III-151 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates

XX. GP

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Einführung des Minderheitsvotums am Verfassungsgerichtshof

 

 

 

 

Parlamentarische Enquete

Freitag, 16. Oktober 1998

 

(Stenographisches Protokoll)

 

 

 

 

 

 

 

 


Gedruckt auf 70g chlorfrei gebleichtem Papier


Parlamentarische Enquete

Freitag, 16. Oktober 1998

(XX. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates)

Thema

Einführung des Minderheitsvotums am Verfassungsgerichtshof


Dauer der Enquete

Freitag, 16. Oktober 1998: 10.02 – 12.59 Uhr

                                                                              14.00 – 17.02 Uhr

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Tagesordnung

I. Referate von

1. Hon.-Prof. Dr. Rudolf Machacek: “Die Einrichtung der ,dissenting opinion‘ im internationalen Vergleich”

2. Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichtes Dr. Jutta Limbach: “Das Bundes­verfassungsgericht und das Minderheitsvotum”

3. Präsident des Schweizer Bundesgerichtes Dr. Peter Alexander Müller: “Das Ver­fahrens­recht des Schweizer Bundesgerichtes und die ,dissenting opinion‘”

4. Univ.-Prof. Dr. Christoph Grabenwarter: “Praktische Erfahrungen mit der ,dis­senting opinion‘ am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte”

5. Dr. Peter Jann, Mitglied des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften: “Entscheidungsbegründung am Europäischen Gerichtshof”

6. Univ.-Prof. Dr. Heinz Mayer, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Univ.-Prof. Dr. Heinz Schäffer, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg: “Die Ein­führung der ,dissenting opinion‘ am Verfassungsgerichtshof aus Sicht der öster­rei­chischen Verfassungslehre”

II. Diskussion über die Referate

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Inhalt

Referate

Dr. Rudolf Machacek ............................................................................... 3

Präsidentin Dr. Jutta Limbach ...................................................................  6

Präsident Dr. Alexander Müller ..............................................................  10

Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter .............................................  13

Dr. Peter Jann ........................................................................................  18

Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer ...............................................................  20

Univ.-Prof. Dr. Heinz Schäffer ................................................................  23

Geschäftsbehandlung

Antrag der Abgeordneten Dr. Kostelka, Dr. Feurstein und Genossen im Sinne des § 98 Abs. 5 GOG, das Stenographische Protokoll dieser Enquete dem Nationalrat als Verhandlungsgegenstand vorzulegen .....................................................................................................................  71

Annahme ......................................................................................................  71

Diskussion über die Referate

Dr. Peter Kostelka .................................................................................  29

Dr. Andreas Khol ...................................................................................  30

Dr. Kurt Heller .......................................................................................  31

o. Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek ..............................................................  33

o. Univ.-Prof. Dr. Siegbert Morscher .....................................................  34

w. Hofrat a.D. Hon.-Prof. Dr. Willibald Liehr .........................................  35

Sektionschef Dr. Wolf Okrosek ..............................................................  36

o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mantl .........................................................  37

Univ.-Prof. Dr. Gerhart Wielinger ..........................................................  39

Rechtsanwalt Dr. Georg Fialka ...............................................................  40

Abg. Dr. Volker Kier ..............................................................................  41

Dr. Peter Fessler ....................................................................................  42

Univ.-Prof. Dr. Theo Öhlinger ................................................................  43

a.o. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner ....................................................  44

o. Univ.-Prof. Dr.DDr.h.c. Ludwig Adamovich .......................................  45

Univ.-Prof. Dr. Bruno Binder ..................................................................  46

o. Univ.-Prof. Dr. Peter Oberndorfer .....................................................  47

Rechtsanwalt Dr. Johannes Noll ..............................................................  49

Univ.-Prof. DDr. Walter Barfuß .............................................................  50

Prof. Dr. Alfred Duschanek ...................................................................  51

Abg. Wolfgang Jung ...............................................................................  52

Vizepräsidentin Dr. Barbara Helige .........................................................  53

Univ.-Prof. Dr. Manfred Rotter ..............................................................  54

Univ.-Prof. Dr. Rudolf Thienel ................................................................  55

Abg. Dr. Gottfried Feurstein ..................................................................  57

Hofrat Hon.-Prof. Dr. Rudolf Müller ......................................................  58

Univ.-Prof. Dr. Karl Weber ....................................................................  59

Präsidentin Dr. Jutta Limbach .................................................................  60

o. Univ.-Prof. Dr. Karl Spielbüchler .......................................................  61

Abg. Dr. Johannes Jarolim .....................................................................  62

Hon.-Prof. Dr. Herbert Steininger ..........................................................  63

Abg. Dr. Michael Krüger ........................................................................  64

Univ.-Prof. Dr. Herbert Haller ................................................................  65

Vizepräsident Dr. Karl Piska ...................................................................  66

a.o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Pesendorfer .............................................  66

Staatssekretär Dr. Peter Wittmann .........................................................  67

Präsident Dr. Alexander Müller ..............................................................  68

Dr. Peter Jann ........................................................................................  68

Univ.-Prof. Dr. Heinz Schäffer ................................................................  69

Abg. Dr. Peter Kostelka ........................................................................  70

Abg. Dr. Gottfried Feurstein ..................................................................  71

Bundesrat Dr. Peter Böhm ......................................................................  72

Abg. Mag. Terezija Stoisits ....................................................................  74

Abg. Dr. Volker Kier ..............................................................................  75

Beginn der Enquete: 10.02 Uhr

Vorsitzende: Präsident Dr. Heinz Fischer, Zweiter Präsident Dr. Heinrich Neisser, Dritter Präsi­dent MMag. Dr. Willi Brauneder.

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Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf alle Anwesenden sehr herzlich begrüßen und bitte Sie, die Plätze einzunehmen.

Im Jahre 1992 hat der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes den Entwurf eines Bundes­gesetzes zur Änderung des Verfassungsgerichtshofgesetzes zur Begutachtung ausgeschickt. Darin war auch die Möglichkeit eines Sondervotums enthalten. Es hat in diesem Entwurf damals geheißen: Ein Stimmführer des Verfassungsgerichtshofes kann seine in der Beratung abwei­chende Meinung zum Erkenntnis oder zu dessen Begründung in einem Sondervotum festhalten, das der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses anzuschließen ist. – Für diesen Entwurf hat es damals engagierte Zustimmung, aber auch Kritik gegeben.

Der Hauptausschuß des Nationalrates hat am 10. März 1998 beschlossen, eine Parlamenta­rische Enquete zum Thema “Einführung des Minderheitsvotums am Verfassungsgerichtshof” durchzuführen.

Die vom Hauptausschuß festgelegte Tagesordnung umfaßt sechs Referate, für die jeweils etwa 15 bis maximal 20 Minuten vor­gesehen sind, und im Anschluß daran eine hoffentlich aus­führ­liche Diskussion einschließlich zusammenfassender Stellungnahmen der Fraktionsvor­sit­zenden dieses Hauses.

Über diese Enquete wird auch ein Stenographisches Protokoll angefertigt werden.

I. Punkt: Referate


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Ich bitte nun Herrn Dr. Machacek zum Rednerpult.

“Die Einrichtung der ,dissenting opinion‘ im internationalen Vergleich”

10.10


Referent Hon.-Prof. Dr. Rudolf Machacek: Herr Erster Präsident des Nationalrates! Dem Appell zur Kürze folgend darf ich mich der Begrüßung des Herrn Präsidenten anschließen. An­sonsten möchte ich Sie alle begrüßen mit: Hohes Auditorium! Ich möchte festhalten, daß ich meine fol­genden Ausführungen nicht als vormaliger Richter des Verfassungsgerichtshofes vor­trage, dem ich über 25 Jahre lang angehört habe, auch nicht als Europarechtler nach acht Jahren Tätigkeit als Mitglied des CPT, ebensowenig in meiner nunmehrigen Funktion als Rechts­schutzbeauftrag­ter. Am ehesten könnte man sagen: Ich spreche als verhinderter poten­tieller “dissenter”, nämlich als einer, der von einer solchen Einrichtung Gebrauch gemacht hätte, wenn es für den Verfas­sungsgerichtshof ein solches gegeben hätte.

In meinen folgenden Ausführungen werde ich dennoch kein Rezept für Österreich zu entwerfen versuchen. Diese stellen ausschließlich den Versuch dar, einen rechtsvergleichenden Bericht zu geben und natürlich auch meine persönliche Meinung darzustellen.

Bevor ich auf den angekündigten Rechtsvergleich eingehe, möchte ich noch folgende Feststel­lungen treffen: “Dissenter” sind Träger einer überstimmten Meinung. Die Mehrheit ist naturge­mäß gegen die Auffassung des “dissenters”, der aber dann, wenn sich – wie es manchmal der Fall ist – die Abstimmungsverhältnisse auch nur geringfügig ändern, nicht mehr “dissenter”, son­dern Vertreter der Mehrheit wäre.

Der Schluß ist nicht zwingend, er wäre aber doch naheliegend, daß die Mehrheit dort, wo es die Einrichtung der “dissenting opinion” gibt, nicht nur gegen die überstimmte Meinung ist, sondern auch das Institut als solches ablehnt. Das habe ich aber nirgends vorgefunden, und insbeson­dere habe ich nirgends feststellen können, daß eine solche Forderung im Hinblick darauf erho­ben worden wäre, daß ein politischer Mißbrauch von “dissenting opinions” stattgefunden hätte, was nicht ausschließt, daß man natürlich den politischen Mißbrauch auch fürchten und diesem begegnen muß.

Anderes gilt für die Neueinführung, weil es hiebei um eine Umstellung im System geht und neues Mißtrauen, etwa im Hinblick auf unbekannte Auswirkungen und vermehrte Bela­stungen, besteht.

Ich bin zunächst der Auffassung und Überzeugung, daß dem “dissenter”, der die Verlautbarung seiner Ansicht will, die gleiche Lauterkeit zuzubilligen ist wie der Mehrheit, die dagegen ist, da vom “dissenter” die größte Vorsicht angewendet werden würde, wenn er die Verlautbarung einer “dissenting opinion” begehrt. Denn auch ihn trifft ein Mehraufwand an Ar­beit, den er nur auf sich nehmen wird, wenn er dies für unverzichtbar hält. Auch er wird die Re­aktio­nen auf “dissenting opinions” im politischen Raum beachten, und auch er wird darauf achten, welche Bedeutung den “dissenting opinions” als solchen beigemessen wird.

Ethisch sind die Vertreter beider Auffassungen meines Erachtens sicherlich gleich zu achten. – Ich schicke dies dem Rechtsvergleich, den ich nun anstellen werde, aus prinzipiellen Gründen voraus und beanspruche diese Haltung auch für mich, im Bewußtsein, daß Dissentieren Tole­ranz verlangt, aber auch schafft.

Im folgenden muß ich mich auf Stichworte beschränken, denn 20 Minuten sind eine kurze Zeit. Ich habe daher für Sie ein Manuskript ausgearbeitet und auflegen lassen, in welchem Sie den Text meines vorbereiteten Referates in vollem Wortlaut finden. Ich verweise weiters auf meinen seinerzeitigen Beitrag zur Festschrift Adamovich, die heutigen Darlegungen von Kommenda in der “Presse” und auf einen schon früheren Beitrag von Schiemer in der “Wiener Zeitung”.

Erlauben Sie mir nun folgende einleitende schwerpunktartige Bemerkungen aus systematischer Sicht: Zu unterscheiden ist zwischen “dissenting opinion”, “concurring opinion” und “seriatim opinion”. Die “dissenting opinion” vertritt ein anders Ergebnis, als die Mehrheit beschlossen hat, die “con­curring opinion" ein gleiches Ergebnis, aber mit anderer Begründung. Bei der “seriatim opinion” wird nach der Methode vorgegangen, daß jeder Richter seine Ansicht verkündet und begründet, sodaß sich das Ergebnis aus der Gesamtschau nachträglich ergibt. Letzteres wird derzeit kaum mehr gehandhabt, ist aber nicht ausgestorben.

Systematisch gesehen kann man zwischen Rechtsordnungen mit öffentlicher Beratung und sol­chen mit geheimer Beratung unterscheiden. Das Abstimmungsverhältnis kann im Urteil ent­we­der als Ansicht der Mehrheit zum Ausdruck kommen oder durch einen Prozentsatz genannt werden.

Über die Beratung kann ein Protokoll geführt werden, oder es kann jede Protokollführung verbo­ten sein. Den Parteien kann in das Protokoll Akteneinsicht zustehen oder untersagt sein. Im Ur­teil ohne “dissenting opinion” können überstimmte Richter ihre Ablehnung anmerken oder auf das Protokoll verweisen, in welchem die Parteien die begründete Ansicht des “dissenters” nach­lesen können. Eine “dissenting opinion” kann im Protokoll dafür begründet festgehalten sein, damit sie einer Oberinstanz oder auch einer beschwerdeführenden Partei zur Verfügung steht. – All diese Methoden werden jeweils in verschiedenen Staaten verschieden angewendet.

Nach diesen systematischen Feststellungen möchte ich einige Bemerkungen zu den wichtigsten Rechtssystemen und Rechtskreisen machen:

Ich beginne mit dem ursprünglichen englischen System der “seriatim opinion”, die im Demokra­tie­gedanken und der Achtung vor dem Richter in England wurzelte. An die Stelle der “seriatim opinion” trat in der Folge die “dissenting opinion”. Dem englischen System folgten im Prinzip die Commonwealth-Staaten beziehungsweise jene Staaten, die früher dem Commonwealth an­gehört haben, aber auch heute noch durchwegs die “dissenting opinion” anwenden. Dazu ge­hören Australien, Neuseeland, Indien, Kanada und Südafrika, wobei letzterer Staat vor kurzem einen Verfassungsgerichtshof eingeführt hat.

