Menschen bringt.

Es hat sich die Situation ergeben, dass wir über den Vorarlberger Gemeindeverband mit Erwin Mohr, der eigentlich in Vorarlberg sehr bekannt ist und eine tragende Rolle gespielt hat, nach Brüssel gefahren sind. Dann hat man auch Gemeinderäte gesucht, und ich habe mir gedacht: Eigentlich braucht die EU Verbündete in den Gemeinden, in den Regionen, und ich möchte ein Verbündeter der EU in der Region sein und mich dafür einsetzen, dass ich die EU den Leuten ein Stück weit näherbringen kann.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Sie sind ja im Alltag wahrscheinlich sehr viel­schichtig mit Europa konfrontiert, zum einen als Europagemeinderat mit Sorgen und Anliegen der Menschen zu allen möglichen Fragen der europäischen Integration, zum anderen aber auch als Bürgermeister mit konkreten Projekten, die zum Teil kofinanziert sind, et cetera. Wie läuft das?

 


Mag. Harald Witwer|: Das ist natürlich richtig. Zum einen ist man mit den Alltags­themen konfrontiert, wo man schon gewisse Stimmungen spürt. Ich glaube, das Thema, das in der Vergangenheit alle beschäftigt hat, war natürlich das Thema Ge­mein­same Außen- und Sicherheitspolitik, wo ein subjektives Empfinden da war – und wahrscheinlich nicht ganz unbegründet –, dass es die EU nicht schafft, das in den Griff zu bekommen.

Das Zweite ist natürlich, dass man als Bürgermeister – und das spüren auch die Menschen – mit einer gewissen Regulierungswut konfrontiert ist, die es schwierig macht, auch als kleine Gemeinde mit diesen Sachen umzugehen.

Wenn Sie jetzt Projekte ansprechen: Ich glaube, ein wirkliches Vorzeigeprojekt ist Leader. Es ist uns gelungen, auch in der Region einige Leader-Projekte aufzustellen und zu lukrieren. Die Kofinanzierung ist toll; es ist auch wichtig, dass man das den Men­schen sagt. Das geschieht leider viel zu wenig, weil man ja gern auf die EU schimpft, aber die Benefits dann quasi schon bei sich lässt.

Was wir da bemerken, ist, dass die Umsetzung der Projekte die eine Sache ist, aber dann die Abrechnung und die Nachweiserbringung schwierig ist. Da stößt man schon an seine Grenzen. Vorarlbergisch gesagt: Da könnt’ ma ab und zu vergizla. Da hat man also wirklich ein Problem, man stößt an Grenzen und wird schikaniert.

Das ist natürlich auch nur ein subjektives Empfinden. Die Maßstäbe sind aber so hoch gesetzt, dass ich glaube, dass wir Wege finden müssen, dass man auch im Kleinen Projekte umsetzen kann, dass man nicht ein Controlling für das Controlling braucht, das noch einmal kontrolliert werden muss. Man sollte die Leute arbeiten lassen; natürlich braucht man Controllinginstrumente, sollte aber versuchen, die Menschen vor Ort arbeiten zu lassen, ohne unnötige bürokratische Hürden einzubauen.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Wäre also Deregulierung in zweifacher Hinsicht, zum einen aus dem Verständnis der Menschen heraus, dass da zu viel reguliert wird, und zum anderen für Sie als Bürgermeister, so ein konkreter Schritt, der gesetzt werden müsste?

 


Mag. Harald Witwer|: Ja, ganz genau. Man hat oft das Gefühl, dass sich die EU – sage ich jetzt – nicht um die wichtigen Sachen kümmert. Wir haben es davor auch schon gehört, ich möchte jetzt nicht mit Gurkenkrümmung, Pommes und solchen Sachen anfangen; das ist aber natürlich das, was bei den Menschen hängen bleibt.

Es geht aber auch den Betrieben vielfach so. Man ist mit so vielen Vorschriften konfrontiert, dass gerade auch kleine Betriebe und kleine Gemeinden an ihre Grenzen stoßen und es dann wirklich sein kann, dass man sagt, okay, man lässt es lieber bleiben, weil man sich einfach nicht in der Lage sieht, über diese bürokratischen Hür­den zu kommen.

Da hat sich auch ein Grundbild festgesetzt – das ist gar nicht immer gerechtfertigt, aber trotzdem festgesetzt –, und die EU schafft es nicht, davon wegzukommen, auch, wie ich glaube, weil sie – die Kollegin hat es angesprochen – eigentlich sehr komplex formuliert. Wenn man von der EU Schreiben bekommt, sind diese sachlich gut, und wenn man sich mit dem Inhalt intensivst auseinandersetzt, kann man dem hoffentlich auch folgen. Aber das auf den Boden zu bringen, ist wirklich eine große Heraus­forde­rung.

Ich glaube, auch wenn man sich die Medienlogik anschaut – Sie wissen das ohnehin am besten –: Man muss das schlussendlich herunterbrechen, in der Botschaft vereinfachen, vielleicht auch einmal den Mut zur Lücke haben, nicht jedes Detail konkret benennen, sich einfach auf die wesentlichen Botschaften konzentrieren. Ich glaube auch, die EU wäre gut beraten, quasi in der Kommunikation einfacher zu werden.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Stichwort Zukunft der EU: Deregulierung ist eines der Beispiele für die Vorstellungen, die Sie haben, für die Vorhaben, die umgesetzt werden müssen. Darüber hinaus war heute auch schon das Weißbuch ein Thema, die fünf Optionen, die fünf Szenarien. Haben Sie ein bevorzugtes?

 


Mag. Harald Witwer|: Eigentlich nicht; ich habe es ja schon gesagt, und es geht auch in diese Richtung: Ich glaube, man muss sich darauf verständigen, dass die EU wesentliche Themen bearbeitet. Ich denke, da gehört gerade auch das Thema Außen- und Sicherheitspolitik dazu. Da muss die EU aber natürlich auch die Kompetenzen bekommen; das bedeutet für die Nationalstaaten auch einen Verlust, das ist klar.

Ich glaube aber, dass man sehr viele Sachen in der Region gut lösen kann. Ich glaube, dass wir im Ländle – das ist auch im Burgenland nicht anders als in Oberösterreich – schon wissen, was wir brauchen, und da soll man uns arbeiten lassen, sage ich immer. Das ist jetzt vielleicht ein bisschen polemisch, aber es ist schon so, dass man sehr viel zu regulieren versucht, und ich glaube, dass nicht alles immer vergleichbar ist. Wenn man es schafft, dass man die Regionen möglichst frei arbeiten lässt – ich weiß, das hat natürlich auch seine Grenzen –, es aber auf der anderen Seite auch schafft, wesent­liche Punkte europäisch zu lösen, dann wird, denke ich, die Zustimmung zu Europa auch größer sein.

Natürlich hat aber auch jeder seinen Beitrag dazu zu leisten. Das möchte ich auch sagen, weil es die Tendenz gibt, dass man, wenn man aus einer Gemeinde kommt, einmal auf die Landeshauptstadt schimpft, dann schimpft man auf Wien, und auf Brüssel schimpfen sowieso alle. Das müssen wir unbedingt in den Griff bekommen, damit müssen wir aufhören. Da muss sich jeder selbst an der Nase nehmen.

