1757 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XX. GP

Nachdruck vom 29. 4. 1999

Regierungsvorlage


Bundesgesetz über die Einholung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

Der Nationalrat hat beschlossen:

§ 1. (1) Gerichte sowie Verwaltungsbehörden, die Gerichte im Sinne des Art. 234 Abs. 3 des EG-Vertrages in der Fassung des Vertrages von Amsterdam sind, haben eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen einzuholen, wenn anläßlich des Abschlusses eines Vertrages im Rahmen der Europäischen Integration durch Abgabe einer Erklärung das Recht vorbehalten wurde, innerstaatlich eine Verpflichtung zur Einholung einer solchen Vorabentscheidung vorzusehen.

(2) Der Bundeskanzler hat die jeweils aktuelle Liste der Verträge im Sinne des Absatzes 1 im Bundesgesetzblatt kundzumachen.

§ 2. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes sind in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich die Bundesregierung und der Bundesminister für Justiz, im übrigen der Bundeskanzler betraut.

Vorblatt

Problem:

Der EU-Vertrag (idF des Vertrages von Amsterdam) räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, im Rahmen der Dritten Säule durch Abgabe von entsprechenden Erklärungen die Zuständigkeit des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zu begründen. Zusätzlich haben sich einige Mitgliedstaaten, darunter Österreich, vorbehalten, die innerstaatlichen letztinstanzlichen Gerichte im Sinne des Art. 177 EGV (Art. 234 EGVn) zur Einholung von Vorabentscheidungen in diesem Bereich zu verpflichten.

Analoge Regelungen finden sich auch in anderen Verträgen, die im Rahmen der Dritten Säule abgeschlossen wurden.

Zu ihrer innerstaatlichen Geltung und Anwendbarkeit bedarf die Vorlageverpflichtung dieser Gerichte einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage.

Lösung:

Durch das gegenständliche Bundesgesetz soll eine bundesweit einheitliche Grundlage für die Verpflich­tung der letztinstanzlichen Gerichte im Sinne des Art. 177 EGV (Art. 234 EGVn) zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH geschaffen werden.

Alternativen:

Die Vorlagepflicht der genannten Gerichte im Rahmen der europäischen Integration könnte auch durch die Aufnahme von entsprechenden Bestimmungen in die Verfahrens‑ bzw. Organisationsgesetze, wie beispielsweise VfGG, VwGG, OGHG, GOG und AVG, geregelt werden.

Auswirkungen auf die Beschäftigung und den Wirtschaftsstandort Österreich:

Keine.

Kosten:

Unmittelbar keine.

Besonderheiten des Normerzeugungsverfahrens:

Keine.

EU-Konformität:

Ist gegeben. Das vorliegende Gesetz führt EU-Recht aus.

Erläuterungen


1. Durch den Vertrag von Amsterdam wurde Art. 35 (Art. K.7) in den EUV eingefügt, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zu Vorabentscheidungen im Rahmen der Dritten Säule zuständig zu machen. Diese Vorabentscheidungs­befugnis kommt dem EuGH aber nur hinsichtlich jener Mitgliedstaaten zu, die diese Zuständigkeit durch Abgabe einer Erklärung gemäß Art. 35 Abs. 2 EUV anerkannt haben.

Österreich hat sich (neben mehreren anderen Mitgliedstaaten) über diese Erklärung hinaus vorbehalten, im innerstaatlichen Recht eine Vorlagepflicht der – in einem konkreten Fall – letztinstanzlich entscheidenden Gerichte vorzusehen. Die – entsprechend der Erklärung Nr. 10 der Schlußakte zum Vertrag von Amsterdam – dazu anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages von Amsterdam abgegebene Erklärung lautet wie folgt:

“Die Republik Österreich erklärt unter Bezugnahme auf Artikel K.7 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Amsterdam, daß sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften für Vorabentscheidungen nach Absatz 1 jenes Artikels anerkennt, und bestimmt entsprechend Absatz 3 Buchstabe b jenes Artikels, daß jedes ihrer Gerichte eine Frage, die sich in einem schwebenden Verfahren stellt und die sich auf die Gültigkeit oder die Auslegung eines Rechtsakts nach Absatz 1 bezieht, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen kann, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält.