Das zweite System ist das des amerikanischen Supreme Court. Im Supreme Court wurde im Jahre 1801 von Richter John Marshall anstelle der “seriatim opinion” die “dissenting opinion” ein­ge­führt und seither beibehalten. Diesem Modell folgte man im wesentlichen auch in Mittel- und Lateinamerika, in Japan wurde es nach 1945 eingeführt, in Korea nach 1948, und es gilt weiters auf den Philippinen. Im amerikanischen Supreme Court kommt der “dissenting opinion” in ho­hem Maße die Aufgabe der Fortentwicklung der Rechtsprechung zu. Die “dissenters” sind mit ihrer Meinung oft Träger einer künftig von der späteren Mehrheit übernommenen Auf­fas­sung.

In Westeuropa ist die Entwicklung der “dissenting opinion” nicht einheitlich. Sukzessive hat sich jedoch die Auffassung, eine “dissenting opinion” zuzulassen, verbreitet. Das gilt für Deutschland, wo die “dissenting opinion” im Jahre 1970 eingeführt wurde – wir werden heute noch ein Referat darüber hören –, und im Prinzip gilt dies auch für Spanien über das einsehbare Beratungs­protokoll und für Portugal durch den Urteilsvermerk “vencido”. Für die skandinavischen Staaten wurden eben­falls eigene Modelle entwickelt, welche “dissenting opinions” wahrnehmen. In Westeuropa ist die Auffassung, daß die Autorität des Gerichtes das maßgebliche ist, am stärk­sten verbreitet.

Die Rechtslage der supranationalen Gerichtshöfe Europas zeigt eine unterschiedliche Haltung zur “dissenting opinion”. Während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als euro­päisches Grundrechtsgericht die “dissenting opinion” stets anwandte, ist sie beim EuGH als EU-Gericht nicht vorgesehen. Beim EuGMR ist sie wiederholt angewendet worden, unter anderem auch von unserem österreichischen Vertreter, Professor Matscher. Für Österreich ist darauf zu verweisen, daß die EMRK im Verfassungsrang steht und den Verfassungsgerichtshof mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Judikatur unmittelbar verknüpft.

Im EuGH in Luxemburg gibt es keine “dissenting opinion”. Ihm obliegt die rechtsstaatliche Siche­rung des Gemeinschaftsrechtes und dessen finale Definition. Für Österreich steht das Gemein­schaftsrecht nicht im Verfassungsrang, sondern es ist Vorrangrecht. Für den Verfassungsge­richtshof ist es einfaches Recht und allfällige Grundlage für einen Antrag auf Vorabentschei­dung. Auch bei einer “dissenting opinion” würde sich daran nichts ändern. Auf eine Ähnlichkeit des Europäischen Gerichtshofes mit dem Privy Council, dem Gericht des Commonwealth, im supranationalen Raum möchte ich kurz hinweisen. Beim Privy Council wurde im Jahre 1966 die “dissenting opinion” eingeführt. Vorher war sie im Hinblick darauf, daß der Privy Council die Auf­gabe hat, die Einheitlichkeit des Rechts wahrzunehmen, nicht zugelassen. Darin besteht eine gewisse Parallele zum EuGH, welchem es obliegt, die Einheit des EU-Rechts zu schaffen. Trotzdem möchte ich daraus keinerlei Rückschluß auf die künftige Entwicklung des EuGH ziehen.

Österreich steht der Bundesrepublik Deutschland am nächsten. Dort wurde die “dissenting opinion” zunächst abgelehnt, im Jahre 1970 aber – wie ich bereits erwähnt habe – eingeführt. In der Bundesrepublik wurde sie immer wieder angewendet. Sie gehört dort zum Rechtsbestand. – Im Hinblick auf das schon angekündigte Referat nur ein kurzes Wort: In der Bundesrepublik ist meiner Auffassung nach das Ziel der Zulassung einer “dissenting opinion” die Vertiefung der Rechtsfindung in der Judikatur, und dafür kommt ihr meiner Ansicht nach große Bedeutung zu. Auf diesen Aspekt wurde von der Wissenschaft im Hinblick auf die Einführung der “dissenting opinion” auch für Österreich wiederholt verwiesen.

In den neuen Demokratien Osteuropas wurden fast ausnahmslos Verfassungsgerichte einge­führt, in welchen eine “dissenting opinion” vorgesehen ist. Man spricht dort vom österreichi­schen Modell, dem gefolgt werde, plus “dissenting opinion”. Von diesem Institut wird in den osteuro­päischen Verfas­sungsge­richten häufig Gebrauch gemacht.

Die verbleibende Zeit erlaubt mir für den Rechtsvergleich nur noch folgende grundsätzliche Be­merkungen:

1. Meine Bejahung der “dissenting opinion” für Österreich beschränkt sich ausschließlich auf den Verfassungsgerichtshof. Andere Gerichte müssen grundsätzlich vom Verfassungs­gerichts­hof unterschieden werden.

2. Von den Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes spreche ich grundsätzlich den Grund­rechtsschutz und die Normenprüfung an.

3. Obwohl auch Staaten mit einer vergleichbaren Rechtsentwicklung und Rechtsstruktur unter­schiedliche Methoden entwickelt haben und anwenden, ist systemimmanent für alle erkennbar, daß die “dissenting opinion” ein Teil der Rechtskultur geworden ist. Die demokratischen Wurzeln aus England, die Fortentwicklung der Rechtsprechung in den USA und die Vertiefung des Rechtsstaates in der Bundesrepublik sind maßgeblich für das Wesen unserer gemeinsamen Rechtskultur. Die “dissenting opinion” ist darum ein Baustein, auf den nicht verzichtet werden sollte.

4. Ein Zwang zu einer “dissenting opinion” ist nirgends vorgesehen.

All dies soll keine Anleitung und kein Rezept sein. Ich habe in einem Interview davon ge­sprochen, daß es denkbar wäre, daß man in diesem Zusammenhang einen ähnlichen Weg geht wie beim Rechtsschutzbeauftragten, nämlich daß etwa eine Frist von drei Jahren als Probezeit vorgese­hen ist, damit man erkennen kann, wie von diesem Institut Gebrauch gemacht wird. Sollte es mißbraucht werden, dann wäre dem sowohl durch die Richter des Verfassungs­ge­richtshofes zu begegnen, die die Möglichkeit haben, die “dissenting opinion” nicht zu gebrau­chen, als auch durch den Gesetzgeber, der für die Zukunft eine Verlängerung des eingeführten Instituts nicht vor­nimmt.

Ich schließe mit einem Dank dafür, daß die seit langem schwebende Debatte in diesem Haus zum Gegenstand einer Enquete gemacht wurde und damit diesem Thema der ihm gebührende Rahmen gewährt wurde.

10.26


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Der nächste Beitrag kommt von der Frau Präsiden­tin des Bundesverfassungsgerichtes. – Bitte, Frau Präsidentin.

“Das Bundesverfassungsgericht und das Minderheitsvotum”

10.27


Referentin Dr. Jutta Limbach (Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichtes): Herr Präsi­dent! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich genauso diszipliniert wie mein Vor­redner ganz kurz über die Erfahrungen des Bundesverfassungsgerichts berichten.

Wie Herr Machacek schon gesagt hat, ist mit der vierten Novelle zum Bundesverfassungsge­richtsgesetz den Richtern die Möglichkeit eröffnet worden, ihre von einer Entscheidung oder deren Begründung abweichenden Meinung in einem Sondervotum niederzulegen. Es wurde aber schon vor dem Jahre 1877 darüber nachgedacht, ob man diese Möglichkeit nicht für die deutsche Justiz insgesamt schaffen sollte. Man hat sich damals jedoch nicht dazu durchringen können, weil man meinte, daß damit “die Liebedienerei nach oben, die Popularitätshascherei, Eitelkeit und Rechthaberei einzelner Richter” gefördert werden könnte. – Sie sehen, was für ein Richterbild man damals hatte, und ich denke, daß man sich auch heute noch bei manchen Argumenten, die gegen das “dissenting vote” ins Feld geführt werden, auf dieses Richterbild be­sinnen muß.

Im Aufbruchsjahr 1968 wurde die Frage eines Minderheitsvotums für die gesamte Justiz der Bundesrepublik auf dem 47. Deutschen Juristentag mit einer einmaligen Verve diskutiert. Wie Sie wissen, wird auf Juristentagen zum Schluß auch über solch eine Frage abgestimmt. Damals dominierten im wesentlichen die Befürworter dieses Minderheitsvotums. Doch die höchste Zahl von Stimmen für die Einführung eines Minderheitsvotums gab es für die Verfassungsgerichts­barkeit: 371 Ja-Stimmen standen 31 Nein-Stimmen gegenüber. Der Gesetzgeber realisierte dann nur ein Minimalprogramm, indem er diese Möglichkeit des Sondervotums allein für die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt hat.

28 Jahre sind seither ins Land gegangen, und das ermöglicht uns, etwas über die Vor- und Nachteile dieses Instituts sagen zu können. Man kann heute feststellen, daß vom “dissenting vote” im wesentlichen nur sparsam Gebrauch gemacht wurde. Nach etwas größerem Eifer am Anfang, im Jahre 1970 und den folgenden, spielte sich die Zahl der Sondervoten auf drei bis vier, allenfalls eine Handvoll pro Jahr ein. Insgesamt sind 6 Prozent aller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesen Jahren mit einer, mitunter auch mehreren “dissenting opinions” oder auch mit einer “concurring opinion” verbunden.

Ich habe Ihnen nicht nur die einschlägigen Gesetzestexte, die bereits verteilt wurden, abdrucken lassen, sondern habe vor allem für die Mitglieder des Verfassungsausschusses auch Statistiken in visualisierter Form mitgebracht, damit Sie sehen, daß die “dissenting votes” im Grunde genom­men nur einen kleinen Teil ausmachen. Nur in vier Jahren wurde die 6-Prozent-Grenze überschrit­ten. Ohne ein Gesetz darüber aufzustellen, wann es zu solchen Minderheitenvoten kommt, kann man meiner Ansicht nach bei genauer Betrachtung der “dissenting-Fälle sagen, daß das Sonder­votum immer dann Konjunktur hat, wenn sich konfliktträchtige Themen oder Entscheidungen in einem Zeitraum häufen.

Ich nehme ein Beispiel aus der jüngsten Zeit, von welchem ich weiß, daß es meine österrei­chischen Kollegen mit großem Interesse mitverfolgt haben: Das Jahr 1995 stellt einen einsamen Höhepunkt in der Streitgeschichte des Bundesverfassungsgerichtes dar. In diesem Jahr sind der Kruzifix-Beschluß, der “Soldaten sind Mörder”-Beschluß, der DDR-Spione-Beschluß und schließlich die Vermögensteuerentscheidung ergangen. Alle diese vier Beschlüsse waren mit Minderheitenvoten verbunden, und diese Entscheidungen haben nicht nur ein Sperrfeuer der Kritik beziehungsweise – denken Sie an den Kruzifix-Beschluß und die Reaktion darauf in Bayern – sogar öffentliche Empörung ausgelöst, sondern es hat überdies der “Soldaten sind Mörder”-Beschluß auch zu einer Sondersitzung des Bundestages geführt, wo das sehr ausführ­lich besprochen worden ist.

Alle eben zitierten Beschlüsse hatten Verfassungsfragen von besonderer Bedeutung zum Ge­genstand, die schon vor ihrem Erlaß in der Wissenschaft und manchmal darüber hinaus in der allgemeinen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert worden sind, so etwa die Frage, die – denken Sie an die Verleihung des Friedenspreises letztes Wochenende – auch heute noch kontrovers diskutiert wird, nämlich ob man nach der Wiedervereinigung DDR-Spionage eigentlich noch strafrechtlich ahnden könne. Das ist ein Thema, das nicht nur die Menschen in den neuen Bun­desländern, sondern auch die Politik sehr heftig beschäftigt hat. Aber auch der Gebrauch des Tucholsky-Zitats “Soldaten sind potentielle Mörder” hat nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die Strafgerichte und die öffentliche Meinung seit mehreren Jahren immer wieder herausgefor­dert. Die Empörung und den großen Protest hat bei drei dieser Urteile – Kruzifix-, “Soldaten sind Mörder”- und DDR-Spionage-Beschluß – allerdings nicht das Minderheitsvotum, sondern die Hauptentscheidung ausgelöst. Die Minderheitsvoten waren in diesem Zusammenhang vielmehr eher Balsam auf die Seelen der konservativeren Politiker oder der Bürgerbewegung der ehema­ligen DDR. Der Protest hatte mit den Minderheitsvoten also im Grunde genommen relativ wenig zu tun. Diese waren eher ein Ventil für diejenigen, die in diesen Punkten anders dachten.

Dieser Zusammenhang macht schlaglichtartig deutlich, daß die Frage, wann es zu Sondervoten kommt, von der Bedeutung der Verfassungsfrage und des Konfliktstoffes abhängt, der auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichtes steht. Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit oder aber die politische Heimat und das Rechtsverständnis der einzelnen Richter spielen, entgegen früheren Befürchtungen, eine relativ geringe Rolle. Die Tatsache, daß es immer wieder einmal, aber wirklich nur vereinzelt, Richter gegeben hat, von denen man sagt, daß sie häufige oder “be­gnadete” “dissenter” seien, widerspricht dieser Regel nicht. Vielmehr war es im Grunde genom­men immer die Besonderheit des Konfliktstoffes, die dazu geführt hat, daß eine Mehrheits­meinung mit Sondervoten konfrontiert wurde.