Die EU wird viel schlechter behandelt, als sie ist. Sie hat ihre Probleme, man muss das natürlich auch ansprechen, aber man sollte immer das sehen, was sie ist: ein Friedensprojekt, das seinesgleichen sucht. Ich habe es zwar nicht erlebt, aber es gab eine Zeit, da haben sich die Franzosen und die Deutschen die Köpfe eingeschlagen, ganz lapidar gesagt. Das haben wir Gott sei Dank nicht mehr. Wir haben trotzdem noch Konflikte auch in Europa, und es gibt Länder – ich war vor Kurzem zum Beispiel in Moldawien –, bei denen es dringend erforderlich wäre, dass man auch versucht, sich einzubinden.

Vielleicht noch ein Satz dazu: Wir haben über die Schritte und über die Tempi ge­sprochen. Meiner persönlichen Sichtweise nach entwickelt sich Europa nicht schlecht. Ob man es mit Samthandschuhen angreifen muss, weiß ich nicht, aber ich glaube, wichtig ist, dass man die Menschen in den Schritten schon mitnimmt. Ich denke, dass die EU die Menschen ein Stück weit mit ihrer Entwicklungen überfordert hat, von 12 auf 15 auf 27 Mitgliedstatten und so weiter. Da sind die Menschen nicht mehr mitge­gangen. Ich glaube, dass man das Tempo schon etwas reduzieren muss, man muss sich festigen.

Ich sehe den Brexit als Chance, weil Großbritannien immer schon ein eigenes Tempo gegangen ist; das war gegenüber Zentraleuropa einfach ein ganz anderes Tempo. Ich denke, dass das eine Chance sein kann, wenn man es richtig angeht. Es muss sich aber festigen, und ich glaube, dass die EU dann sehr wohl eine Chance hat. Ich werde mich auf jeden Fall dafür einsetzen.

 


Moderator Mag. Johannes Huber|: Es bräuchte offensichtlich noch viel mehr Europagemeinderäte. Kann man es so zusammenfassen, dass es auf der einen Seite Europa und auf der anderen Seite die Bürger gibt, die einander nur bedingt verstehen?

 


Mag. Harald Witwer|: Ich befürchte das, ja. Eigentlich müssten wir in jeder Gemeinde verpflichtend einen Europagemeinderat installieren. Nein, das muss natürlich freiwillig sein, und wie die Kollegin auch gesagt hat: Das hängt natürlich an den handelnden Personen. Man muss das Ganze mit Leidenschaft machen, mit Engagement. Wenn man es aufoktroyiert bekommt, funktioniert es natürlich nicht.

Ich denke aber, wenn wirklich pro Gemeinde oder pro Stadtteil ein Europagemeinderat vertreten wäre, der das leidenschaftlich macht, dann würde man das Thema auf den Boden und an die Menschen bringen. Ich glaube, das könnte schon ein Zukunftsmodell sein. Das Modell gefällt mir sehr gut, es gehört aber noch ausgeweitet. Ja, das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. (Beifall.)

14.50


Moderator Mag. Johannes Huber|: Vielen Dank, Herr Bürgermeister. Alles Gute!

Herr Präsident, damit darf ich Ihnen wieder das Wort übergeben.

 


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Danke für die interessanten Rede­beiträge.

14.50.11Diskussion

 


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Wir kommen nun zur allgemeinen Diskussion. Ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die kommenden Rede­beiträge nicht länger als circa 3 bis 4 Minuten dauern sollen.

Als Erste zu Wort gemeldet ist Frau Barbara Sieberth, Landtagsabgeordnete aus Salzburg. – Bitte, Frau Abgeordnete.

 


14.50.42

Mag. Barbara Sieberth (Abgeordnete zum Salzburger Landtag)|: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Europagemeinderäte! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich habe mich entschlossen, mich bei dem Praxisteil zu melden, weil ich ein paar Dinge aus meinem Erleben einfach teilen möchte, die mir halt auch vom Vormittag dann noch übergeblieben sind.

Zum einen komme ich aus Salzburg. Salzburg ist eine Grenzstadt, wobei wir das lange nicht mehr als Grenzstadt wahrgenommen haben, weil in Richtung Deutschland alles offen war. Mittlerweile gibt es wieder Grenzkontrollen auf deutscher Seite, und das empfinden viele in Salzburg, aber auch in Freilassing und in anderen angrenzenden Regionen als ärgerlich.

Zum anderen bin ich Landtagsabgeordnete, und auch wir verfügten bei uns im Haus über die Subsidiaritätskontrolle. Wir haben aber alle gemerkt, das ist kein leichtes Instrument für uns. Wir haben sie auch nicht wahnsinnig oft ausgeübt. Es ist auch immer damit verbunden, gegen etwas zu sein oder gegen Europa etwas abwehren zu müssen. Das ist also keine gestaltende Kraft, sondern eher eine abwehrende, schüt­zende Kraft. Das empfinde ich jetzt nicht sehr als Vorwärtskommen, nämlich auf der Landtagsebene.

Wir haben mit Dr. Schausberger einen sehr renommierten Experten im Ausschuss der Regionen, und als Stellvertretung fungiert unsere Landtagspräsidentin, beide machen das sehr engagiert. Trotzdem merke ich, dass sozusagen die Verbindung des Landtags mit dem Europaausschuss eine sehr oberflächliche ist. Das liegt nicht an den beiden handelnden Personen, sondern am System, wie das sozusagen hineinwirkt und wie wir auch wieder dort hinwirken könnten. Der Austausch funktioniert sehr, sehr wenig.

Ich bin auch aktiv in einem Verein, der im Menschenrechtsbereich arbeitet. Wir waren fast eingeladen, in einer Leader-Region ein Projekt einzureichen; sie waren wirklich sehr zuvorkommend und wollten, dass wir da mitwirken, trotzdem haben wir dieses Projekt ablehnen müssen, weil es für uns als kleine Vereinsstruktur nicht möglich war, die finanziellen Risiken einzugehen, die dieses Leader-Projekt in der Vorfinanzierung und so weiter mit sich gebracht hätte.

Ich habe aber auch positive Erfahrungen gemacht. Wir haben in Salzburg einige Bürger-/Bürgerinnenräte abgehalten, und da kommen aus ganz verschiedenen Ecken Menschen zusammen, die sehr substanziell gute Ergebnisse liefern. Solche Instru­mente kennen wir, wir müssten sie einfach nur viel öfter einsetzen. Auch das Thema Europa kann man damit sehr gut spielen.

Ich habe lange in einem Verein mit Jugendlichen gearbeitet, der Erasmus+, damals Jugend in Aktion, beraten hat. Die heutige Generation der Jugendlichen wächst schon in einem Europa auf, die kennt nichts anderes. Die genießen die Freiheiten im Reisen, im Studieren, im Arbeiten. Ich finde, das dürfen wir auch für die nicht aufs Spiel setzen.

Deswegen verbinde ich jetzt die Wünsche; meine Wünsche sind: Ich habe heute sehr viele glühende Europäer kennengelernt. Ich habe die Europäerinnen ein bisschen vermisst, muss ich an dieser Stelle sagen; Sie waren die erste Expertin. Was ich gehört habe, deckt sich aber nicht mit dem, was ich in der politischen Diskussion oder in den Medien zum Europagefühl wahrnehme. Ich denke, es ist ein Auftrag an uns alle, dass wir in unsere politischen Gremien und in den Austausch mit Bürgern und Bürgerinnen dieses glühende Europäer-/Europäerinnen-Sein auch mitnehmen, aber nicht den Mythos: Die in Brüssel entscheiden alles!, noch fortsetzen, sondern dem entgegenstehen und sagen: Es gab einen Grund für die Entscheidung – ich teile ihn, oder ich teile ihn nicht –, aber das ist nicht fern, das sind wir.