Darüber hinaus behält sich die Republik Österreich im Sinne der von der Konferenz angenommenen Erklärung zu Artikel K.7 das Recht vor, in ihrem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, daß ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, verpflichtet ist, den Gerichtshof anzurufen, wenn sich in einem schwebenden Verfahren eine Frage über die Gültigkeit oder die Auslegung eines Rechtsakts nach Artikel K.7 Absatz 2 stellt.”

2. Entscheidungsbefugnisse des EuGH (in dieser Konstruktion: opting-in-Klausel und Erklärung eines Durchführungsvorbehaltes hinsichtlich einer Vorlagepflicht der letztinstanzlich entscheidenden Gerichte) außerhalb des EGV, die dem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 177 EGV (Art. 234 EGVn) nachgebildet sind, finden sich aber nicht nur im Vertrag von Amsterdam; auch das Auslegungsprotokoll zum Europol-Übereinkommen (ABl. Nr. C 299 vom 09. 10. 1996 S. 1) sowie das Auslegungsprotokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EG (ABl. Nr. C 151 vom 20. 5. 1997 S. 1), das Auslegungsprotokoll zum Übereinkommen über den Einsatz der Informationstechnologie im Zollbereich (ABl. Nr. C 151 vom 20. 5. 1997 S. 15), das Zweite Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EG (ABl. Nr. C 221 vom 19. 7. 1997 S. 11) und das Überein­kommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der EG oder der Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind (ABl. Nr. C 195 vom 25. 6. 1997 S. 1), enthalten analoge Kompetenzbestimmungen zugun­sten des EuGH.

Zu den drei erstgenannten Auslegungsprotokollen hat Österreich analoge Erklärungen abgegeben, mit denen eine innerstaatliche Regelung der Verpflichtung der letztinstanzlichen Gerichte im Sinne des Art. 177 EGV (Art. 234 EGVn) zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH vorbehalten wurde. Auf Grund dieser Durchführungsvorbehalte muß im innerstaatlichen Recht eine Rechtsgrundlage für die Vorlageverpflichtung dieser Gerichte und Verwaltungsbehörden mit Tribunalcharakter geschaffen werden, was durch das vorliegende Gesetz erreicht werden soll. Weiters kann davon ausgegangen werden, daß auch in Hinkunft im Rahmen der europäischen Integration Vereinbarungen der Mitgliedstaaten getroffen werden, die eine analoge Zuständigkeit des EuGH wie in den erwähnten Übereinkommen begründen. Auch für diese Fälle würde die in Aussicht genommene Regelung eine Rechtsgrundlage für die innerstaatliche Umsetzung allenfalls abgegebener Erklärungen im Hinblick auf Vorlageverpflich­tungen geben. Im Fall der beiden letztgenannten Übereinkommen wurde eine diesbezügliche Erklärung bei der Unterzeichnung nicht abgegeben. Eine solche Erklärung könnte aber auch anläßlich der Ratifikation dieser Übereinkommen nachgeholt werden.

Im Sinne der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bestimmt §1 Abs. 2 des vorliegenden Gesetzes, daß die jeweils aktuelle Liste der Verträge vom Bundeskanzler im Bundesgesetzblatt kundzumachen ist.

3. Vollständigkeitshalber ist darauf hinzuweisen, daß der Prüfungsmaßstab des EuGH im Rahmen dieser Sonderzuständigkeiten nicht demjenigen des Art. 177 EGV (Art. 234 EGVn) entsprechen muß (vgl. zB Art. 35 Abs. 1 EUVn, demzufolge der EuGH über die Gültigkeit und die Auslegung der Rahmen­beschlüsse und Beschlüsse sowie der Durchführungsmaßnahmen entscheidet, hinsichtlich der Überein­kommen jedoch nur über einen eingeschränkten Prüfungsmaßstab verfügt, da er nur über die Auslegung entscheidet).