Es ist auch nicht der Fall, daß nur Richter einer bestimmten politischen Richtung Sondervoten abgeben. Denn die Sondervoten wurden sowohl von Richtern abgegeben, die von der CDU/CSU, als auch von Richtern, die von den Sozialdemokraten vorgeschlagen worden waren. Dabei lassen sich – auch wenn das immer wieder gerne behauptet wird, und zwar dann, wenn es zu einer bestimmten Koalition kommt – systematische Blockbildungen nicht nachweisen. Wie Sie sehen, wechseln die Gruppierungen sehr stark. Das Sondervotum ist weder einseitig ein In­strument der vermeintlich progressiven noch der vermeintlich konservativen Richter, falls man eine solche Einteilung überhaupt für eine sinnvolle Etikettierung von Richterinnen und Richtern hält.

Ich bin nicht der Meinung, daß – wie es Herr Machacek für die USA gesagt hat – von diesen Sondervoten ein großer rechtspolitischer Impetus ausgegangen ist. Ich könnte überhaupt nur zwei Entscheidungen nennen, bei denen es später eine Entscheidung im Sinne des früheren Minderheitsvotums gegeben hat: Ein Musterbeispiel ist der Sitzblockaden-Beschluß. Dazu hatte es in früheren Jahren eine Vier-zu-vier-, im Jahr 1995 eine Fünf-zu-drei-Konstellation gegeben; in der Folge hatte dann das seinerzeitige Minderheitsvotum die Mehrheit.

Sie können auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Entwicklung des Pro­blems des Abtreibungsstrafrechtes anführen: In dieser Frage hat das Bundesverfas­sungs­gericht ganz bewußt seine Meinung hinsichtlich des Fristenkonzepts und der Brauchbarkeit und Effekti­vität des Strafrechtes geändert, aber eigentlich weniger deshalb, weil die späteren Richter das Minderheitsvotum überzeugend fanden, als aufgrund der Tatsache, daß die Wissenschaft deut­lich gemacht hat, daß das damals vom Gericht für das schärfste Instrument gehaltene Strafrecht sich als relativ ineffizient für die Regelung des Schwangerschaftskonflikts erwiesen hat.

In Deutschland ist das Minderheitsvotum eher ein gefundenes Fressen für die Wissenschaft, die Wissenschafter stürzen sich darauf, und es gibt in diesem Zusammenhang sehr berühmte Min­derheitsvoten. Ich nenne nur eines: Es wurde unter dem Stichwort “Reiten im Walde” von einem Staatsrechtler, meinem Kollegen Professor Grimm, geschrieben, und die Auseinandersetzung mit diesem wirklich beeindruckenden Minderheitsvotum gehört zum Pflichtstudium in jedem ver­fassungsrechtlichen Lehrbuch und Staatsrechtslehrbuch. – Solche Beispiele gibt es mehrere, das ist nur eines davon.

Im Gegensatz zu Herrn Machacek bin ich keine potentielle, sondern auch eine tatsächliche “Dis­senterin”: Viermal habe ich in meinen vier Amtsjahren dissentiert. Ich will jetzt nicht im einzelnen darauf eingehen, sondern damit nur deutlich machen, daß ich in den wenigen Minuten, die mir noch verbleiben, mein Augenmerk mehr auf die Nachteile als auf die Vorteile richte.

Meine Damen und Herren! Dazu sei gesagt: Man kann aufgrund der deutschen Erfahrungen Vorteile oder Nachteile nicht empirisch meßbar dingfest machen. Es ist nie versucht worden, diese Frage zu operationalisieren und dann systematisch zu messen. Ich kann nur Impressio­nen aus der eigenen Erfahrungswelt, aufgrund der Meinung, die meine Kollegen vertreten, und aufgrund dessen, was ich in der Literatur gelesen habe, aufbieten.

Für die Bundesrepublik kann man insgesamt – so wie es auch Herr Machacek gesagt hat – fest­stellen, daß dieses Thema selbst konservative Geister nicht mehr aufregt. Die nicht gerade häu­figen Sondervoten gehören zum Alltag, und selbst die Skeptiker dieses Instruments betrachten es mit großer Gelassenheit. Sie kritisieren, wie das insbesondere bei den “dissents” zu den Asyl­entscheidungen der Fall war, gerne einmal den etwas heftigen Stil der enttäuschten Minderheit. Ich gehöre zu jenen, die sich damals schelten lassen mußten. – Man lernt nie aus, und das ist gut!

Es wird immer wieder befürchtet, daß die Publikation von Sondervoten dem Ansehen und der Autorität des Gerichtes schadeten und die Abgabe von Sondervoten den Eindruck entstehen lassen könnte, daß man der Mehrheitsmeinung den Respekt verweigere. – Dafür haben sich je­doch nicht die geringsten Anhaltspunkte finden lassen. Selbst Entscheidungen, die mit größter Enttäuschung aufgenommen wurden, haben immer Respekt gefunden.

Ich denke da insbesondere an ein Urteil aus den siebziger Jahren, bei dem alle fürchteten, daß die Minderheitsvoten dazu führen würden, daß man der Mehrheitsmeinung die Gefolgschaft ver­sagt: Ich meine das damalige Urteil zur Parität an den Universitäten. Das Gericht kam entgegen dem Rahmengesetz der sozialliberalen Koalition zu dem Ergebnis, daß in Fragen der Forschung und der Lehre Hochschullehrer einen ausschlaggebenden Einfluß haben und darum in solchen Gremien die Mehrheit haben sollten. Es erhob sich seinerzeit lautes Geschrei in der Assisten­ten- und Studentenschaft. Später sind alle Gesetze getreu dieser Entscheidung des Bundesver­fassungsgerichtes in den Ländern wie im Bund formuliert worden, und auch an den Universitä­ten – das kann ich aus eigener Erfahrung für Berlin sagen, denn ich war immer an der “Front”, wenn es um die studentische Opposition ging –, wurde das anstandslos akzeptiert.

Eine andere Sorge ist immer, daß die Möglichkeit des “dissents” zu einer resignativen Flucht in den “dissent” führt, daß man also einen Meinungsunterschied nicht auskämpft. Auch dieses Argument deutet auf ein etwas trostloses Richterbild hin. Gewöhnlich ist eher das Gegenteil der Fall, daß nämlich alle in einem solchen Gremium für ihre Auffassung werben und ein “dissent” wirklich nur als allerletztes Instrument überhaupt genutzt wird, weil dieser mit großem psychi­schen und geistigen Aufwand und auch mit Zeitaufwand verbunden ist. Denn die Formulierung eines “dissents” verlängert eindeutig die Beratungen. Die Vorbereitung eines solchen “dissents” kostet beinahe genauso viel Zeit wie die eigentlichen Beratungen. Im Grunde genommen verhält es sich eher so, daß die ernsthafte Ankündigung eines Sondervotums dazu führt, daß mit be­sonderer Sorgfalt diskutiert wird, und daß die Vorlage eines “dissents”, wofür wir bestimmte Ver­fahrensregeln in der Geschäftsordnung niedergelegt haben, immer dazu führt, daß die Verhand­lung nicht beendet oder vertagt wird, damit man gleich noch einmal über die Hauptentscheidung, deren Konsistenz, Widerspruchsfreiheit und Klarheit diskutieren kann.

Meine Damen und Herren! Ein Minderheitsvotum führt auch nicht zu einer Einschränkung der Befriedungswirkung führt. Im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, daß aufgrund der Tatsache, daß der Bevölkerung und auch den betroffenen Politikern deutlich gemacht wird, daß man über eine Frage auch anders denken kann, eher eine Art Entlastung geschaffen und die Gefolgschaft hinsichtlich der Mehrheitsmeinung eher gestärkt wird. Man sieht sich ernst genommen, und ich halte unsere Demokratie für soweit gereift, daß man auch dann, wenn man glaubt, die besseren Argumente auf seiner Seite zu haben, der Mehrheitsmeinung folgen kann.

Ich möchte noch auf ein Argument eingehen, das mir von Herrn Präsidenten Adamovich und den Richterinnen und Richtern, denen es entgegengehalten wird, immer genannt wurde, nämlich daß sich durch die Möglichkeit des Minderheitsvotums neue Abhängigkeiten ergeben könnten, weil die Zulassung des Minderheitsvotums das Beratungsgeheimnis durchbricht. Man sagt, daß es schließlich Dankbarkeiten gebe, und es wird oft behauptet, daß der Wunsch, im Einklang mit jener Partei zu bleiben, die einen für dieses Amt vorgeschlagen hat, dazu führe, daß man solch ein Minderheitsvotum abgibt. – Ich habe weder im Kollegenkreis noch aus Krei­sen der Politik auch nur die mindesten Anhaltspunkte für solch eine Haltung entdeckt. Das wäre den Einsatz auch über­haupt nicht wert, denn die Wahl eines Bundesverfassungsrichters setzt eine Zweidrittelmehrheit voraus, man muß also immer auch die Stimmen der anderen Partei für sich gewinnen, um über­haupt das Amt eines Bundesverfassungsrichters zu erhalten. Solche Gefolgschaften und Dank­barkeiten, die bis in das Minderheitsvotum hineinreichen, gibt es in der Tat nicht. Ich habe auch auf der Seite der Politik noch nie ein Interesse daran erkannt, sich wenigstens in einem Minder­heitsvotum wiederzufinden, denn eigentlich wollen alle immer am liebsten auf der Siegerseite sein!

Abschließend muß gesagt werden, daß diese Minderheitsvoten, wenn auch in ganz bescheide­nem Maße, der Transparenz der Rechtsfindung eindeutig dienen und den Bürgern die Erfahrung ermöglichen, daß es nicht nur eine richtige Entscheidung gibt und daß Richter nicht “freischwe­bende Intelligenzen”, sondern Menschen aus Fleisch und Blut sind, die ihre eigene Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft und ein unterschiedliches Rechtsverständnis haben, daß darin deutlich wird. Wir sollten nicht nur ein positiveres Richterbild haben, sondern auch davon ausge­hen, daß unsere Bevölkerung soweit gereift ist, daß sie begreift, daß es allerorten und allenthal­ben – selbst in einem so hohen Gericht – Meinungsunterschiede gibt, daß man sich an diesen Auseinandersetzungen beteiligen muß, aber ebenso wie in der Politik bei Parlamentsentschei­dungen auch bei Gerichtsentscheidungen der Mehrheit Respekt zu zollen hat. – Danke. (Allge­meiner Beifall.)

10.46


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Als nächster Referent gelangt nun der Herr Präsi­dent des Bundesgerichtes Dr. Müller zu Wort. – Bitte, Herr Präsident.

“Das Verfahrensrecht des Schweizer Bundesgerichtes und die ,dissenting opinion‘”

10.46


Referent Dr. Peter Alexander Müller (Präsident des Schweizer Bundesgerichtes): Herr Präsi­dent! Meine Damen und Herren! Mein Ausgangspunkt ist – das möchte ich voraus­schicken –, daß wir kein einheitliches schweizerisches Prozeßrecht haben, sondern eine Viel­zahl von Ge­richtsorganisationen und von Prozeßgesetzen. Neben dem Organisations- und Ver­fahrensrecht des Bundes bestehen 26 selbständige kantonale Gerichtsorganisationen und Pro­zeßrechte. Allen ist die Konzeption gemeinsam, daß ein Gerichtsurteil – und um Gerichtsurteile geht es meines Erachtens heute – die Auffassung des Gerichtes als solche ausdrückt, gleich­gültig, ob das Urteil einstimmig oder mit Mehrheitsentscheid zustande gekommen ist.

Jeder Richter kann im Rahmen der Entscheidfindung seine Meinung, sowohl hinsichtlich der Verfahrens als auch der Sach- und Rechtsfragen, offen einbringen. Ist das Urteil einmal gefällt, so soll er sich nach unserer Auffassung in Zurückhaltung üben, unabhängig davon, ob er zur Mehrheit gehörte oder eine Minderheitsauffassung vertrat, und die Verantwortung für die Ent­scheidung kollegial mittragen. Bei uns lautet die Devise: Individualität in der Beratung, Solidarität gegenüber dem Urteil.

In diesem Sinne sehen weder das Bundesrechtspflegegesetz noch die meisten Verfahrensge­setze der Kantone vor, daß Minderheitsauffassungen separat ins Urteil aufgenommen werden. Lediglich vier Schweizer Kantone kennen ein ganz beschränktes Recht auf Kenntnisgabe einer Minderheitsauffassung, in keinem dieser Prozeßgesetze wird allerdings vorgesehen, daß das Stimmenverhältnis oder gar die Namen der Vertreter der Minderheitsmeinungen publik gemacht werden. Kurz und einfach auf einen Nenner gebracht: Das Institut der “dissenting opinion” ist der schweizerischen Rechtsprechungstradition fremd.

Hängig ist zurzeit eine Motion, die im Nationalrat am 20. Juni vorigen Jahres im Blick auf die Einführung der “dissenting opinion” beim Bundesgericht hinterlegt wurde. – Ich komme später darauf zurück.