In der Zusammenarbeit würde ich mir wünschen, dass wir nicht in die ständigen Polarisierungen reinfallen. Da ertappe ich mich selber natürlich auch immer wieder. Ich habe heute aber in den Reden gehört, dass eine stärkere europäische Sozialsäule etwas ist, was sich viele wünschen – die Intensität ist unterschiedlich –, dass Solidarität ein wichtiger Punkt ist, weil er auch Freiheit und die Sicherheit an sich absichert. Das muss sich aber auch in politischen Entscheidungen niederschlagen. Es hilft nichts, wenn wir das in diesen Gremien hier hoch loben und in den politischen Entschei­dun­gen anders entscheiden.

Dann bin ich noch sehr stark unter dem Eindruck des Filmabends, bei dem ich gestern war. Da kam nämlich „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“; diesen Film kann ich jedem empfehlen. Da ist auch gesagt worden, die Geschichte kann sich sehr schnell drehen. Das wissen wir auch aus der Vergangenheit. Wir haben es schon in der Hand, aus Europa ein sehr positives Europa zu machen, man muss es halt auch tun. – Danke. (Beifall.)

14.55


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Als Nächster darf ich Frau Bundesrätin Eder-Gitschthaler das Wort erteilen. – Bitte, Frau Bundesrätin.

 


14.55.24

Bundesrätin Dr. Andrea Eder-Gitschthaler (ÖVP, Salzburg)|: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Expertinnen und Experten! Sehr geehrte Damen und Herren! Barbara Sieberth hat mir ein bisschen etwas vorweggenommen. Auch ich komme aus Salzburg, ich bin noch näher an Bayern: Ich wohne nämlich in Wals-Siezenheim. Ich erlebe tagtäglich die Problematik mit den Grenzkontrollen, und trotz allem, oder gerade deswegen, bin ich nach wie vor eine glühende Europäerin.

Ich bin sehr stolz darauf, Mitglied des Bundesrates zu sein, der eine solche Enquete heute an diesem Tag stattfinden lässt. Wir beschäftigen uns mit der Zukunft der EU aus Länder- und Regionensicht – das ist sehr, sehr wichtig. Wir reden miteinander, wir lassen Expertinnen und Experten uns die Informationen geben – auch das ist ganz wichtig. Ich bin auch sehr beeindruckt von Ihnen, den EU-Gemeindevertreterinnen und ‑Gemeindevertretern – das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Auch ich war lange Gemeindevertreterin, und wir hatten auch dieses Thema im Fokus.

Es geht ja um unsere Zukunft, wie wir heute schon gehört haben. Es geht um unsere Werte, es geht um unsere Kultur, es geht um unsere Kinder. Deshalb bin ich so eine glühende Europäerin, trotz all der Probleme, die wir heute auch schon gehört haben. Modernisierung: ja, Zukunftsdebatte: auf jeden Fall notwendig und wichtig, aber immer: Dialog und Miteinander.

Die Nähe des Bürgers, von der wir heute schon sehr oft gehört haben, betrifft uns ja alle, in welchen Gremien wir auch immer arbeiten. Wenn wir mit den Damen und Herren im Dialog sind, dann werden wir es auch gemeinsam schaffen, die Dinge richtig weiterzuentwickeln: solidarisch, sozial, human, bürgernah. Es bedarf der Sicherung der Sozialsysteme. Und wie Sie auch schon so treffend gesagt haben: Die EU ist auf die Gefühlsebene zu bringen.

Ich denke, es ist ein guter Anfang, dass wir hier heute schon den ganzen Tag so viel miteinander bewegen konnten, so viel gehört haben. Wir sollten alle miteinander versuchen, das weiterzuentwickeln, in allen Bereichen, wo immer wir sind. Meine Bitte an alle, die hier sind, ist, dass wir das weitertragen. Die EU ist kein anonymes Gebilde, das sind wir alle. Wir sind Teil dieser EU, und wenn wir wollen, dass sich das weiter zum Guten wendet, dann müssen wir alle daran arbeiten. – Danke. (Beifall.)

14.58


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Als Nächstem darf ich Herrn Bun­desrat Krusche das Wort erteilen. – Bitte, Herr Bundesrat.

 


14.58.18

Bundesrat Gerd Krusche (FPÖ, Steiermark)|: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Präsident Lambertz hat es in seinem Eröffnungsreferat sinngemäß auf den Punkt gebracht: Es muss ein Mehrwert beim Bürger ankommen. – Die Diskussion mit den Gemeinderäten vorhin hat gezeigt, dass er das eigentlich de facto nicht ist. Da liegt ein großes Problem.

Die Argumente, die immer strapaziert werden – Reisefreiheit, Friedensprojekt –, sind alle richtig; nur: Wir leben in einer sehr schnelllebigen Zeit, und diese Dinge sind für unsere Jugend heute Selbstverständlichkeiten. Die Jugendlichen kennen nichts ande­res. Sie haben keinen Krieg erlebt, und sie sind auch schon mit der Reisefreiheit aufgewachsen.

Ich möchte ein Beispiel mit einem Unternehmen bringen. Eine Firma, die heute ein Produkt auf den Markt bringt, das nicht angenommen wird, wird pleitegehen. So war es beispielsweise bei Nokia: Die haben auch nichts davon, dass sie einmal die besten Mobiltelefone gebaut haben. Sie haben den Zug der Zeit zum Smartphone nicht erkannt und sind daran mehr oder weniger gescheitert.

Solange die EU nur oder überwiegend negative Schlagzeilen macht, ist das proble­matisch. Ich brauche das hier alles nicht mehr zu strapazieren, es wurde schon ge­nannt: diverse Krisen, Pommes frites und Ähnliches mehr. Oder wenn ich daran denke – was unsere Bauern betrifft –, dass jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen der Ausweitung der Naturschutzgebiete, die auf Biegen und Brechen durchgesetzt werden sollen, im Gange ist: Natürlich fühlen sich viele dann kalt enteignet. Deshalb muss die EU die aktuellen Probleme lösen. Wenn es gelingen würde, das Immigrationsproblem zu lösen, dann würden die Leute sagen: Ja, das ist toll, jetzt hat die EU etwas erreicht.

Im Sozialbereich wurde Lohn- und Sozialdumping genannt, und, meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass diese Sozialunion, die einigen hier vorschwebt, das Problem nicht lösen wird, denn sie ist in meinen Augen zum jetzigen Zeitpunkt Träu­merei. Kollege Jung hat es sehr richtig gesagt: Solange die Unterschiede innerhalb Europas noch so groß sind, wird das nicht funktionieren. Solidarität ist zwar auch wichtig und richtig und wird in Österreich – man braucht nur die Spenden anzu­schauen – sehr gut gelebt, aber auch Solidarität hat ihre Grenzen, nämlich dort, wo es an die Existenz des Eigenen geht. Ein Beispiel außerhalb Österreichs sind die Visegrád­staaten, die aus Solidarität der Flüchtlingsquote, dieser Aufteilung der Flüchtlinge, zustimmen sollten. Mir kommt das vor, wie wenn ich eine Facebook-Party mache, alle einlade, es mir dann zu viel wird und ich zu meinem Nachbarn gehe und sage: Bitte, betreue du hundert Leute. Diese Politik, die Frau Merkel gemacht hat, wird nicht funk­tionieren.