4. Die vorliegende Bestimmung berührt nicht die Berechtigung von unterinstanzlichen Gerichten und Verwaltungsbehörden, ebenfalls (außerhalb der Bestimmung des Art. 234 EGVn) eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, sofern sich diese Berechtigung aus einem Vertrag im Rahmen der europäischen Integration (Dritte Säule) ergibt. Sie knüpft vielmehr an diese bereits durch die erwähnten Überein­kommen eingeräumte Berechtigung an. Die Vorlageberechtigung dieser Behörden in den unter Punkt 2 aufgeführten Übereinkommen und Auslegungsprotokollen bedarf keiner weiteren innerstaatlichen Durch­führungsmaßnahmen.

Ebensowenig berührt das vorliegende Gesetz Regelungen in europäischen Übereinkommen, in denen eine Zuständigkeit des EuGH durch andere Konstruktionen vorgesehen ist (vgl. zB das Auslegungsprotokoll zu “Brüssel II” – die Vorlagepflicht wird hier durch den Vertrag selbst – und zwar enumerativ – auf die nationalen Höchstgerichte eingeschränkt).

Schließlich bleiben aber auch die unmittelbar auf Grund von Gemeinschaftsrecht (insbesondere Art. 234 EGVn und neu: Art. 68 EGVn) bestehenden Vorlageberechtigungen bzw. -verpflichtungen unberührt.

5. Unter den im Gesetzestext verwendeten Begriff “Gerichte und Verwaltungsbehörden” sind im Sinne der einschlägigen Judikatur des EuGH neben den ordentlichen Gerichten und den Höchstgerichten (Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof und Oberster Gerichtshof) auch bestimmte Verwal­tungsbehörden (wie zB die Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag gemäß Art. 133 Z 4 B-VG) zu subsumieren. Gerichte und Verwaltungsbehörden, die derzeit nach den Kriterien der Judikatur des EuGH keine Vorlageverpflichtung trifft (zB die Unabhängigen Verwaltungssenate der Länder), werden durch das vorliegende Gesetz nicht erfaßt.

6. Wie hoch die Kosten sein werden, die im Zusammenhang mit diesem Bundesgesetz entstehen, wird vom tatsächlichen Anfall bei den betroffenen Gerichten abhängen und kann daher aus heutiger Sicht nicht genau angegeben werden. Eine geringfügige Steigerung der Verfahrenskosten (zB Portokosten), die im einzelnen aber nicht näher bezifferbar sind, kann sich ergeben. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß die Kosten im Rahmen der bereits vorhandenen Personal- und Organisationsstrukturen ihre Deckung finden werden.

7. Bei der gegenständlichen Regelung handelt es sich um eine verfahrensrechtliche Bestimmung, die – soweit die Gerichte betroffen sind – im Rahmen der für diese geltenden Verfahrens- und Organisations­regelungen zu treffen ist; soweit Verwaltungsbehörden mit Tribunalcharakter betroffen sind, stützt sich die Regelung auf Art. 11 Abs. 2 B-VG. Im Hinblick auf die Tatsache, daß die oben angeführten völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen an den Gerichtsbegriff des Art. 177 EGV (Art. 234 EGVn) anknüpfen, der auch Landesbehörden, wie die Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag aus dem Landesbereich, umfaßt, ist im Sinne einer einheitlichen Regelung der Vorlagepflicht ein Bedürfnis nach Erlassung einheitlicher Vorschriften gegeben. Die Zuständigkeit zur Erlassung dieses Bundesgesetzes ergibt sich somit aus Art. 10 Abs. 1 Z 1 und 6 sowie Art. 11 Abs. 2 B-VG. Die Handhabung dieses Gesetzes erfolgt gemäß Art. 11 Abs. 4 B-VG durch die jeweils zuständigen Verwaltungsorgane des Bundes oder der Länder für ihren Wirkungsbereich.