Wir kennen nach dem Bundesrechtspflegegesetz keine “dissenting opinion”. Sie wird aufgrund “qualifizierten Schweigens” des Gesetzgebers als unzulässig betrachtet. Dieses qualifizierte Schweigen muß aber in das gesamte Procedere eingebettet werden, in dem sich die richterliche Entscheidfindung des Bundesgerichts abspielt, insbesondere hinsichtlich der Öffentlichkeit der bundesgerichtlichen Beratungen einerseits und der Besonderheit der Redaktion bundesgericht­licher Urteile andererseits.

Die Beratungen sind bei uns in der Regel, von Ausnahmen abgesehen, öffentlich. Diese – trotz einiger Versuche, sie abzuschaffen – seit jeher geltende Regelung gibt jedem Richter die Mög­lichkeit, an solchen öffentlichen Beratungen seine Meinung vor dem Publikum, das meist aus einigen Journalisten und, wenn auch nicht immer, Vertretern der Parteien, hie und da auch ganzen Schulklassen und Universitätsstudenten besteht, kundzutun und auch zu verteidigen. Das Publikum kann also live – um dieses schöne Wort zu brauchen – miterleben, wie und mit welchen Argumenten und Gegenargumenten es zur Entscheidfindung kommt. Namentlich wird in aller Öffentlichkeit ersichtlich, welchen Antrag der Referent mit welcher Begründung vorbringt, wer gegebenenfalls einen Gegenantrag stellt und wie er diesen begründet, wer welche Kritik an den Ausführungen oder Schlußfolgerungen des Referenten, des Gegenantragstellers oder eines Mitwirkenden anbringt, wie sich die Mitwirkenden gegebenenfalls kritisch oder weniger kritisch zu Lehrmeinungen äußern, die im konkreten Fall zur Diskussion stehen, wie die weitere Bera­tung verläuft – insbesondere ob ein Richter im Verlaufe der Beratungsrunden seine ursprüng­liche Meinung ändert, was auch vorkommt –, ja selbst, welche Meinung der mit beratender Stimme mitwirkende Gerichtsschreiber einbringt. Und schließlich kann das Publikum miterleben, wer am Schluß wie stimmt.

Der Bundesgesetzgeber war seit Anbeginn der Auffassung, daß damit dem Anliegen einer demokratischen Kontrolle der obersten Justiz das Tor weit genug geöffnet sei, und das trotz einiger Bedenken, die dagegen geäußert wurden, namentlich von Professor Eichenberger be­treffend die Unabhängigkeit des Richters in der öffentlichen Beratung. – Frau Präsidentin Lim­bach hat das schon erwähnt. Es mag zwar vereinzelt zutreffen, ist aber in erster Linie oder zumindest eher ein Problem der Persönlichkeit des einzelnen Richters.

Im übrigen hat sich der schweizerische Gesetzgeber nie bemüßigt gefühlt, an dieser Institution der öffentlichen Beratung etwas zu ändern, wiewohl immer wieder versucht wurde, mit allen möglichen Argumenten daran zu rütteln.

Einzuräumen ist, daß mit zunehmender Geschäftslast – Sie werden sich vorstellen können, daß das Bundesgericht nicht alle 6 000 Fälle öffentlich berät – die öffentlichen Beratungen prozen­tual aber auch effektiv seltener geworden sind, dies auch deshalb, weil seit dem Jahre 1991 bei Einstimmigkeit auf dem Wege der Aktenzirkulation entschieden werden kann. – Das ist ein Problem der Gefährdung der Beratungskultur, nicht aber der fehlenden Möglichkeit, in einer Beratung seine Meinung öffentlich vertreten zu können. Denn jeder Richter kann in jedem Fall die Beratung verlangen, auch wenn Einstimmigkeit herrscht.

Die zweite Besonderheit, die im Rahmen des Problems der “dissenting opinion” für mich nicht unbedeutsam erscheint – das sage ich, damit man das schweizerische System begreift – ist die Tatsache, daß nach der geltenden Ordnung nicht der Richter die Urteilsbegründung abfaßt, son­dern der Gerichtsschreiber. Dieser hat nicht einfach nur Mehr- und Minderheitsauffassungen “schön” wiederzugeben, sondern das Amt des Bundesgerichtsschreibers stellt höhere Anforde­rungen: Es setzt eine sichere Übersicht über die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die einschlägige Literatur voraus. Aus dem durch die Akten und die Beratung dargebotenen Stoff muß der Gerichtsschreiber nach der Sitzung kraft selbständiger Erwägung dasjenige auswäh­len, was sich für die Begründung des Urteils eignet, und diesen Stoff unter Umständen ergän­zen. Er hat dabei sorgfältig nach unseren Regeln darauf Bedacht zu nehmen, daß das Urteil in der Art der Begründung auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung bleibt, soweit die urteilende Abteilung nicht bewußt neue Wege gehen will.

Der Gerichtsschreiber hat somit die den Urteilsspruch tragende Begründung der Gerichtsmehr­heit juristisch optimal in der Amtssprache des Urteils –, die gar nicht jene des Referenten sein muß, sondern diejenige, die nach dem Prozeßgesetz zum Zuge kommt – darzustellen. Dabei fließen Anregungen aus Minderheitsvoten ebenfalls in die Redaktion ein, und zwar nicht als an­gehängte “dissenting opinions”, sondern dadurch, daß sich das Urteil in seiner Begründung mit Gegenargumenten auseinandersetzt. Und das ist gerade in einer Zeit, in der Einstimmigkeit aus Zeit- und Belastungsgründen vorherrscht und die öffentlichen Beratungen seltener geworden sind, besonders wichtig.

Für solcherlei redigierte Urteile muß – das müssen Sie mir glauben, denn ich war jahrelang Ge­richtsschreiber – die separate Abfassung und Veröffentlichung von Minderheitsmeinungen einen Fremdkörper bilden. Diese Urteile sind aber trotzdem, wenn auch ohne Minderheitsmeinungen, so doch im Sinne von “dissenting opinions” abgefaßt, für die Rechtsfortbildung wertvoll. Das belegen die Diskussionen, die sie nicht nur bei den Professoren auslösen.

Als ehemaliger Gerichtsschreiber kann ich mir kaum vorstellen, daß es etwas anderes für mich wäre, als in des Teufels Küche zu geraten, wenn ich in die Urteilsbegründung noch “dissenting opinions” hineinflicken müßte, da ich doch vorher ohnehin versucht habe, das Urteil so abzufas­sen, daß auch derjenige, der nicht bei der Verhandlung war, merkt, wo – wie wir bei uns sagen – der Hase läuft.

Es gibt nun eine Motion zur Einführung der “dissenting opinion”. Sie wurde, wie gesagt, am 20. Juni vorigen Jahres eingebracht und enthält die Grundaussage, daß jedes Mitglied im Bun­desgericht berechtigt sein soll, daß seine abweichende Meinung mit Begründung in der schrift­lichen Abfassung des Urteils aufgenommen wird.

Zur Begründung dieser Motion wurden die üblichen Argumente vorgebracht. Ich brauche auf diese nicht weiters einzugehen. Der Bundesrat, also die Regierung, die dazu gegenüber dem Parlament Stellung nehmen muß, hat die Motion geprüft und wird im Parlament deren Ableh­nung beantragen. Meines Erachtens weist er zu Recht darauf hin, daß die bestehende Verfah­rensordnung mit der öffentlichen Beratung bereits eine gewisse Öffentlichkeit der persönlichen Auffassung des einzelnen Richters in bezug auf eine andere Entscheidfindung gewährleistet. Sodann hebt der Bundesrat meines Erachtens zutreffend hervor, daß gerade die umfassende Begründung der bundesgerichtlichen Entscheide, mit welcher der gedankliche Argumenta­tionspfad sowie die verschiedenen geltend gemachten Argumente wiedergegeben werden, es keineswegs als sicher erscheinen lassen, ob die separate Publikation persönlicher Ansichten viel zur Rechtssicherheit beitragen würde; ein gegenteiliger Effekt wäre denkbar.

Zum Schluß einige persönliche Gedanken: Die Ablehnung des Bundesrates kann ich voll teilen, und ich möchte hier nur kaleidoskopartig einiges anführen.

Erstens: Die oft gehörte These, wonach die Minderheit quasi die Prophetin der künftigen Ent­wicklung der Rechtsprechung sei, scheint mir durch nichts belegt. Minderheiten können auch alt und konservativ sein, in Bälde wegfallen, und es kann dann auch einmal Einstimmigkeit ent­stehen.

Zweitens: Eine Gerichtsmehrheit, der es um die seriöse Entscheidung geht, setzt sich mit Min­derheitsauffassungen unabhängig davon auseinander, ob diese im Urteil oder separat im An­hang desselben wiedergegeben werden oder nicht. Es besteht wohl im Gegenteil eher die Ge­fahr, daß sich die Minderheit mit der Mehrheit nicht genügend auseinandersetzt, wenn sie weiß, daß sie sich mit ihrer separat bekanntgegebenen Minderheitsauffassung vor aller Welt ein Denkmal setzen kann. Statt mit Bereitschaft und Offenheit zum Gespräch den Dialog zu suchen und einvernehmlich auf den Konsens in der Beratung hinzuarbeiten, dürften – ich sage das nicht für Deutschland, ich sage das nur für die Schweiz – vermehrt die Konfrontation und die Selbstdarstellung angestrebt werden.

Drittens: Daß die Wiedergabe von Minderheitsauffassungen die künftige Entwicklung der Recht­sprechung – weil voraussehbar – berechenbar mache und insoweit zur Rechtssicherheit bei­trage, halte ich für eine Illusion. Wer kann als Außenstehender schon voraussagen, ob, und ge­gebenenfalls wann, eine Minderheitsauffassung zur Mehrheitsauffassung wird? Was ist mit den falschen Hoffnungen, die geweckt, und den irreführenden Signalen, die gesetzt werden? Daß Recht und Gerechtigkeit relativ und zeitgebunden sind, dürfte allgemein bekannt sein. Ist es er­forderlich, dies über die öffentliche Beratung hinaus durch Wiedergabe von Minderheitsauffas­sungen zusätzlich zu verdeutlichen?

Kantonale Vorinstanzen, Anwälte, andere Parteien sind gewiß auch ohne Wiedergabe und Publikation von Minderheitsauffassungen in der Lage, die Stärken und die Schwächen eines bundesgerichtlichen Urteils zu erkennen. Und um die vielgelobten rechtswissenschaftlichen Dis­kussionen auszulösen, bedarf die Lehre des Impulses durch Wiedergabe von Minderheitsauf­fassungen im Bundesgerichtsentscheid nicht. Es genügen jene Impulse, die schon jetzt ausge­löst werden.

Daß die Publikation von “dissenting opinions” gar legislative Überlegungen hinsichtlich der Re­visionsbedürftigkeit von Rechtsregeln auslösen würde und damit besonders intensiv Wirkungen auf die Fortbildung des Rechts erzeugt, scheint mir durch nichts belegt. Im Gegenteil, der Ge­setzgeber dürfte, zumindest in der Schweiz, eher abwarten und zusehen, ob sich das Tätigwer­den nicht deshalb erübrigt, weil die Minderheit zur Mehrheit werden könnte. Eine gefestigte und scheinbar unerschütterliche Rechtsprechung dürfte unter Umständen intensivere wissenschaft­liche Diskussionen in Gang bringen und eher zu einer Gesetzesrevision führen als eine durch Wiedergabe von Minderheitsauffassungen gleichsam besänftigende Hoffnungen weckende Rechtsprechung.

Mein Fazit: Aus schweizerischer Sicht halte ich dafür, daß es nicht nur bei der gegenwärtigen Organisation der Bundesrechtspflege, sondern ganz allgemein mehr Argumente gegen als für die Wiedergabe von Minderheitsauffassungen in Entscheidungen des Schweizerischen Bundes­gerichts gibt.

Persönlich möchte ich, und nur per abundantiam, folgendes beifügen: Wäre ich vor die Alterna­tive gestellt, mich zwischen öffentlicher Beratung und Veröffentlichung abweichender Meinungen entscheiden zu müssen, fiele meine Wahl eindeutig im Sinne meines Demokratieverständnisses und ohne Zögern auf die öffentliche Beratung.

Was vor 150 Jahren für die Öffentlichkeit der Beratung ins Feld geführt wurde, gilt meines Er­achtens heute, auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert, immer noch. Die Würde des Gerichts, so wurde damals dafür ins Feld geführt, und das Vertrauen der Parteien und des Volkes können nur erhöht werden, wenn die geistige Tätigkeit des Richters, seine moralische und wissenschaft­liche Befähigung und die ganze Gestaltung des Urteils offenliegen. – Ich danke Ihnen. (Allge­meiner Beifall.)

11.04


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Ich rufe als nächsten Referenten Herrn Univ.-Prof. Dr. Grabenwarter auf.

“Praktische Erfahrungen mit der ,dissenting opinion‘ am

Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte”

11.04


Referent Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter (Institut für Verfassungs- und Verwal­tungsrecht, Universität Linz): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Montag voriger Woche konnte man auf der Rechtspanoramaseite der Tages­zeitung “Die Presse” die inter­nationalen Erfahrungen des scheidenden österreichischen Richters am Europäischen Gerichts­hof für Menschenrechte Franz Matscher nachlesen. Er erblickt im Sondervotum erstens die Gefahr, daß sich von einer Partei oder einem Staat nominierte Richter bemüßigt fühlen könnten, ein Sondervotum in deren oder in dessen Interesse abzugeben, und zweitens die Gefahr einer Personifizierung der Kritik gegen die Richter der Mehrheitsmeinung mit negativen Folgen für die richterliche Unabhängigkeit. Aus seiner 22jährigen Tätigkeit beim Gerichtshof sah er zwar nicht die erste, wohl aber die zweite Gefahr als gegeben an und be­fürchtet eine noch größere Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit im innerstaatlichen Bereich. Er gelangt zum Schluß, daß die Einführung von Sondervoten beim VfGH angesichts dessen zum gegenwärtigen Zeitpunkt abzulehnen sei.