Die EU ist keine Holschuld für die Bürger, sondern eine Bringschuld. Man muss das den Bürgern entsprechend kommunizieren. Der Grundsatz sollte hier lauten: Cui bono.

Zum Problem, das Herr Mag. Pfeifer angesprochen hat: Natürlich gibt es dann jene Regionen, denen es nützt, und die anderen, denen es schadet. Da muss man sehr genau abwägen und schauen, denn es soll möglichst vielen nützen, dann wird eine Mehrheit auch für diese EU sein. (Beifall.)

15.02


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Als Nächstem darf ich Herrn Bundes­rat Novak das Wort erteilen. – Bitte, Herr Bundesrat.

 


15.02.51

Bundesrat Günther Novak (SPÖ, Kärnten)|: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich war es nicht vorgesehen, dass ich heute spreche, aber Herr Krusche hat mich jetzt doch ein bisschen dazu aufgefordert – so wie immer im Bundesrat. Ich glaube aber, das gehört dazu.

Zum Kollegen Vorredner: Ich bin ja selbst Bürgermeister, und so wie du jetzt gesagt hast, ist es eine Bringschuld, etwas zu tun. Als Bürgermeister sage ich – und da gebe ich dem Bürgermeister, der vorhin gesprochen hat, recht –: Wir am Land – und ich komme vom Land – haben ja sehr viele Projekte. Da ist jeder vierte Platz, den wir in der Arbeitswelt besetzen, in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft. Wir haben die Mög­lichkeit, aus der EU, aus den Leader-Projekten und aus den Interreg-Projekten doch sehr viel Geld zu realisieren. In unserer Region sind es rund 5 Millionen €, die dann natürlich mit Basismittel der Gemeinden aufgestockt werden. Das muss man halt den Menschen in weiterer Folge auch sagen. Wir haben einige Projekte in unserem Ort umgesetzt; und man muss bei der Eröffnung und in den Rundschreiben, in den Gemeindezeitungen den Menschen, den Ortsbewohnern auch immer wieder in dem Sinn mitteilen, dass es ein super Projekt war, das zu realisieren ohne diese Förderung nicht möglich gewesen wäre. Dazu zählt ja nicht nur die Förderung der EU alleine, sondern auch Geld vom Land, das in weiterer Folge dazukommt.

Ich möchte natürlich auch noch Folgendes sagen – und diesbezüglich haben Sie hundertprozentig recht –: Ich habe Interreg-Projekte schon in der Zeit, als ich noch als Geschäftsführer im Tourismus tätig war, abgearbeitet. Das ist sehr, sehr schwierig, denn man braucht dazu einen Steuerberater, wenn man etwas grenzübergreifend so wie bei uns in diesem Schnittpunkt der Kulturen – Südtirol, Slowenien und Kärnten – umsetzen oder finanzieren will. Um zu diesem Geld zu kommen, braucht es in weiterer Folge sehr viele gescheite Köpfe, die auch bezahlt werden müssen – also Steuerberater, die dieses Projekt beurteilen und Nachweise erbringen. Dann gibt es noch die AMA, die das Ganze überprüft. Sollte eine Tafel oder etwas anderes, das beim Nachweis notwendig ist, nicht dort hängen und nicht hingehören, aber in der Abrechnung nachgewiesen werden, dann funktioniert es nicht.

Also ich glaube, wir sollten nicht immer nur jammern, sondern versuchen, das wirklich so zu sehen, wie es ist. Wir, vor allem wir als Bürgermeister und in weiterer Folge als Mandatare, müssen den Menschen einfach erklären, was die EU als solche ist und was sie uns bringen kann. Ich kann nur eines sagen: Unser Landeshauptmann Peter Kaiser ist, was das anbelangt, sehr rührig und auch mit den Mitarbeitern tätig. Wir holen uns das Geld, das Kärnten in die EU einzahlt, wieder zurück, um uns diese Projekte für den ländlichen Raum abgelten zu lassen.

Last, but not least: Wir können darüber diskutieren, wie wir wollen, es ist das größte Friedensprojekt, das wir bis jetzt zustande bringen konnten – Gott sei Dank –, und hoffentlich wird es noch lange so sein. (Beifall.)

15.06


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Als nächstem und vorläufig letztem Redner darf ich Herrn Mag. Buchmann aus dem Landtag der Steiermark das Wort erteilen. – Bitte, Herr Abgeordneter.

 


15.06.21

Mag. Christian Buchmann (Abgeordneter zum Landtag Steiermark)|: Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich in meiner Aufgabenstellung als Europalandesrat meines Heimatbundeslandes Steiermark in den vergangenen Jahren bei einzelnen Projekten und in Fachkommissionen im Ausschuss der Regionen mitwir­ken konnte und dem Bundesrat für diese Enquete sehr, sehr dankbar bin.

Das ist heute, glaube ich, ein wirklich sehr positives Zeichen der Lebendigkeit der Ländervertretung hier im Parlament, dass wir uns mit dieser Themenstellung in so großer Intensität auseinandersetzen. Damit geben wir ein klares Zeichen, wie wir uns eine Entwicklung in Europa gemeinschaftlich vorstellen können.

Mein Herz ist voll, und ich würde gerne auch viel darüber erzählen, was man bei einzelnen Projektabwicklungen verbessern könnte. Ich möchte dazu nur ansprechen, dass die Bürokratisierung einzelner Strukturprogramme der Europäischen Union natür­lich reduziert gehört, denn wenn Sie die verantwortlichen Stellen, Verwaltungs­behör­den, Prüfbehörden, Bescheinigungsbehörden und darüber hinaus noch die Auditoren bis hin zu den Rechnungshöfen auf europäischer und nationaler Ebene, dann noch jene in den Bundesländern und, wenn Sie in einer Statutarstadt zu Hause sind, viel­leicht auch noch den Stadtrechnungshof kennen, dann können Sie sich vorstellen, dass der Erkenntnisgewinn am Ende eines gesamten Prüf- und Bescheinigungs­verfah­rens ein relativer ist, der mehr zu Frust denn zu einem positiven Bild bei den ab­wickelnden Stellen beiträgt.

Warum ich mich aber zu Wort gemeldet habe, war etwas, das mich sehr beschäftigt hat und Sie auch angesprochen haben – ich glaube, Präsident Lambertz hat es eben­falls erwähnt –, nämlich dass man in den Herzen und in den Köpfen der Men­schen gleichermaßen ankommen muss.

Mir sind zwei Projekte erinnerlich – in der Steiermark haben wir sehr viele Projekte in einer sehr offensiven Europastrategie durchgezogen –, die wirklich in den Herzen der Menschen angekommen sind; eines im Anklang an einen Wegbereiter Robert Schumans, Jean Monnet, der schon in den Sechzigerjahren einmal gesagt hat: Würde man Europa neu begründen, würde man mit Kunst und Kultur beginnen. – Ich glaube, dass auch wir bei dieser Themenstellung durchaus ansetzen könnten. Kunst und Kultur sind Weichenstellungen in diesem gemeinsamen Europa, das uns geschichtlich eint, aber durchaus in zeitgenössischer Kunst viel zu bieten hat. Da könnte auch der öster­reichische Bundesrat Akzente setzen.

