1418 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XX. GP

Bericht

des Ausschusses für Arbeit und Soziales


über den Antrag der Abgeordneten Annemarie Reitsamer, Dr. Gottfried Feurstein und Genossen betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 geändert wird (876/A)

Die Abgeordneten Annemarie Reitsamer, Dr. Gottfried Feurstein und Genossen haben diesen Initiativ­antrag am 17. September 1998 im Nationalrat eingebracht und wie folgt begründet:

“Nach § 34 Abs. 1 Z 1 AlVG ist Voraussetzung für den Anspruch auf Notstandshilfe ua., daß der
(die) Arbeitslose in den letzten zehn Jahren vor Geltendmachung des Anspruches auf Arbeitslosengeld oder Karenzurlaubsgeld bzw. Karenzgeld 416 Wochen (acht Jahre) arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Liegt innerhalb dieses Zeitraumes ein weiterer Karenzurlaubsgeld- bzw. Karenzgeld­bezug, so kann diese Voraussetzung in der Regel nicht erfüllt werden. Diese Härte, die hauptsächlich Frauen trifft, soll durch die Verlängerung der zehn Jahre um Zeiten des Karenz(urlaubs)geldbezuges beseitigt werden. Dadurch soll sichergestellt werden, daß auch Arbeitslose, die wegen eines Karenz(urlaubs)geldbezuges die Voraussetzungen nicht erfüllt haben und deren Antrag daher abgelehnt werden mußte, in den Genuß der neuen, günstigeren Regelung kommen können.

Durch die Inkrafttretensbestimmung soll festgelegt werden, daß die neue Regelung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Notstandshilfe für die erstmalige Zuerkennung von Notstandshilfe sowie bei der Weitergewährung von Notstandshilfe im Anschluß an einen auf 52 Wochen begrenzten Bezug (Befreiungsscheininhaber) ab 1. April 1998 gilt.”

Der Ausschuß für Arbeit und Soziales hat den gegenständlichen Antrag (876/A) in seiner Sitzung am 2. Oktober in Verhandlung genommen.

Berichterstatterin im Ausschuß war die Abgeordnete Sophie Bauer.

An der Debatte beteiligten sich die Abgeordneten Dr. Volker Kier, Franz Hums, Mag. Herbert Haupt, Dr. Gottfried Feurstein sowie die Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales Eleonora Hostasch.

Bei Der Abstimmung wurde der gegenständliche Gesetzentwurf mit Stimmenmehrheit angenommen.

Als Ergebnis seiner Beratung stellt der Ausschuß für Arbeit und Soziales somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem angeschlossenen Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 1998 10 02

                                   Sophie Bauer                                                              Annemarie Reitsamer

                                 Berichterstatterin                                                                           Obfrau

Anlage 1

Bundesgesetz, mit dem das Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 geändert wird

Der Nationalrat hat beschlossen:

Das Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977, BGBl. Nr. 609, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 148/1998, wird wie folgt geändert:

1. Dem § 34 wird folgender Abs. 3 angefügt:

“(3) Die Frist von zehn Jahren gemäß Abs. 1 Z 1 verlängert sich um Zeiten des Bezuges von Karenz(urlaubs)geld und Teilzeitbeihilfe.”

2. Dem § 79 wird folgender Abs. 47 angefügt:

“(47) § 34 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. xxx/1998 tritt mit 1. April 1998 in Kraft und gilt bei erstmaliger Zuerkennung von Notstandshilfe nach Erschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld, Karenz(urlaubs)geld oder Notstandshilfe gemäß § 34 Abs. 4 in der Fassung vor dem 1. April 1998. § 33 Abs. 2 lit. a in der Fassung vor dem 1. April 1998 ist in diesen Fällen nicht anzuwenden. Wurde die Gewährung von Notstandshilfe auf Grund des Abs. 40 versagt, hat auf Antrag eine neuerliche Beurteilung zu erfolgen.”

Anlage 2

Abweichende persönliche Stellungnahme

des Abgeordneten Volker Kier

gemäß § 42 Abs. 5 GOG zum Antrag 876/A der Abgeordneten Annemarie Reitsamer, Dr. Feurstein und Genossen betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 geändert wird


Angelegentlich der neuerlichen Reparaturbedürftigkeit des Arbeitslosenversicherungsgesetzes im Zu­sammenhang mit den geänderten Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Notstandshilfe nach deren Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof im März dieses Jahres, sollen erneut die verfassungs­rechtlich bedenklichen Widersprüchlichkeiten der geltenden Rechtslage in Erinnerung gerufen werden, welche durch die nachträgliche und rückwirkende Ausweitung der zehn Jahre arbeitslosenversicherungs­pflichtig nachgewiesener Beschäftigung um Zeiten des Karenzgeldbezugs keineswegs kompensiert werden.