Meine Damen und Herren! Ich kann zwar nicht auf Erfahrungen als Richter aufbauen, wohl aber hatte ich vor sieben Jahren die Gelegenheit, den Straßburger Rechtsschutzmechanismus als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Menschenrechtskommission gleichsam von innen kennen­zulernen.

Ich werde zunächst in aller Kürze die rechtlichen Rahmenbedingungen für Sondervoten beim Europäischen Gerichtshof darlegen. Daran anschließend werde ich für einen bestimmten Zeit­raum eine quantitative Analyse vornehmen und sodann in eine inhaltliche Untersuchung ausge­wählter Sondervoten eintreten, um dann eventuelle Schlüsse für Ihre Entscheidungsfindung zu ziehen.

Die Rechtsgrundlagen für Sondervoten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind rasch dargelegt. Nach Artikel 51 Abs. 1 der Konvention ist das Urteil des Gerichtshofs zu begründen. Abs. 2 räumt jedem Richter das Recht ein, eine Darlegung seiner eigenen Ansicht beizufügen, wenn das Urteil im ganzen oder in einzelnen Teilen nicht die übereinstimmende An­sicht der Richter zum Ausdruck bringt.

Artikel 53 der Verfahrensordnung A des Gerichtshofes führt diese Bestimmung näher aus und erwähnt die drei Arten von Sondervoten beim Europäischen Gerichtshof, nämlich die “con­curring opinion”, die “dissenting opinion” und die Mitteilung des Stimmverhaltens, die bloße Fest­stellung, daß man abweichend gestimmt hat, ohne eine weitere Begründung zu geben.

Zwei Dinge, die das Rechtsschutzsystem in Straßburg betreffen, möchte ich, bevor ich in die quantitative Analyse eintrete, noch vorweg hervorheben:

Erstens: In diametralem Gegensatz zum EuGH ist beim EGMR der Richter jenes Staates, der in einem Fall belangt ist, nach Artikel 43 der Konvention ex officio Mitglied der entscheidenden Kammer.

Zweitens: Unabhängig von der Abgabe eines Sondervotums werden im Urteil nach Artikel 53 Abs. 1 lit. M der Verfahrensordnung A stets die Abstimmungsergebnisse im Gerichtshof – je­weils aufgeschlüsselt nach Beschwerdepunkten – wiedergegeben.

Die Praxis des Gerichtshofes ist es im Grunde seit Beginn seiner Tätigkeit gewesen, daß Rich­ter, die in einer Abstimmung über ein Urteil in der Minderheit geblieben waren, stets eine abwei­chende Meinung abgegeben haben. Die Möglichkeit des Sondervotums führt in der Praxis trotz Freiwilligkeit zu einer lückenlosen Abgabe von Sondervoten durch die Minderheit. Das Stimm­verhalten eines jeden Richters kann daher in jedem Fall im wesentlichen ermittelt werden.

Soweit daher in der Diskussion auf die Freiwilligkeit der Abgabe von Sondervoten hingewiesen wird, scheint mir die Straßburger Erfahrung, im Gegensatz zu dem, was Frau Präsidentin Limbach für Deutschland gesagt hat, dafür zu sprechen, daß das dissentierende Sondervotum nach kurzer Zeit auch ohne rechtlichen Zwang zum festen Bestandteil jeder nicht einstimmig ge­troffenen Entscheidung werden wird. Wir haben diesbezüglich also zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen.

In der quantitativen Gegenüberstellung der drei Arten von Sondervoten zeigt sich, daß – wenig überraschend – das dissentierende Votum das weitaus häufigste ist. Auf drei “dissenting opinions” kommt eine “concurring opinion”. Höchst vereinzelt ist die dritte Art von Sondervoten, die Feststellung eines abweichenden Stimmverhaltens, anzutreffen. Wenn ein Richter zum Aus­druck bringen will, daß er in der Minderheit geblieben ist, aber aus welchen Gründen immer kein eigenes Separatvotum verfassen will, so tut er dies in der Praxis häufig dadurch, daß er sich der “dissenting opinion” eines Richterkollegen anschließt.

Ich habe für das Ihnen zu präsentierende Zahlenmaterial einen Zeitraum von fünf Jahren ge­wählt, nämlich die Jahre 1991 bis 1995, die mir einigermaßen repräsentativ erscheinen. In die­ser Zeit ergingen 193 Urteile, in denen der Gerichtshof in der Sache entschied – ich lasse Urteile, in denen über Entschädigungen befunden wurde, dabei außer Betracht. Dabei stellte der Gerichtshof in 126 Fällen eine Verletzung fest, in 67 Fällen verneinte er das Vorliegen einer solchen.

Für unser heutiges Thema ist interessant, daß in 114 dieser Fälle wenigstens eine “dissenting oder “concurring opinion” abgegeben wurde, während in 79 Fällen – Fällen der Einstimmigkeit – eine solche unterblieb. In Prozenten ausgedrückt bedeutet das, daß es in 59 Prozent der Fälle ein Sondervotum gab, in 41 Prozent unterblieb es. Die Häufigkeit von Sondervoten ist dabei im wesentlichen bei der Feststellung einer Verletzung gleich hoch wie bei der Feststellung einer Nichtverletzung. – Auf die Sondervoten bezogen ist festzuhalten, daß zu diesen 114 Urteilen ins­gesamt 254 Sondervoten oft auch gemeinsam von Richtern abgegeben wurden, davon 189 ab­weichende und 65 zustimmende Voten.

Betrachtet man die Häufigkeit von Sondervoten in Abhängigkeit vom einzelnen Richter, so zeigt sich – und ich verweise wieder darauf, daß das von den Erfahrungen in Deutschland abweicht –, daß die Zahl abgegebener Sondervoten je nach Richter sehr stark variiert. Für die “dissenting opinion” ist es bei der Straßburger Sondervotenpraxis sicherlich am maßgeblichsten, wie oft ein Richter, aus welchen Gründen auch immer, in der Minderheit geblieben ist.

Signifikanter ist vielleicht das Verhalten der Richter bei der Abgabe von “concurring opinions”. Hier sind drei Richter, unter ihnen der Österreicher Matscher, auszumachen, welche sich deut­lich öfter als ihre Kollegen auch dann äußern, wenn sie ohnedies in der Mehrheit sind, wobei die beiden anderen Richter, jener aus Holland und jener aus Belgien, häufiger eine “concurring opinion” als eine “dissenting opinion” abgeben.

Was das Stimmverhalten der Richter anbelangt, so zeigt sich, daß es die Ausnahme ist, daß ein Richter gegenüber seinem Staat anders oder gar milder urteilt als in jenen Fällen, in denen es um andere Staaten geht. Insoweit möchte ich auch Matschers Befund in der “Presse” zustim­men. Gleichwohl gibt es hier auch Ausnahmen. Zu nennen wäre Matscher selbst, bei dem pro­zentuell eine gewisse staatsfreundliche Haltung auszumachen ist. Ein ganz krasses Beispiel dafür ist der türkische Richter, der in der Zeit, als es noch keine Beschwerden gegen die Türkei gab, diesbezüglich ein unauffälliger Richter war und kaum Sondervoten abgegeben hat. Als in den letzten zwei, drei Jahren die Türkei vor allem wegen Kurdenfragen vor den Gerichtshof kam, hat er bei Verletzungen fast immer – in 20 Fällen 13mal – dissentiert! Das steht in ganz auffallendem Widerspruch zu seiner Haltung gegenüber anderen Staaten.

Ein Institut, das eine Besonderheit beim Europäischen Gerichtshof darstellt, ist die Bestellung eines Ersatzrichters. Einige Richter am Europäischen Gerichtshof sind auch innerstaatlich Höchstrichter und können natürlich nicht über ihr eigenes höchstgerichtliches Urteil mitbefinden, in diesen Fällen wird ein Ad-hoc-Richter nominiert. Dabei ist eine deutlich höhere Devianz im Entscheidungsverhalten bei Fällen gegenüber dem eigenen Staat festzustellen.

Ich komme zum zweiten Teil meiner Ausführungen, zur inhaltlichen Analyse der Sondervoten. Dabei möchte ich vorausschicken, daß es in allen Systemen mit Sondervoten immer wieder vor­kommt, daß ein Entscheidungsentwurf keine Mehrheit findet und sodann als Minderheitsvotum herangezogen wird. Auch das ist in Straßburg der Fall, wann genau läßt sich jedoch ohne Bruch des Amtsgeheimnisses nur spekulativ erfassen. Auch weisen diese Fälle in bezug auf ihren In­halt – abgesehen von einigen Adaptionen – keine Besonderheiten gegenüber einer Urteilsbe­gründung auf, waren sie doch ursprünglich als solche konzipiert.

Ich möchte im folgenden neben diesem gewiß bedeutenden Fall noch einige andere typische Beispiele von Sondervoten – auf das Allerwesentlichste beschränkt – hervorheben, um zu doku­mentieren, warum Richter eine “dissenting opinion” abgeben.

Zunächst ist als erste Funktion zu nennen, daß nationale Richter, wenn er in der Minderheit ge­blieben ist, häufig den Standpunkt der belangten Regierung in einem Sondervotum zu unter­mauern versucht. Dies geschah etwa im Fall Pettiti, in dem es um den Schadenersatz für einen AIDS-Infizierten ging und bei dem der nationale Richter das an sich sehr rechtsschutzfreund­liche System in Frankreich hervorhebt, oder im Fall Kokkinakis, in dem der griechische Richter Valticos die sehr restriktive Praxis der griechischen Behörden und Regierung in der Haltung ge­genüber den Zeugen Jehovas zu rechtfertigen versucht und zu einer recht deutlichen Sprache findet.

Der türkische Richter ist in den von mir genannten Fällen – wenig überraschend – ebenfalls auf­fallend oft in der Verteidigungsrolle. So hat er etwa in einem Fall, in dem es um die Vergewalti­gung und Mißhandlung einer 17jährigen Kurdin ging, gemeinsam mit anderen Richtern zunächst die Verletzung des Folterverbots gegenüber der Mehrheit verneint und in der “dissenting opinion” dann 20 Urteile in ihrem Wortlaut abgedruckt, um zu zeigen, daß das türkische Rechtsschutz­system effektiv ist – ohne durchschlagenden Erfolg, wie die spätere Recht­spre­chung zeigt.

Sondervoten legen, wenn ich das etwas verallgemeinern darf, da und dort die Befangenheit von nationalen Richtern – und ich bitte, Befangenheit hier nicht technisch zu verstehen – in Fällen offen, die gegen ihr eigenes Land gerichtet sind. Die Praxis zeigt, daß die einzelnen Richter bei der Entscheidungsfindung in Straßburg in unterschiedlichem Maße von ihrem Mitgliedstaat emanzipiert sind. Der Wert des Sondervotums ist angesichts dessen ambivalent. Dort, wo der Druck der europäischen Öffentlichkeit geringer ist als der Druck im eigenen Land, ist es nicht auszuschließen, daß die institutionalisierte Veröffentlichung der richterlichen Meinung im Son­dervotum seine Unabhängigkeit gegenüber seinem Mitgliedsland kaum stärken dürfte. Zwei voneinander unabhängig durchgeführte holländische Analysen aus den vergangenen Jahren haben den von mir geschilderten Fall des türkischen Richters in anderen Fällen bestätigt.

Eine zweite Funktion betrifft die Schilderung des rechtlichen und gesellschaftlichen Hintergrunds eines Beschwerdesachverhalts auch im Zusammenhang mit der Bewertung der Beurteilung der grundrechtlichen Frage, wie etwa die des britischen Richters, der seine Erziehung unter dem Regime von körperlicher Züchtigung im Schulbereich darlegt und sagt, daß er davon keinen Schaden genommen hätte.

Ein anderer Fall ist jener der deutschen Lehrerin Vogt, in dem es um eine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen Aktivitäten für die Deutsche Kommunistische Partei ging. Hier machte der nationale Richter Bernhardt geltend, daß man die besondere Situation der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren berücksichtigen müsse. Interessant ist dabei, daß er die Unterstützung von Richtern aus Reformländern bekommen hat. – Auch im Fall des Verbotes von Schwangerschaftsabbrüchen im irischen Rechtssystem wertet der nationale Richter den Schwangerschaftsabbruch entsprechend, wobei er die Unterstützung vor allem von Vertretern römisch-katholisch dominierter Länder erhält.

Kurz zusammengefaßt: In den Sondervoten findet häufig ein Dialog zwischen Richtern und Mit­gliedstaaten statt, welcher – und insofern möchte ich auch Frau Präsidentin Limbach zustim­men – die Akzeptanz der Urteile jedenfalls durch die Regierungen der Mitgliedstaaten insgesamt erhöhen dürfte.

Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, daß nationale Gerichte versucht sein könnten, unter Be­rufung auf den dissentierenden nationalen Richter dem Urteil des Gerichtshofes nicht zu folgen. Dies geschah in den Jahren 1991 und 1992 im Fall Oberschlick gegen Österreich, in dem der Oberste Gerichtshof dem Europäischen Gerichtshof die Gefolgschaft verweigerte und dies ge­stützt auf die Überlegungen im Sondervotum des Richters Matscher begründete.