Zum Zweiten möchte ich die jungen Menschen ansprechen; sie sind heute noch nicht in dem Ausmaß angesprochen worden. Es gibt zwei Projekte, die in der Steiermark sehr gut ausgerollt wurden und die, wie ich weiß, auch in anderen Bundesländern stattfinden. Es wäre vielleicht eine Idee, diese Projekte noch intensiver österreichweit auszurollen. Ich beziehe mich dabei auf ein Modell, wie wir es von den Schulland- oder Skiwochen gut kennen, welches wir in der Steiermark mit vielen Schulklassen im bildenden Bereich durchgeführt haben: Europawochen, sei es in Brüssel, sei es in Straßburg oder bei anderen internationalen Institutionen oder Organisationen. Das bringt auch jungen Leuten ein Bewusstsein, dass dieses Europa nicht ein büro­kratischer Tempel ist, sondern dass da Menschen arbeiten, um ein gedeihliches, gutes gemeinschaftliches Auskommen zu ermöglichen.

Ein zweites Projekt, das ich ansprechen möchte, bezieht sich auf die Lehrlinge. Mit den internationalen Praktika gibt es auch in diesem Bereich sehr gute Modelle, die auf europäischer Ebene unterstützt werden. Ich glaube, wir sollten in diese Modelle ebenfalls Herzblut investieren und jungen Leuten diese Perspektive geben, denn ein Erlebnis mit allen Sinnen ist gerade für junge Menschen etwas ganz besonders Prägendes und wird der gemeinsamen Idee dieses Europas dienlich sein. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall.)

15.10


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Weitere Wortmeldungen liegen dazu nicht vor.

Wünscht noch jemand das Wort? – Das ist nicht der Fall.

15.10.28V. Abschlussrunde

 


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Wir kommen nun zur Schlussrunde. Wie vereinbart wird sich aus jeder Fraktion des Bundesrates eine Vertreterin oder ein Vertreter zu Wort melden. Die Redezeit beträgt je 5 Minuten.

Ich darf als Erstem dem Vertreter der Volkspartei, Herrn Fraktionsvorsitzenden Preineder, das Wort erteilen. – Bitte Herr Klubobmann.

 


15.10.49

Bundesrat Martin Preineder (ÖVP, Niederösterreich)|: Geschätzter Herr Präsident! Meine Herren Präsidenten! Liebe Referenten! Geschätzte EU-Gemeinderäte und -Ge­meinderätinnen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein interessantes Thema, und ich möchte unserem Präsidenten Edgar Mayer recht herzlich dafür dan­ken, dass er anregt, sich mit dem Thema Europa und der Bürgernähe Europas wieder intensiv zu beschäftigen, und diese Tagung heute angesetzt hat.

Wir haben heute alle gehört, Europa – und das wissen und spüren wir – ist in einem sehr unruhigen Fahrwasser. Es ist intern in einem unruhigen Fahrwasser – die Schlag­worte von Griechenland bis Brexit wurden genannt. Es ist aber auch außenpolitisch in einem sehr unruhigen Fahrwasser. Botschafter Schallenberg hat darauf hingewiesen: Ein Feuerring liegt um Europa. Darum ist es gut und äußerst notwendig, dass wir Europa neu denken und gemeinsam von unten nach oben überlegen, was dieses Europa braucht, um beim Bürger besser anzukommen, um beim Bürger akzeptiert, verstanden und gemocht zu werden.

Deshalb stehe ich auch dazu – und das war auch Tenor dieser Tagung –, dass sich Europa stärker um die großen Dinge kümmern soll. Die großen Dinge lösen, die kleinen Dinge lassen, sollte der Grundsatz sein, denn es gilt, die konkreten Probleme der Bürger und nicht theoretische Probleme der Verwaltung oder Details, welche die Regionen, die Länder, die Nationalstaaten selber besser lösen können, zu lösen.

Ich darf hier zwei Themen herausgreifen: Zum einen ist das klarerweise – und das wurde auch heute sehr intensiv angesprochen – eine Verstärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Europa muss imstande sein, seine Grenzen zu schützen. Europa muss imstande sein, zu kontrollieren, wer in diese Staatengemeinschaft kommt, und das muss auch ent­sprechend umgesetzt werden können. Wir brauchen natürlich im Auftritt nach außen ein gemeinsames Sprachrohr. Dass jemand für die gemeinsamen außenpolitischen Interessen verantwortlich ist, ist vielleicht ein Schritt in diese Richtung, aber da ist sicherlich noch mehr zu tun, weil die Wirtschaftsräume, die Staatenbünde größer werden und Europa vereint auftreten muss.

Europa ist eine Rechts- und Wertegemeinschaft. Wenn wir daran weiterarbeiten wollen, ist klar, dass Friede, Freiheit und Verantwortung notwendig sind. Damit bin ich beim zweiten Thema, das Europa sicherlich erledigen muss: einen Teil der Finanz­politik. Es ist für uns alle nicht erträglich, dass es Konzerne gibt, die in Europa agieren, Geschäfte machen, aber hier keine Steuern zahlen. Die Diskussion darüber ist schon wieder abgeflacht: Kommt eine Finanztransaktionssteuer, wird der Handel von Aktien und Wertpapieren auch entsprechend besteuert, und darf Europa, darf die Gemein­schaft auch mitpartizipieren? Wenn wir das alles weiterdenken, müssen wir den Dialog mit den Bürgern verstärken. Zum einen ist notwendig, den Dialog seitens der Politik, seitens der Europäischen Union, seitens der Nationalstaaten entsprechend zu verstär­ken, aber ich glaube  – und das ist vielleicht ein neuer Ansatz –, wir müssen auch den Dialog mit der Verwaltung in dieser Europäischen Union verstärken.

Es wird uns allen gemeinsam als politischen Verantwortungsträgern nichts helfen, wenn wir, wenn die EU-Gemeinderäte versuchen, Europa den Bürgern, den Jugend­lichen in der Schule näherzubringen, aber beim ersten Verwaltungskontakt der Verwal­tungs­beamte erklärt: Ja, ich weiß nicht, wieso es dieses Gesetz gibt, das kommt halt von Europa, das ist typisch für die Europäische Union, da hat halt irgendwer wieder irgendetwas beschlossen.

Das bedeutet, vielleicht ist es notwendig, den Sinn mancher Gesetze und Richtlinien auch den Verwaltungsbeamten entsprechend mitzuteilen, damit die Erklärung für den Bürger verständlicher ist.

In Hinblick auf die Subsidiarität, wie wir sie diskutiert und als hohen Wert eingeschätzt haben, ist es sicher auch erforderlich, dass Subsidiarität entsprechend jeder Ebene nicht bedeutet, die angenehmen Dinge selbst zu erledigen und die unangenehmen in die nächste Ebene zu heben, sondern dass wir unsere Aufgaben eigenverantwortlich auf der Ebene, auf der wir uns befinden, wahrnehmen und erst dann verantwor­tungsbewusst weiterdelegieren – und letztlich auch von unten nach oben delegieren.

Wenn wir das auf unseren Ebenen in den Gemeinden, in den Ländern, in den Natio­nalstaaten wahrnehmen, dann kommen wir zu einem gemeinsamen Europa, einem gemeinsames Haus, das wir bauen wollen. Wir als Bundesrat sind mit dem Thema Europa als Europakammer über den EU-Ausschuss und die Tagungen zu diesem Thema sehr eng verbunden. Wir haben unruhige Zeiten, und die EU hat vieles erreicht: Friede, Reisefreiheit, gemeinsame Währung, offene Bildungsmöglichkeiten. Das alles müssen wir auch den jungen Leuten, die damit aufgewachsen sind, erklären. Das alles ist nicht selbstverständlich!

Europa ist notwendiger denn je. Ich bin Niederösterreicher, ich bin Österreicher, ich bin Europäer. (Beifall.)