Bereits im Rechtsgutachten Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer und Dr. Gerhard Muzak an den Wiener Integrationsfonds, welches am 23. Mai 1997 der Abgeordneten Annemarie Reitsamer als Obfrau des Ausschusses für Arbeit und Soziales zur Kenntnis gebracht wurde, wird die geplante Änderung des § 34 AlVG als EMRK- und EU-widrig festgestellt. Der bisher erfaßte Personenkreis, der von den Ansprüchen ausgeschlossen wurde, wird durch einen anderen Personenkreis ersetzt. Die neuen Voraussetzungen erfüllen den Anspruch, eine objektive und vernünftige Rechtfertigung im Sinne des Art. 14 EMRK aufzustellen, jedenfalls nicht. Es wird nunmehr nicht ausschließlich auf die österreichische Staats­zugehörigkeit abgestellt, die Voraussetzungen sind aber so umschrieben, daß sie von ÖsterreicherInnen faktisch wesentlich leichter erfüllt werden können. Das Abstellen auf den Geburtsort im Inland ist eine europarechtswidrige “versteckte” Diskriminierung und daher EU-widrig.

Bedenklich ist, daß nunmehr eingebürgerte ÖsterreicherInnen mit deren Familienangehörigen, Konventionsflüchtlinge und Staatenlose, EU/EWR-BürgerInnen und deren Familienmitglieder gegenüber der alten Rechtslage schlechter gestellt werden und Notstandshilfe nur unter den erschwerten Voraussetzungen erhalten können. Hingegen werden in Österreich geborene Personen bevorzugt, weil sie die formalen Voraussetzungen eben nicht erfüllen müssen und nur auf Grund des Privilegs, in Österreich geboren zu sein, Anspruchsberechtigte werden. Diese “Bevorzugung” ist sachlich nicht begründbar, EMRK- und EU-rechtswidrig und wird daher von mir abgelehnt.

Der VfGH hat in seinem Erkenntnis G 363/97 vom 11. März 1998 hingewiesen, daß Notstandshilfe – bei Zutreffen der formalen Voraussetzungen wie Versicherungspflicht und Leistung von Beiträgen – ein vermögenswertes Recht im Sinne des Art. 1, 1. ZPEMRK, darstellt. Ausschlaggebend ist, daß es sich um eine Sozialversicherungsleistung handelt, der (eine vorher zu erbringende) Beitragsleistung des Anspruchsberechtigten gegenübersteht. Alle nunmehr diskriminierten Personen erbringen aber für den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung und Notstandshilfe zuvor Beiträge im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetzes.

Der Gerichtshof hält ausdrücklich fest, daß Voraussetzungen für Erwerb und Umfang von Leistungsansprüchen vom Gesetzgeber normiert werden dürfen. Dies hat aber nach sachlichen Kriterien zu geschehen. Dauer des Anspruches, dessen Höhe (zB abgestellt auf die Zeit der Versicherungsdauer), rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet oder Bedürftigkeit wären solche sachlich gerechtfertigten Prämissen. Jedoch ist auch die neue Fassung des § 34 AlVG diskriminierend, weil keine objektiven Kriterien erkennbar sind. Weder die Inlandsgeburt noch die Beschränkung der Beitragszahlung über 416 Wochen innerhalb der letzten zehn Jahre, noch die Aufenthaltsdauer der halben Lebenszeit (bzw. die Hälfte der Schulpflichterfüllung in Österreich) sind sachlich gerechtfertigt und zu rechtfertigen.


EU/EWR-BürgerInnen erfüllen diese Kriterien fast nie, auch ÖsterreicherInnen, die im Ausland geboren sind oder ÖsterreicherInnen “der zweiten Generation” wären vom Notstandshilfeanspruch künftig de facto ausgeschlossen. Die Neuregelung verhindert die Diskriminierung auf Grund der Staatszugehörigkeit, schafft aber eine neue Diskriminierung auf Grund des Geburtsprivilegs. Dies ist auch im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine wesentliche Säule des EU-Rechts europarechtswidrig und mehr als bedenklich.

Ich bin überzeugt, daß die Bestimmung des § 34 AlVG, in der Fassung BGBl. I Nr. 78/1997, weder den Anforderungen des EMRK noch des EU-Vertrages und den dazu erlassenen Richtlinien und Verordnungen des EG-Rates entspricht und erneut vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden wird.