Oft läßt sich – und das möchte ich nur kurz erwähnen – klar und deutlich erkennen, daß der dis­sentierende Richter eine Botschaft an die eigene Regierung formuliert – dies häufig gar nicht in einer “dissenting opinion”, sondern in der “concurring opinion”.

Ein vierter wesentlicher Punkt ist, daß die Straßburger Organe in der Vergangenheit häufiger mit Fragen der Beweiswürdigung befaßt waren. Richter nutzen dabei die “dissenting opinion” dazu, deutlich zu machen, daß sie nicht wegen der Rechtsfrage, sondern wegen einer unterschiedli­chen Einschätzung des Sachverhalts abweichend gestimmt haben.

Ein wesentliches Straßburger Spezifikum ist, daß die Rechtssysteme höchst unterschiedlicher Ausprägung über den gleichen Kamm derselben Menschenrechtskonvention geschoren werden, ohne daß die entscheidenden Richter – abgesehen vom Richter des belangten Staates – in der Rechtsordnung des jeweiligen Staates ausgebildet sind. In dieser Situation erscheint es legitim, zusätzlichen Erörterungen im Rahmen von Sondervoten einen Platz einzuräumen. Es gibt dafür Beispiele sonder Zahl, die vor allem mit den Unterschieden zwischen dem anglo-amerikani­schen und dem kontinental-europäischen Rechtssystem zusammenhängen.

Auch die Verschiedenheit von Grundrechtstraditionen spielt hier eine Rolle. Im Gegensatz zum Verfassungsgerichtshof ist der Europäische Gerichtshof auf die Aufgabe beschränkt, über die Behauptung der Verletzung von Grundrechten zu entscheiden. Hierbei spielen Wertungen im Rahmen von Abwägungen immer wieder eine große Rolle. Solche Wertungen transparenter zu machen, ist eine Funktion, die gegenwärtig auch von den Sondervoten erfüllt wird. Gerade die Unterschiedlichkeit der Grundrechtstraditionen im Hinblick auf die neuen Beitrittsländer läßt diese Funktion als höchst bedeutend erscheinen.

Ein weiterer wesentlicher Punkt scheint mir zu sein, daß das Kammersystem in einem Zusam­menhang mit Sondervoten steht. Bei Durchsicht mancher Sondervoten entsteht der Eindruck, daß Richter, die in vorangegangenen Kammern nicht vertreten waren, ex post versuchen, die bestehende Rechtsprechung mit besseren Argumenten zu konfrontieren, oder in Fällen, in denen sie in der Minderheit bleiben, für die künftige Rechtsprechung eine Markierung setzen möchten.

Ein markantes Beispiel hierfür bietet die Rechtsprechung zu den Grenzen der Meinungsäuße­rungsfreiheit für die Beschränkung der Kritik an Richtern und Gerichten, vornehmlich durch Journalisten. Ich habe die Beispiele, beginnend mit dem Fall “Sunday Times” bis herauf zum Fall “De Haes and Gijsels” und “Prager und Oberschlick gegen Österreich” in meiner schriftlichen Unterlage angeführt und möchte mich hier auf Schlußfolgerungen beschränken.

Es wäre sicherlich unseriös zu spekulieren, ob das Institut des Sondervotums tendenziell die Herausbildung einer ständigen und für den Rechtsunterworfenen berechenbaren Rechtspre­chung behindert. Die Beispiele in der Judikatur dürften aber eines recht deutlich zeigen: In einem Kammersystem gibt es gleich aus mehreren Gründen einen besonderen Bedarf des Richters nach einem Sondervotum, nämlich erstens, um Kammern in künftig anderer Besetzung mit einer ausführlich begründeten Gegenposition zur Mehrheit zu beeinflussen; zweitens, um eine in anderen Kammern unter Ausschluß des dissentierenden Richters begründete Rechtspre­chung zu kritisieren; und drittens, um die eigene konsequente Haltung im Wechselbad von Mehrheit und Minderheit – je nach Kammerzusammensetzung – der Öffentlichkeit, auch mit Blick auf das eigene Land, darzulegen.

Was den Inhalt der Sondervoten, den Stil und die Qualität betrifft, so sind diese in Straßburg höchst unterschiedlich. Die Länge der Sondervoten reicht von wenigen Zeilen ohne nennens­werten eigenen Begründungswert bis hin zu 20 oder gar 30 Seiten mit einigen Dutzend Fuß­noten, in denen nicht nur auf die Vorjudikatur des Gerichtshofes, sondern vielfach auch – im Gegensatz zu den Urteilen – auf wissenschaftliche Literatur Bezug genom­men wird.

Es gilt darauf hinzuweisen, daß die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Schrifttum in den Urteilen des Gerichtshofes indessen – im Gegensatz zu manchem Höchstgericht – de facto nicht stattfindet. Dies hat wohl überwiegend mit Fragen der Sprache, aber auch mit der Verstreutheit von Fachzeitschriften im internationalen Feld zu tun. Meiner Ansicht nach spielen aber auch Fragen der Tradition eine Rolle. In einer kleinen Minderheit von Sondervoten – dies galt vor allem für jene des früheren holländischen Richters Martens – wird Fachschrifttum in teils reichem Maße zur Untermauerung des Standpunktes herangezogen.

In umgekehrter Richtung ist die Rezeption naturgemäß stärker. Wissenschaftliche Arbeiten be­schäftigen sich häufig mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes. Die Bedeutung der Sondervoten scheint mir – soweit ich das überblicke – dabei recht bescheiden geblieben zu sein. Häufiger werden Entscheidungen und Berichte der Kommission als dem Gerichtshof vor­geschaltetes Organ diskutiert und mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs kontrastiert. Auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bestätigt das. Daß die Bedeutung von Son­dervoten in jüngerer Zeit eher ab- als zugenommen hat, liegt sicherlich auch an der explosions­artigen Zunahme der Judikatur.

Lassen Sie mich kurz schließen.

Das Sondervotum hat im spezifischen Umfeld eines internationalen Menschenrechtsgerichts­hofes sowohl Vorteile als auch Nachteile. Ich glaube, daß das Sondervotum für den Euro­päischen Gerichtshof ungeachtet geringer sichtbarer Rezeption heute einen festen Bestandteil im Straßburger Rechtsschutzsystem bildet und auch beim Übergang zum 11. Zusatzprotokoll nie ernsthaft in Frage stand. Es hat beim Europäischen Gerichtshof seine Berechtigung und erfüllt dort zahlreiche Funktionen, die überwiegend in der besonderen Stellung des Europäi­schen Gerichtshofes als internationales Gericht begründet sind. Dies gilt vor allem für die Spezi­fika verschiedener betroffener Rechtssysteme, eines Kammersystems, einer Übersetzungsfunk­tion für das eigene Land oder die Vereinheitlichung unterschiedlicher nationaler Grundrechts­traditionen – Spezifika, die beim österreichischen Verfassungsgerichtshof nicht gegeben sind.

Auf die Frage, ob die Erfahrungen beim EGMR für die Einführung eines Sondervotums beim Verfassungsgerichtshof sprechen, habe ich als Berichterstatter darauf hinzuweisen, daß die Straßburger Erfahrungen vor einem ganz anderen rechtlichen und politischen Hintergrund ge­macht wurden. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Allgemeiner Beifall.)

11.26


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Ich darf nun Herrn Dr. Jann um sein Referat bitten.

“Entscheidungsbegründung am Europäischen Gerichtshof”

11.27


Referent Dr. Peter Jann (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften): Herr Präsident des National­rates! Meine Damen und Herren! Ich habe im Gegensatz zu meinen Vorrednern kein fertiges Manuskript. Da ich in der Abfolge der Redner relativ spät drankomme, vermeide ich damit einer­seits Wiederholungen und kann andererseits – das zeigt schon die Rednerliste, die der Herr Präsident jetzt verlesen hat – vielleicht durch spontane Äußerungen und Reaktionen auf das, was vor mir gesagt wurde, zu einer lebhafteren Diskussion beitragen.

Zunächst einige Worte zur Rechtslage beim Europäischen Gerichtshof. Das Statut des Europäi­schen Gerichtshofes legt fest, daß die Beratungen geheim sind und bleiben sowie daß die Ur­teile die Namen jener Richter enthalten, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben. Schließlich bestimmt die Verfahrensordnung des Gerichtshofes, daß die Meinung, auf die sich die Mehrheit der Richter geeinigt hat, für die Entscheidung maßgebend ist. Insoweit ist die Rechtslage beim Europäischen Gerichtshof völlig identisch mit der beim österreichischen Verfassungsgerichtshof. Abweichende oder zustimmende Sondervoten sind also nicht vorgesehen. Auch wurde in der Vergangenheit weder von den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Vorschläge gemacht, diese Rechtslage zu ändern, noch hat der Gerichtshof selbst sich veranlaßt gesehen, Anregungen zu einer Modifizierung zu geben.

Im Rahmen der Vorarbeiten zur Regierungskonferenz zur Reform des Unionsvertrages hat der Gerichtshof im Jahr 1995 einen Bericht abgegeben, in dem er sich in umfassender Weise mit dem Funktionieren der europäischen Gerichtsbarkeit auseinandersetzt. Die Frage der eventuel­len Einführung von Minderheitsvoten wird vom Gerichtshof in diesem Bericht nicht angespro­chen. Ich darf hinzufügen, daß es praktisch die einhellige Meinung aller Mitglieder des Gerichts­hofes ist, daß kein Anlaß besteht, die derzeitige Regelung in Frage zu stellen. Dafür sind – und hier spreche ich nicht nur in eigenem Namen, sondern auch im Namen meiner Kollegen, weil wir anläßlich der Einladung zu dieser Enquete sehr wohl im Gremium unseres Gerichtshofes dar­über gesprochen haben – außer Aspekten internationaler Art, die für die Einführung eines Son­dervotums bei einem nationalen Verfassungsgericht keine solche Rolle spielen, auch Argu­mente maßgeblich, die auf nationaler Ebene laufen.

Ein sehr wichtiges Argument ist vor allem die relativ breite Akzeptanz, die die Rechtsprechung des Gerichtshofes und die von ihm formulierte Rechtsfortbildung innerhalb der gesamten Ge­meinschaft bei allen Rechtsunterworfenen haben muß. Als zweites scheint uns recht maßgeb­lich, daß damit wahrscheinlich – dieser Aspekt ist heute bisher nur kurz angeklungen – eine erhebliche Verfahrensverlängerung verbunden wäre.

Ich darf Ihnen berichten, daß mein englischer Richterkollege David Edward, der ja aus einem Land kommt, in dem die “dissenting opinion” eine große Tradition hat, in einer Arbeit dazu fol­gen­des festhält: Die Einführung der “dissenting opinion” würde seiner Meinung nach den kol­legialen Charakter des Gerichtshofes und seines Meinungsbildungsprozesses ernstlich gefähr­den, wenn nicht zerstören, der Gerichtshof würde früher oder später öffentlich in Fraktionen und “camps” – also in Teile – geteilt werden, die entweder als liberal, als konservativ, als Aktivisten oder Abstinenzler – im juristischen Sinne – bezeichnet werden würden, als diskussionsfreudige oder weniger diskussionsfreudige.

Meine Damen und Herren Abgeordneten! Das ist ein Phänomen, das in einem ähnlichen Be­reich auch im Parlament auftritt, wenn etwa die Medien darüber berichten und daran Maß neh­men, wie oft ein Abgeordneter innerhalb einer gewissen Periode das Wort ergriffen hat.

Ich komme nun zu einem anderen Punkt, der für uns Luxemburger Richter ganz wesentlich und eigentlich völlig identisch ist mit dem, was ich an 17jähriger Erfahrung aus dem österreichischen Verfassungsgerichtshof mitbringe. Auch in jenen Fällen, in denen der Gerichtshof geteilter Auf­fassung ist, ist die Minderheitsmeinung in keiner Weise isoliert, sondern von der Mehrheits­meinung in kollegialer Weise in den Prozeß der Urteilsvorbereitung einbezogen. Die Art und Weise, in der die Beratungen im Gerichtshof geführt werden, erlaubt es jenen Richtern, die eine von der Mehrheit divergierende Auffassung vertreten, diese in umfassender Weise in die Mei­nungsbildung des Spruchkörpers einzubringen und damit auch die von der Mehrheit ins Auge gefaßte Beschlußfassung zu begründen. Jedes Urteil des Gerichtshofes ist somit das Ergebnis gemeinsamer Rechtssuche und gemeinsamer Rechtsfindung.

In diesem Zusammenhang möchte ich etwas ergänzen, was Ihnen Herr Professor Grabenwarter über die Straßburger Praxis berichtet hat. Es betrifft Beobachtungen, die wir aufgrund vieler Ge­spräche mit Richtern des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes kennen und die auch wir, insbesondere ich, in Luxemburg gemacht haben. Mehrere Richter des Europäischen Menschen­rechtsgerichtshofes haben uns ihr Unbehagen darüber mitgeteilt, daß die Inflation an abwei­chenden Meinungen zu einem Beratungsstil führt, der im österreichischen Verfassungsgerichts­hof völlig unbekannt ist, daß nämlich die Mehrheit auf die Argumente der Minderheit kaum ein­geht, sondern ihnen sagt, sie sollten eben eine “dissenting opinion” schreiben. Die Minderheit ist eigentlich derselben Auffassung, sie versucht gar nicht, ihre Meinung zum Teil oder zur Gänze durchzusetzen, sondern begnügt sich damit, eine “dissenting opinion” abgegeben zu haben.