15.17


Vorsitzender Vizepräsident Mag. Ernst Gödl|: Als Nächstem darf ich dem Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion, Herrn Bundesrat Schennach, das Wort erteilen.

 


15.17.23

Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ, Wien)|: Herr Präsident, heute ist Ihr letzter Auf­tritt im Bundesrat. Noch einmal: Alles Gute ab übermorgen! Ich bedanke mich auch seitens unserer Fraktion für einmal mehr ein bisschen Einblick in die Europaarbeit der Europakammer.

In weniger als einem Monat haben wir die nächste Konferenz, die große Europäische Subsidiaritätskonferenz. Das geht Stück um Stück, weil wir um diese Werte kämpfen – Werte, die mein Vorredner auch schon angesprochen hat und zu denen die Grund­rechte gehören als etwas, das uns fundamental von anderen Staatengebilden unter­scheidet. Ich denke auch an die Mobilität. Vorhin haben zwei Salzburgerinnen ge­sprochen. Da ist mir Stefan Zweig in den Sinn gekommen. Von ihm sind Reden gefunden worden, die er 1932 in Salzburg gehalten hat. Der Band heißt „Erst wenn die Nacht fällt“. Man liest ihn atemlos. In einer Rede in Salzburg kämpft er um diese gemeinsame Idee Europa. Zeile für Zeile sagt er eines: Es nützt nichts, wenn wir hier hochgeistig Europa diskutieren. Wir müssen dem Nationalismus, dieser nationalen Kleinstaaterei, mit derselben Emotionalität Europa präsentieren. Wir brauchen – das war bitte 1932! – eine europäische Hauptstadt, und sie darf nicht Paris, Berlin oder Rom sein.

Unglaublich, dieser Entwurf! Stefan Zweig war wahrscheinlich einer der größten Euro­päer, den Österreich je hervorgebracht hat. Ich kann das Buch nur empfehlen, es ist erst kürzlich erschienen und heißt: „Erst wenn die Nacht fällt“. Es zeigt, dass wir um diese Werte, aber auch um die Emotionalität kämpfen müssen.

Herr Jung sagt, er wird in Wien nicht angesprochen. Wir haben EU-Spaziergänge in Wien. EU-Spaziergänge in Wien, das heißt: Besuchen wir den Gürtel, besuchen wir Parkanlagen, besuchen wir Märkte! All das kann man sehen, was hier in Koproduktion mit der Europäischen Union entstanden ist.

Ich durfte unlängst in Wien einen Vortrag halten und stand da vor einem Haus, und hinter mir war eine Kirche. In ungefähr vier Metern Höhe, wo niemand mehr hinschaut, steht dort: Renoviert mit Mitteln der EU. – Da fragte ich die Leute: Wisst ihr eigentlich, warum es hier bei euch so schön ist? – Nein. – Dann sagte ich: Na, dann schaut einmal, was da oben in vier Metern Höhe steht! – Also wenn ich das schon so verstecken muss, dann erreiche ich die Menschen irgendwie nicht.

Ja, wir müssen der EU die Souveränität in jenen Bereichen, in denen sie zuständig ist, zurückgeben. Sie ist für Migration zuständig, Herr Jung, und damit hat sie das Recht, eine Relocation durchzusetzen. Dieses Recht haben alle Staaten einstimmig an die Kommission abgetreten und deshalb können nicht andere Staaten sagen, dass sie hier nicht mitmachen. Der Europäische Rat, der diesen Beschluss gefasst hat, ist ja kein Briefmarkenverein. Die EU hat diesbezüglich also die volle Souveränität. Wenn wir diese Beschlüsse aber ständig unterminieren, dann schwächen wir die EU dadurch.

Frau Mühlwerth weiß es, ich habe es, glaube ich, von jedem Rednerpult des Bun­desrates gesagt, und auch mein Vorredner hat es schon angesprochen: Es geht um die Emotionalität, wie Stefan Zweig sie beschreibt. Dazu gehört auch, dass wir nicht nur unseren Gemeinderäten aus dem Burgenland die Möglichkeit geben, durch Europa zu fahren, sondern in Rahmen von Erasmus und auch darüber hinaus jungen Men­schen die Möglichkeit geben, durch Europa zu fahren und Sprachen zu lernen. Aller­dings dürfen wir dabei die Lehrlinge nicht vergessen. Die lassen wir bisher leider zu oft zu Hause.

Auf diesem Gebiet kämpfen wir seit zwei, drei Jahren ganz intensiv. Jetzt haben die ersten 4 000 jungen Menschen profitieren können. Aber das ist noch zu wenig. Das Erasmus-Jahr ist größer. Erstens braucht es ein duales Ausbildungssystem in ganz Europa. Zweitens müssen Lehrlinge gleich behandelt werden wie Studierende. Dann stellt sich auch hier diese Emotionalität ein.

Zum Juncker-Papier: Eine Möglichkeit, die darin beschrieben wurde, ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. – Nein! Nein, wir fangen nicht schon wieder an, Europa auseinanderzudividieren. (Bundesrätin Mühlwerth: Aber das gibt es ja schon!) – Es kann nur eine Geschwindigkeit geben, und da müssen wir gegenseitige Hilfe leisten. (Präsident Mayer übernimmt den Vorsitz.)

Wie sehr hat man denn gerufen, dass uns die damalige Hilfe für Griechenland in den Abgrund ziehen würde? – Niemand ist in den Abgrund gestürzt. Alle Staaten, die geholfen haben, haben eigentlich profitiert – und zwar ordentlich profitiert, nämlich auch monetär ordentlich profitiert. Ich möchte jetzt gar nicht sagen, dass Deutschland mehr als im dreistelligen Millionenbereich profitiert hat. Ich möchte auch gar nicht sagen, wie viel Österreich profitiert hat. Das ist ein Stück Solidarität, das in einer Gemeinschaft notwendig und richtig ist.

Da noch zwei Landtagspräsidenten hier anwesend sind, würde ich gerne noch zwei Dinge anbringen, die wir uns wünschen würden: erstens, dass auch die Landtage in den gemeinsamen Stellungnahmen ein bisschen zeitgerechter werden. Ich habe heute in der Früh gesagt, dass Kollege Mayer und ich bei der Katastrophenschutzrichtlinie aus Verantwortungsbewusstsein heraus solo für die Bundesländer entschieden haben. Wir schreiten nun zu einer Subsidiaritätsrüge. Die gemeinsame Stellungnahme der Bundesländer, die wir dazu allerdings gerne gehabt hätten, ist leider erst nach Ablauf der Frist eingetroffen. Das ist ein immanentes Problem. Es gab einen inneröster­reichi­schen Föderalismuskonflikt, aufgrund dessen die Frist verschlafen wurde. Da bitten wir um einen gemeinsamen Prozess.

Jetzt habe ich etwas aus dem Nähkästchen geplaudert, nehmen Sie es einfach so hin, aber das ärgert uns vielleicht manchmal. Vielleicht ärgern wir umgekehrt die Länder auch hin und wieder. Ich denke aber, dass sich das auch wieder einspielen kann, denn das, was wir hier in Österreich zwischen Bundesrat und Bundesländern praktizieren, kann durchaus – wie Edgar Mayer es gesagt hat – als Best Practice bezeichnet wer­den. Das sieht man schon daran, dass manche Stellungnahmen und begründete Stellungnahmen unsererseits heute in der Union und im Europäischen Parlament als Musterstellungnahmen gelten. Immer wieder steht auf diesen Dokumenten österreichi­scher Bundesrat drauf, und das kann uns stolz machen, soll uns auch stolz machen – bei aller seltsamen innerösterreichischen Diskussion über den Bundesrat. Wir werden uns jedenfalls in diesem Sinne weiterentwickeln. Schon in wenigen Wochen werden wir die Subsidiaritätskonferenz abhalten.