Ich will keineswegs behaupten, daß das dort immer und in allen Fällen so war, wiederhole aber, daß uns das mehrere Richter in internen Gesprächen berichtet und ihrer Unzufriedenheit über diesen Zustand Ausdruck verliehen haben, der naturgemäß auch zu einem geringeren kollegia­len und damit auch zu einem geringeren richterlichen Verständnis innerhalb des Kollegialor­ganes führt.

Die Auffassung des Europäischen Gerichtshofes darüber, wie wichtig das Vorhandensein einer “dissenting opinion” für die Akzeptanz der Rechtsprechung eines Gerichtshofes ist, steht im Ge­gensatz zu jener von Frau Präsidentin Limbach. Die Mitglieder unserer beiden Gerichtshöfe haben vor wenigen Monaten bei einem Arbeitsgespräch dieses Thema sehr intensiv debattiert. Meine Erfahrung geht dahin, daß gerade bei Gerichtshöfen, die, wie der Verfassungsgerichtshof oder der Europäische Gerichtshof, von ihrer Aufgabenstellung her damit konfrontiert sind, Ent­scheidungen zu treffen, die – ganz im Gegensatz zu einem Straf- oder Zivilgericht – oft eine sehr erhebliche politische Tragweite haben, die öffentliche Akzeptanz – keineswegs nur die durch die Rechtswissenschaft, sondern auch die durch die Politik, durch die Medien oder durch sonst ge­äußerte öffentliche Meinungen – ein ganz wesentliches Kriterium für die Akzeptanz und die Autorität des Gerichtshofes darstellt.

Ich möchte – um ein bißchen Salz in diese Debatte zu streuen, Frau Präsidentin Limbach – an­merken, daß ich, wenn die Medienmeldungen richtig sind, wonach nach dem Kruzifix-Urteil, das ja mit einem Stimmenverhältnis von 5:3 erfolgt ist, ein Mitglied der Bayerischen Staatsregierung von einer Zufallsmehrheit gesprochen haben soll – ich betone, ich weiß das nur aus den Medien –, Ihrer Auffassung, daß eine solche Art der öffentlichen Diskussion der Akzeptanz des Gerichtshofes nicht schadet, nur sehr schwer folgen kann. (Zwischenbemerkung der Präsi­dentin des Bundesverfassungsgerichtes Dr. Limbach.) – Ich kann das nur so wiedergeben.

Ich darf zu diesem Thema – öffentliche Akzeptanz und deren Wichtigkeit – darauf verweisen, daß in einer im Jahr 1995 in Italien erschienenen Arbeit des Richters Antonin Scalia beim Supre­me Court in Washington sehr interessante neue Töne zu vermerken sind. Er selbst ist durchaus für das Institut der “dissenting opinion”, verweist aber in dieser Arbeit darauf, daß in jüngerer Zeit amerikanische Richter davor warnen, daß ein “dissent” den Eindruck der mono­lithischen Soli­darität, von welcher die Autorität einer Richterbank so stark abhängt, zerstört. In derselben Arbeit verweist Scalia sehr objektiv darauf, daß das amerikanische System auch un­liebsame äußere Effekte aufweist, und nimmt auf einen Umstand Bezug, den wir im Prinzip alle kennen, daß nämlich bei umstrittenen Rechtsfragen, bei denen bekannt ist, daß eine Mehrheit von 5 : 4 im Supreme Court besteht, bei der Bestellung von Nachfolgern von ausscheidenden Richtern sowohl der Präsident der Vereinigten Staaten bei der Ernennung als auch der Senat bei der Bestätigung die Zustimmung zum neuen Richter sehr stark davon abhängig machen, wie er zu der umstrittenen Rechtsfrage steht.

Ich glaube, Herr Präsident, in meinen Ausführungen das Wesentliche gesagt zu haben, und möchte nur noch folgenden Punkt betonen, der heute noch nicht angeklungen ist und auf den ich wiederholt hingewiesen habe: Im Zuge dieser Diskussion, die an sich ja überhaupt nichts Neues ist – ich erinnere mich an den Österreichischen Juristentag 1991, wo das im Prinzip alles schon gesagt worden ist, Sie können alles gedruckt nachlesen –, wird auch behauptet, die Qua­lität von Entscheidungen werde durch ein System abweichender Meinungen verbessert, weil allein diese Rute der abweichenden Meinung im Fenster bereits genüge. Ich habe nicht den Ein­druck, daß die Qualität der Entscheidungen etwa der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in Österreich bisher darunter gelitten hat, daß dieses Rechtsinstitut dort unbekannt ist. (Vorsitzender Dr. Fischer: Vielleicht gibt es noch Steigerungsmöglichkeiten?) Steigerungsmög­lichkeiten, Herr Präsident, gibt es in allen Gremien immer, aber das wahre Problem für diese Richter – und auch in Luxemburg – und für die Qualität besteht darin, daß wir einen ständigen Kampf zwischen Qualität und Quantität führen. Das heißt, die Qualitätssteigerung – die sicher immer noch möglich ist, Herr Präsident – geht auf Kosten der Zeit für andere Fälle. Andere Rechtssuchende müssen warten. Das ist in Wahrheit das Problem, dieser ständige Ritt über den Bodensee: Wie einläßlich kann ich mich noch mit Rechtsfragen befassen, wenn soundso viele Hunderte – beim Verwaltungsgerichtshof Tausende – Fälle auf eine Erledigung warten?

Meine langjährige Erfahrung deutet jedenfalls nicht darauf hin, daß an Gerichten, an denen die “dissenting opinion” herrscht – ich will jetzt ganz vorsichtig gegenüber dem Europäischen Men­schenrechtsgerichtshof sein, was die Qualität mancher Entscheidungen betrifft –, diese dazu beiträgt, die Qualität zu heben.

Ich werde Ihnen nun eine rein statistische Zusammenfassung – Dr. Machacek hat das schon angeschnitten, aber, was die europäischen Staaten betrifft, nicht ganz vollständig wiedergege­ben – der diesbezüglichen Rechtslage innerhalb der Europäischen Union geben: Deutschland kennt die “dissenting opinion”, Portugal auch, Spanien auch – das hat Machacek auch gesagt –, Italien nicht, Luxemburg, das jetzt ein neues Verfassungsgericht eingerichtet hat, auch nicht, Frankreich nicht, Belgien nicht, Holland nicht, Griechenland – ich sage es ganz allgemein – mit gewissen Einschränkungen schon, Großbritannien auch, die skandinavischen Staaten – inklusi­ve Dänemark – auch und ebenso Irland. Bei jenen Staaten, die ein eigenes Verfassungsgericht haben, steht es im Rahmen der Europäischen Union 3:3. (Vorsitzender Dr. Fischer: Darf ich dieses Papier verteilen?) Ich kann das in dieser Form nicht verteilen. Das ist ein internes Papier mit zusätzlichen Bemerkungen der Abteilung Documentation/Recherche. (Abg. Dr. Kostelka: Über die “dissenting opinion”?) Nicht über die “dissenting opinion”, Herr Klubobmann (Abg. Dr. Ko­stelka: Mit der “dissenting opinion”!) – nein, nein! –, weil unsere Fachabteilungen sich schwer hüten, Meinungen zu äußern. Diese sind bei uns den Richtern vorbehalten. – Herr Präsident! Ich danke vielmals. (Allgemeiner Beifall.)

11.42


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Es stehen nun die Referate zweier österreichischer Wissenschafter auf dem Programm, deren Aufgabe es ist, über die Einführung der “dissenting opinion” am Verfassungsgerichtshof aus Sicht der österreichischen Verfassungslehre zu sprechen.

Herr Dr. Mayer erhält als erster Redner das Wort.

“Die Einführung der ,dissenting opionon‘ am Verfassungsgerichtshof aus Sicht der österreichischen Verfassungslehre”

11.43


Referent Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer (Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie so oft haben ähnliche Situationen unterschiedliche Ergebnisse. Wie in Deutschland hat man auch in Österreich in den sechziger Jahren über die Einführung der “dissenting opinion” zu diskutieren begonnen. Als erster hat meines Wissens Klecatsky, damals noch Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes, gefordert, die “dissenting opinion” auch beim Verwal­tungsgerichtshof einzuführen.

In den Jahren 1967 und 1968 haben Neisser, Schantl und Welan die Diskussion fortgeführt, haben ein Plädoyer für die Einführung der “dissenting opinion” abgegeben, und in den siebziger Jahren war es Karl Wenger, der in einer Studie über die Reform der österreichischen Verfas­sungsgerichtsbarkeit die Einführung der “dissenting opinion” befürwortet hat – zur gleichen Zeit also wie dies in Deutschland geschah.

In Deutschland ist die Diskussion mit den Namen Zweigert, Friesenhahn und Bachof verbunden. Der 47. Deutsche Juristentag – es wurde schon gesagt – hat die Grundlagen für gesetzgebe­rische Maßnahmen, in denen dieses Institut vorgesehen ist, geschaffen.

Meine Damen und Herren! Es ist mir wichtig, klarzustellen, was ich unter einer “dissenting opinion” verstehe. Ich verstehe darunter das Recht eines Verfassungsrichters, der der Mehr­heitsmeinung nicht zu folgen vermag, seine abweichende Meinung der Mehrheitsmeinung anzu­schließen. Ich verstehe darunter nicht eine Pflicht zur Offenlegung des Stimmverhaltens, ich ver­stehe darunter auch nicht eine Verpflichtung eines Verfassungsrichters, in jedem Fall, in dem er der Mehrheitsmeinung nicht folgt, das auch tatsächlich zum Ausdruck zu bringen.

Mein Thema ist die Einführung der “dissenting opinion” beim Verfassungsgerichtshof, ich möchte aber nicht verhehlen, daß ich es auch für diskussionswürdig erachte, diese Frage für den Ver­waltungsgerichtshof und für den Obersten Gerichtshof zu stellen. Ich bleibe aber beim Thema und möchte Ihnen kurz die Pro- und Kontra-Argumente, soweit ich sie aus der Literatur ent­nehmen kann und soweit sie mir wichtig erscheinen, darstellen und auch meine Meinung dazu sagen.

Erstens wird ins Treffen geführt – und das ist ein Punkt, dem ich voll zustimme –, daß demokra­tietheoretische Erwägungen für die Einführung der “dissenting opinion” sprechen. Der Verfas­sungsgerichtshof hat in den letzten Jahren – das wird in der Literatur ausreichend dargestellt – seine frühere Zurückhaltung aufgegeben, er hat die Spielräume, die ihm die Verfassung ge­währt, ausgelotet und ist, wie manche meinen, bis an die Grenzen oder hart darüber hinaus gegangen. Er hat also insgesamt mit seiner Judikatur maßgebliche politische Entscheidungen getroffen. Wer aber in einer Demokratie weitreichende politische Gestaltungsbefugnisse in An­spruch nimmt, muß sich zur Offenheit bekennen. Eine Demokratie ist auf Offenheit angelegt. Stillschweigen, Verdecken, Zumachen, Schweigsamkeit und Heimlichkeit sind eher Elemente autoritärer Staatsformen.

Zweitens: Der “dissenter” beziehungsweise der mögliche “dissenter” kann – es wurde schon an­gedeutet – die Qualität von Entscheidungen heben. Für juristische Diskussionen sollte man meiner Ansicht nach dieses Argument nicht geringschätzen. Im Falle, daß ein richterliches Gremium mit qualitätvollen Meinungen konfrontiert ist, wird es, auch mit Mehrheit, wahrschein­lich nicht so ohne weiteres über diese wichtigen Meinungen hinweggehen, wenn es damit rech­nen muß, daß der, der in der Minderheit bleibt und dessen wichtige Meinungen überstimmt werden, diese Argumente in einem Separatvotum der Öffentlichkeit bekanntmachen kann.

Drittens: Als Proargument wäre die Vorhersehbarkeit eines Judikaturwandels anzuführen. Dies wurde schon von Frau Präsidentin Limbach angesprochen, ich habe dazu nichts mehr zu sagen.

Viertens – ein weiteres Proargument –: Spekulationen über Abstimmungsverhalten, wie sie im­mer wieder vorkommen, könnten – zumindest in manchen Fällen – vermieden werden. Die inter­es­sierte Öffentlichkeit glaubt heute nicht mehr daran, daß in politisch wichtigen und beachtens­werten Entscheidungen beim Verfassungsgerichtshof Stimmeneinhelligkeit geherrscht hat. Es kommt zu Spekulationen, und wir konnten in den letzten Monaten einige davon auch in den Zeitungen nachlesen, etwa die Behauptung, es gäbe politische Fraktionierungen und ähnliches mehr. Die “dissenting opinion” wäre eine Möglichkeit zu zeigen, daß dem nicht so ist, daß es andere Unterschiede und andere Grenzen gibt, an denen die Meinungen der Richter aneinan­derstoßen.

Ich komme zu den Kontra-Argumenten:

Zunächst ein eher pragmatisches – es wurde schon angesprochen –: Die Entscheidungsdauer würde verlängert, das Ausarbeiten der “dissenting opinion” kostet Zeit. – Das ist sicher richtig und auch ernst zu nehmen. Dennoch meine ich, daß – erstens – ein Richter selten gegen alles ist, was die Mehrheit beschließt, oft wird er nur in einzelnen Punkten abweichender Meinung sein, und – zweitens – ein Richter, der eine abweichende Meinung vertritt, weiß, warum er sie vertritt, und daher in der Lage sein müßte, diese abweichende Meinung samt kurzer Begrün­dung mit einem geringen Aufwand darzustellen. Das Argument der Mehrbelastung, der Verlän­gerung der Entscheidungsdauer ist meiner Überzeugung nach also nicht wirklich durch­schla­gend. Es muß nicht jeder Richter immer, wenn er anderer Meinung ist, ein Separatvotum abge­ben, aber er soll die Möglichkeit haben, dies dort, wo er es für besonders wichtig hält, zu tun.