Danke noch einmal an alle, die hier teilgenommen haben. (Beifall.)

15.25


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Herr Kollege Schennach.

Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Fraktionsvorsitzende Mühlwerth. – Bitte, Frau Kollegin.

 


15.25.17

Bundesrätin Monika Mühlwerth (FPÖ, Wien)|: Herr Präsident! Sehr geehrte Teilneh­mer an dieser Enquete, die ich sehr spannend fand! Ich danke dem Präsidenten des Bundesrates für diese Initiative, weil ich es richtig und gut finde, dass wir uns hier mit der Zukunft Europas auseinandersetzen – auch dann oder gerade wenn wir unter­schied­licher Meinung sind.

Ich bin etwas anderer Meinung als mein Vorredner Kollege Schennach, und ich gebe eines zu bedenken: Bei aller Kritik auch seitens der Bevölkerung gab es in allen Umfragen, die zu dem Thema durchgeführt wurden, immer eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU. Diese Mehrheit war einmal größer und einmal kleiner. Das ist wie in einem Staat: Wenn die Bevölkerung mit dem, was der Staat tut, zufrieden ist, wird die Zustimmung höher sein. Das gilt natürlich gleichermaßen für die Europäische Union. Wenn dem nicht so ist, dann wird die Zustimmung eben geringer ausfallen. Da liegt meiner Meinung nach auch der Grund des Problems.

Wir können noch so viel diskutieren, wie wir die EU den Bürgern näherbringen können, aber die EU wird den Bürgern in dem Moment nähergebracht, wo sie nicht eine Politik vorbei am Bürger macht. Wir haben das ja im Staat auch erlebt: Die Regierungen wurden ja jetzt auch weitestgehend dafür abgestraft, dass sie genau am Bürger vorbei produziert haben, was ihre Politik betrifft. Das gilt für die EU auch. Das gilt auch für den Bürger, der seine Meinung am Stammtisch äußert. Ja, das macht er vielleicht manchmal ein bisschen sehr simplifiziert, aber diese Meinungen zeigen schon den Trend auf, dass es hier eine massive Unzufriedenheit gibt.

Es ist heute schon angeklungen, ohne dass man sich dann getraut hätte, es tatsächlich auszusprechen: Wenn ich die Glühbirnen verbiete, wenn ich eine Allergenverordnung erlasse, wenn ich sage, welche Wattzahl ein Staubsauger haben darf, während gleich­zeitig ein Asylsturm über Europa hereinbricht und die EU nicht in der Lage ist, die Grenzen zu schließen, nicht in der Lage ist zu schauen, wer überhaupt herkommt und wie viele das sind, ja wenn man nicht einmal weiß, wie viele mittlerweile untergetaucht sind, dann hört sich das Verständnis des Bürgers auf. Das muss man nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern darauf muss man reagieren.

Daher erinnert mich diese Diskussion über die Organisation auch ein wenig an die Diskussion in Österreich über das Schulwesen. Da wird auch wahnsinnig viel über die Organisationsform diskutiert, aber nie über die Inhalte. Es wird nie darüber diskutiert, was am Ende des Tages herauskommen soll, wenn ein Schüler die Schule verlässt. Wir werden jetzt versuchen, das auf einen Nenner zu bringen.

Ich möchte noch ein Beispiel nennen, wo die EU natürlich die Bürger trifft. Österreich steht jetzt ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren ins Haus, das wir erst im EU-Ausschuss des Bundesrats behandelt haben, in dem es um die Steuerbefreiung für Schnaps geht, also um die Hausbrennereien. Es geht dabei um einen einstelligen Millio­nenbetrag, der dadurch lukriert werden kann, die Sache betrifft aber 50 000 Men­schen. Die finden das nicht spannend. Dieses Gesetz gibt es für Österreich seit 1835, also schon seit der Monarchie. Ungarn hat es dann von Österreich übernommen, und es wurde auch beim Beitritt zur Europäischen Union zugesichert, dass dieses Gesetz bleiben kann.

Das sind so die Dinge, für die die Menschen überhaupt kein Verständnis haben, und das kann ich auch verstehen.

Daher ist es schön, wenn man sagt, man muss den Bürgern sagen, welches Projekt von der EU gefördert worden ist – ja, das kann nicht schaden, das wird schon nicht schlecht sein –, ich glaube aber dennoch – und dabei bleibe ich –, dass es wichtig ist, dass die EU dafür sorgt, wofür sie da ist, nämlich für die äußere und auch die innere Sicherheit Europas. Wir bezweifeln ja überhaupt nicht, dass die EU notwendig ist. Wenn wir uns jetzt anschauen, wie China im Vormarsch ist und auf der anderen Seite die USA stehen, ja, dann sehe ich auch, dass wir als kleines Österreich sehr wenig ausrichten können werden. Die EU hat also durchaus ihre Berechtigung, aber es muss eben eine Europäische Union sein, die vom Bürger angenommen wird, und dazu muss die Europäische Union mit ihrer Politik auch mehr zum Bürger kommen. – Vielen Dank. (Beifall.)

15.29


Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Frau Kollegin Mühlwerth.

Als Letzte dazu zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Reiter. – Bitte, Frau Kollegin.

 


15.30.04

Bundesrätin Dr. Heidelinde Reiter (Grüne, Salzburg)|: Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Werte Kollegen und Kolleginnen und Teilnehmer an dieser Enquete! Das Thema ist so groß, dass es wirklich sehr schwierig zu entscheiden ist, wo man anset­zen soll oder wo man einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten soll. Deshalb möchte ich, auch als Salzburgerin – wir sind heute in dieser Enquete massivst vertreten –, noch jemanden ins Spiel bringen, der, glaube ich, abgesehen von Stefan Zweig viel zum Thema zu sagen hat, nämlich Leopold Kohr. Leopold Kohr, Philosoph, Anarchist, plädierte für die Dezentralisierung sozialer Organisationen auf eine Größe, in der Funktion noch möglich ist, die aber gleichzeitig den Mitgliedern eine Überschaubarkeit gewährleistet. Das heißt, es gilt herauszufinden, wo das menschliche Maß für die BürgerInnen ist, damit diese sich entsprechend beteiligen können, damit sie mitgestalten können, und zwar wirklich mitgestalten können. (Bundesrätin Mühlwerth: Das stimmt schon, das ist nicht unrichtig!)

Wir brauchen nur an das zu denken, was sich gerade in Katalonien ereignet. Mich über­rascht dabei immer wieder diese wahnsinnige Kraft, dieser Einsatz, den die Menschen an den Tag legen, um für ihre Unabhängigkeit und ihre Gestaltungs­mög­lichkeiten zu kämpfen, die sie im größeren Rahmen von Spanien und der EU nicht mehr sehen.

Dieses Thema findet man immer wieder bei diesen Diskussionen, auch innerhalb von Österreich. Ich brauche mir nur unsere ständigen Föderalismusdebatten vor Augen zu führen. In einer großen Debatte, an der auch Franz Schausberger teilgenommen hat, wurden auf der anderen Seite eher zentralistische Standpunkte vertreten. Dabei wurde sehr überzeugend dargelegt, dass es vielleicht doch günstiger wäre, eine Bauordnung für Österreich zu schaffen und nicht neun, und solche Dinge. Da ging es also um ganz konkret handhabbare Dinge, die vielleicht besser gemeinsam gemacht würden als neunfach. Trotzdem haben die Menschen nachher gesagt: Nein, man soll die Bundes­länder nicht entmachten, wir wollen in dieser überschaubaren Größe bleiben und wir geben hier keine Kompetenzen ab.

Das ist auch immer wieder ein Problem bei den Diskussionen um die Subsidiarität. Da werden durchaus auch vernünftige Dinge abgelehnt, bei denen man sich denkt, eigent­lich wäre es schon gescheit, das auf EU-Ebene zu regeln. So könnte man beispiels­weise die Mautfrage EU-weit regeln, denn die Autos fahren überall hin und müssten dann überall Maut bezahlen. Es wäre also gut, wenn man die Benützung und Erhaltung dieser Infrastruktur und so weiter gemeinsam regelt, aber das würde eine Kompetenz­übertragung der Staaten auf die EU-Ebene nach sich ziehen und deshalb geht das nicht. Da sieht man eben immer dieses Spannungsfeld, das zutiefst im Menschen verankert ist und auf das sich auch Leopold Kohr bezogen hat. Er hat dann mit Ernst Friedrich Schumacher 1973 „Small ist beautiful“ geschrieben, einen Bestseller. Schumacher war ja der Überzeugung, dass nur diese Verkleinerung und diese Dezen­tralisierung eine ökologische Rettung der Erde ermöglichen – und das schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren.

Das Ganze wurde dann von Leuten wie zum Beispiel Heineken weiterentwickelt, der in seiner Vision von Eurotopia davon träumte, die EU in 75 Regionen aufzuteilen und nicht in Staaten, um eben diese Nationalstaatlichkeit zu überwinden. Wenn man dann noch die Ideen von Elias Canetti aus „Masse und Macht“ über vernunftwidriges Verhal­ten der Massen – also großer Mengen von Menschen – bis hin zu den Ideen von Lewis Mumford, der ja in „Mythos der Maschine“ eine Entmenschlichung in zentralistisch organisierten und technokratisch regulierten Gesellschaften in den Raum gestellt und auch sehr gut argumentiert hat, einfließen lässt, so wissen wir, dass das natürlich ein gewaltiges Spannungsfeld ist.

Die Frage ist, wie Subsidiarität tatsächlich gelingt. Das heißt: Wie ermöglichen wir Mitbestimmung, Mitgestaltung des einzelnen Bürgers in der Kommune, in den über­schaubaren Einheiten und wie kommen wir trotzdem zu Kooperation? Wie kommen wir zu Kooperation in einer hochkompetitiven Gesellschaft? Denn der Erfolg der Marktwirtschaft und viele unserer Erfolge beruhen auf dem kompetitiven Verhalten, das tief in uns allen drinnen ist. Wie kommen wir von diesem Verhalten zu einer Koope­ration? Ich glaube, es gibt keine Debatte darüber und es sieht jeder ein, dass Koope­rationen notwendig sind. Wir brauchen diese Kooperationen auf globaler Ebene. Wir werden die globalen Probleme wie Klimawandel und auch das Immigrationsproblem nicht ohne massive Kooperation lösen und uns weiterentwickeln können.

Über die Zukunft der EU konkrete Aussagen zu machen ist – glaube ich – gar nicht möglich. Wünschen tun wir uns natürlich eine stärkere Demokratisierung, als sie derzeit herrscht. Wir brauchen sicher eine Verfassung. Ich glaube, dass Konvente notwendig sind, um die EU entsprechend weiterzuentwickeln. Die EU muss aber ein Raum bleiben, in dem Rechtsstaatlichkeit gewährleistet ist. Dabei wird aber auch das Prob­lem des Zugangs zum Recht ein immer größeres. Wir stehen einer Finanzindus­trie gegenüber, die das Dreifache der Weltwirtschaftsleistung an Geld in sich vereinigt. Wir stehen Konzernen gegenüber, die größere Budgets als einzelne Staaten haben. Da stellt sich schon die Frage, wie wir einen fairen Zugang zum Recht für viele gewähr­leisten, wie wir Minderheiten schützen und so weiter.

Die EU ist eine Hoffnung, die es – denke ich – wert ist, mit aller Emotion weiterge­tragen und entwickelt zu werden. Sie ist eine Hoffnung für ganz Afrika, sonst würden sich diese Menschen nicht in diese Richtung in Bewegung setzen. Sie ist eine Hoff­nung für all diese Kunststaaten und Kunst-Nationalstaaten, die dort geschaffen wur­den. Sie birgt die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit auf einer Ebene, die eben diese Nationalstaatlichkeit übersteigt und damit auch verändert.

Ich komme sofort zum Ende, möchte aber zum Abschluss noch Folgendes sagen: Stefan Zweig ist wirklich lesenswert. Allerdings hat mich gerade diesen Sommer, als diese Diskussionen gelaufen sind und gerade in Salzburg sehr viel über diese Zeit und die Kunst dieser Zeit gesagt wurde, sehr erschüttert, dass es damals nicht gelungen ist, das aufzuhalten, was die Menschen ganz klar gesehen haben, was an Barbarei im Sinne der Nationalstaatlichkeit auf Europa zurollte. Das sollte uns nicht wieder pas­sieren. – Danke. (Beifall.)

15.38

Vorsitzender Präsident Edgar Mayer|: Danke, Frau Kollegin Reiter.

Es liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Debatte.

Ich darf mich bei der EU-Gemeinderätin und den EU-Gemeinderäten für ihren Beitrag bedanken. Ich bedanke mich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für das große Interesse, das sie bei dieser Themenstellung gezeigt haben, und für die wertvollen Diskussionsbeiträge. Ebenso danke ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für die Vorbereitung und für die Organisation. Es hat perfekt geklappt wie immer.

Der EU-Ausschuss wird sich am 21. November mit dieser Thematik befassen, und wir werden versuchen, unsere Schlussfolgerungen im Rahmen einer Mitteilung dann nach Brüssel zu schicken, um auch unsere Position als österreichischer Bundesrat darzu­legen. Ich denke, unser EU-Ausschuss hat die Expertise und die Fähigkeit, sich auch zu diesem intensiven Thema zu äußern. Und natürlich dient das Ganze dann auch als Argumentationsgrundlage bei der gemeinsamen Konferenz mit den Landtagsprä­sidenten am 27. November in Brüssel. Auch euch beiden Landtagspräsidenten noch einmal ein herzliches Dankeschön für euer Dabeisein.

Am Schluss habe ich noch etwas Persönliches anzufügen. Wir sehen ganz hinten Franz-Joseph Huainigg sitzen. Er wird sich aus dem Parlament verabschieden. Heute ist sozusagen sein letzter Tag im Parlament. Lieber Franz-Joseph! Du hast viel für behinderte Menschen in Österreich und auch für nichtbehinderte Menschen in Österreich getan. Du warst ein ganz hervorragender Abgeordneter. In diesem Sinne sage ich auch als Kollege aus dem Bundesrat: Vielen herzlichen Dank für deine groß­artigen Leistungen! Es möge dir weiter so gehen wie bisher! Alles Gute! (Beifall.)

Ich bedanke mich nochmals und wünsche allseits einen schönen Nachmittag.

Die Enquete ist geschlossen.

15.40.33Schluss der Enquete: 15.40 Uhr

 

 

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