Ich komme zu einem weiteren von manchen vertretenen Kontra-Argument: Der Schein der Ein­stimmigkeit verleiht Autorität. Die scheinbare Geschlossenheit des Gerichtshofes, sein Spre­chen mit einer Zunge, verleihe also Autorität. – Ich möchte dazu sagen, daß die Autorität, die dadurch verliehen wird, freilich genauso scheinbar ist wie die Einstimmigkeit, die, wie wir wissen oder zumindest die juristische Öffentlichkeit weiß, in politisch wichtigen Fragen nicht ohne weite­res angenommen werden kann.

Meine Damen und Herren! Wer ist denn der Adressat der Entscheidungen des Verfassungsge­richtshofes? Wer wäre denn der Adressat von Separatvoten? – Es ist die juristisch interessierte Öffentlichkeit. Und diese glaubt meiner Meinung nach heute nicht mehr ernsthaft daran, daß der Verfassungsgerichtshof quasi als übermenschliches Organ entscheidet, sondern sie weiß sehr genau, daß dort Menschen sitzen, die aus verschiedenen Berufsgruppen kommen, die verschie­dene Auffassungen, verschiedene Weltanschauungen vertreten. Die juristisch interessierte Öffentlichkeit kann sehr genau beurteilen und es auch ertragen, daß dort Menschen über Men­schen entscheiden. Daher glaube ich, daß es heute nicht mehr so ist, daß wir die Vorstellung, es entscheiden entpersonalisierte Staatsorgane, brauchen, weil wir die Vorstellung nicht ertragen können, daß Menschen über Menschen entscheiden. Die Zeit hat eine vielleicht irgendwann ein­mal berechtigte Überlegung zunichte gemacht.

Ein weiteres Kontra-Argument lautet: Es könnte sich der Gerichtshof in der Öffentlichkeit in ein schlechtes Licht setzen, wenn nach außen dringt, daß es dort abweichende Meinungen gibt und diese abweichenden Meinungen vielleicht auch noch mit einer entsprechenden Härte und Pole­mik in Separatvoten niedergelegt werden. – Nun kann man einem Höchstgericht wie insbeson­dere auch dem Verfassungsgerichtshof meiner Ansicht nach durchaus zutrauen, daß er sach­liche Auseinandersetzungen in einer Art und Weise führt, die auch die Öffentlichkeit erfahren kann. Daher halte ich den möglichen Mißbrauch dieses Instrumentes durch einzelne Mitglieder des Gerichtshofes für eine wirklich zu vernachlässigende Größe, ganz abgesehen davon, daß der Mißbrauch oder die Möglichkeit des Mißbrauchs einer Einrichtung nie dagegen spricht, daß diese Einrichtung vielleicht doch sinnvoll ist. Man kann alles mißbrauchen.

Ich komme zum vierten und letzten Kontra-Argument: Man konnte vor wenigen Tagen in der Zeitung lesen, daß die Möglichkeit des Separatvotums von gewissen politischen Kreisen ins Spiel gebracht werde, um den Verfassungsgerichtshof an die Kandare zu nehmen. – Ich darf daran erinnern, daß Kandare “Zaumzeug” heißt. Der Autor meint also, daß die Möglichkeit eines Richters beim Verfassungsgerichtshof, seine abweichende Meinung einem Urteil beizufügen, wie ein Zaumzeug wirkt, das ihn quasi zum von “gewissen” politischen Kräften ferngesteuerten Richter macht.

Ich will nicht behaupten, daß es diese Möglichkeit nicht gibt, daß es nicht den Versuch poli­tischer Instanzen geben könnte, das Separatvotum dazu zu benützen, in die Judikatur einzugrei­fen. Man muß sich aber natürlich fragen: Welcher Richter läßt sich denn auf diese Art und Weise ins Zaumzeug legen? – Bedenken wir doch einmal, welche Stellung ein Verfassungsrich­ter hat: Er ist ernannt, er ist unversetzbar, er ist unabsetzbar, er tritt ex lege in den Ruhestand in dem Jahr, in dem er das 70. Lebensjahr erreicht. Seine Bezüge sind gesetzlich festgelegt. Er ist am Ende seiner Karriere, er hat nichts mehr vor sich – oder nichts mehr, wovor er sich be­sonders fürchten müßte und weswegen er unter Druck gesetzt werden könnte. Er kann auch nicht wiederbestellt werden, er tritt in den Ruhestand. Was also kann ein Verfassungsrichter mit diesen Garantien, die sonst kein Mensch in dieser Republik hat, wirklich verlieren? Welchen Schutz braucht ein Verfassungsrichter noch vor der Möglichkeit – und ich möchte das ganz besonders betonen: vor der Möglichkeit! –, seine abweichende Meinung abzugeben? Ich kann das, muß ich sagen, nicht erkennen.

Das einzige, was er verlieren kann, ist vielleicht eine Beliebtheit bei bestimmten Gruppen. Ich halte das aber für zumutbar. Denn das muten wir auch jedem Bezirksrichter, jedem Einzelrichter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu. Wir wissen, daß ein Bezirksrichter unter Umständen in die Situation kommen kann, den Betrieb der VOEST zu untersagen – dazu gibt es eine Ent­scheidung des Obersten Gerichtshofes. Wir wissen, daß ein Einzelrichter in die Situation kommen kann, hohe politische Funktionäre zu verurteilen. Wir wissen, daß es viele andere Fälle gibt, in denen ein Einzelrichter politisch entscheidet oder Entscheidungen treffen muß, die hohe politische Wellen schlagen. Wir muten das einem Bezirksrichter und jedem Einzelrichter ohne weiteres zu. Wenn wir das also jemandem, der am Beginn oder eher am Beginn seiner Karriere steht, zumuten können, dann müßte das auch für einen Verfassungsrichter gelten.

Ich möchte noch einmal betonen, daß es nicht um die Verpflichtung geht, seinen Namen unter ein Separatvotum zu schreiben. Es geht nicht um die Verpflichtung, daß er sich dazu bekennt, eine abweichende Meinung zu haben, sondern um sein Recht, eine abweichende Meinung zu treffen und das auch nach außen zu diskutieren.

Meine Damen und Herren! Ich habe versucht, Ihnen einige Pro- und Kontra-Argumente, wie ich sie der Literatur entnommen habe, darzulegen und Ihnen meine Bewertung dieser Argumente mitzuteilen. Ich darf zusammenfassen – und es wird Sie nicht überraschen –: Ich halte die Ein­führung der “dissenting opinion” für ein Gebot der Stunde. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (All­gemeiner Beifall.)

11.56


Vorsitzender Präsident Dr. Heinz Fischer: Zum gleichen Thema spricht nun Herr Universitäts­professor Dr. Schäffer. – Bitte, Herr Professor.

11.56


Referent Univ.-Prof. Dr. Heinz Schäffer (Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Salz­burg): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Parlament hat uns, Herrn Kollegen Mayer und mich, gebeten, ein Referat über die Einführung der “dissenting opinion” am Verfassungs­gerichts­hof aus der Sicht der österreichischen Verfassungsrechtslehre zu halten. Um wenig­stens ein Er­gebnis vorwegzunehmen stelle ich fest: In der Frage des Minderheitsvotums gibt es keine ein­hellige Position der österreichischen Verfassungsrechtslehre.

Bevor ich Ihnen aber das breite Spektrum der Meinungen und Argumente kurz skizziere, möchte ich vorweg auf die Frage eingehen, ob dem formellen Verfassungsrecht selbst irgendwelche Antworten abgewonnen werden können. Zu denken wäre hier zunächst an das Öffentlichkeits­prinzip und an die Unabhängigkeitsgarantie der Richter.

Das Öffentlichkeitsprinzip, Artikel 90 der Bundesverfassung, bezieht sich ausdrücklich nur auf die Verhandlungen. Im Artikel 90 ist von den Zivil- und Strafrechtssachen vor dem erkennenden Gericht die Rede, es gilt natürlich auch vor dem Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof. Der Sinn dieser Vorschrift liegt in der Kontrolle des Verfahrens der Gerichtsbarkeit durch die soge­nannte Volksöffentlichkeit, und dem liegt, wie man leicht erkennen kann, sowohl ein liberaler wie auch ein demokratischer Gedanke zugrunde. Dieser Öffentlichkeitsaspekt ist aber von der Ver­fassung ausdrücklich auf die Verhandlung bezogen und nicht auf die Beratung und Urteils­fällung. Es besteht daher zumindest kein verfassungsrechtlicher Zwang zur Einrichtung einer Öffentlichkeit der Urteilsberatung.

Als noch wesentlicher und als zentral für die Funktion gerichtlicher Organe kann man natürlich die richterliche Unabhängigkeit anführen. Ihr spezifischer juristischer Gehalt ist die Freiheit von Weisungen. Manche zählen dazu auch die Verantwortungsfreiheit, wonach ein Richter wegen des Inhalts seiner Entscheidung nicht disziplinär zur Verantwortung gezogen werden darf, was freilich nur eine Konsequenz dieses Prinzips ist und eine entsprechende Ausgestaltung in den Amtspflichten und im Disziplinarrecht zur Folge hat.

Aus diesem staatsorganisatorischen Verständnis der Unabhängigkeit können keine unmittelba­ren Schlußfolgerungen für die Frage des Minderheitsvotums abgeleitet werden. Aber immerhin könnte auch bei rechtspolitischen Erwägungen die Überlegung eine Rolle spielen, daß die ein­fache Rechtslage nicht in einem Sinne weiterentwickelt werden soll, die, wenn auch nur im ent­ferntesten, die gesellschaftliche oder politische Pression gegen einen Richter ermöglichen würde.

Im Rahmen des von der Verfassung für die Organisation und die grundlegenden Prinzipien der Gerichtsorgane Festgelegten ist die nähere Ausgestaltung dem einfachen Gesetzgeber und den Geschäftsordnungen dieser Höchstgerichte überlassen. Die Regelungstradition der Höchstge­richte in Österreich weist eine bis in viele Details übereinstimmende Struktur auf. Höchstgerichte sind immer Kollegien, und es wird keineswegs die Möglichkeit verschiedener rechtlicher Meinun­gen in diesen Kollegien verkannt. Es wird aber das erkennende Gericht als ein einheitlicher Spruchkörper gesehen, und es sind Regeln der Willensbildung aufgestellt, die es dem einzelnen Mitglied sehr wohl erlauben, seine Rechtsmeinung zu artikulieren und dadurch die Bildung des Gesamtwillens im Kollegium entsprechend zu beeinflussen. Zugleich wird deutlich, daß es sich bei den Rechtsfragen vielfach um subtile Erkenntnisfragen und Ableitungszusammenhänge handelt, die nicht wie politische Entscheidungen auf letzten Endes volitiv zu entscheidende Ein­zelfragen, Ja-Nein-Entscheidungen zulaufen.

Es verdient daher, kurz dargelegt zu werden, wie die Willensbildung und Entscheidungsbegrün­dung in den als Kollegien verfaßten Spruchkörpern der Höchstgerichte erfolgt. Für den Verfas­sungs- und Verwaltungsgerichtshof ist ausdrücklich festgelegt, daß die Beratung und Abstim­mung nicht öffentlich ist – § 30 Verfassungsgerichtshofgesetz, § 15 Verwaltungsgerichtshofge­setz. Die Reihenfolge, in der über gestellte Anträge abgestimmt wird, legt normalerweise der Vorsitzende fest, doch kann darüber auch ein Beschluß des Gerichtshofs eingeholt werden, das heißt, wenn eine Gegenmeinung besteht, ist darüber zu diskutieren und zu beschließen.

Wesentlich ist für alle Höchstgerichte, daß die Beschlüsse mit unbedingter oder – wie wir auch zu sagen pflegen – absoluter Stimmenmehrheit gefaßt werden. Ergeben sich dabei Schwierig­keiten, dann ist die Umfrage zu wiederholen beziehungsweise hat der Vorsitzende das Pro­blem in einzelne, für die Entscheidung erhebliche Punkte aufzulösen und durch Einleitung be­sonderer Abstimmungen über die Teilfragen in geeigneter Weise die Vereinigung der Stimmen nach Mög­lichkeit zu einem Mehrheitsbeschluß herbeizuführen. Diese Regel gilt – abgesehen von sprach­lichen Variationen – übereinstimmend sowohl in der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch bei beiden Gerichtshöfen öffentlichen Rechts.

Ebenfalls übereinstimmend ist in allen Gerichtszweigen angeordnet, daß kein Richter die Ab­stimmung über eine zur Beschlußfassung gestellte Frage verweigern darf. Das gilt namentlich auch dann, wenn er bei der Abstimmung über eine Vorfrage in der Minderheit geblieben ist. Ich halte das für ganz entscheidend für die richtige rechtliche Einordnung unseres heute anstehen­den und diskutierten rechtspolitischen Problems. Diese für die Rechtsfindung in schwierigen Rechtsfragen ganz hervorragend geeignete Regel zeigt übrigens, daß es mit einer – meist am Ergebnis orientierten – “dissenting opinion” nicht ohne weiteres in allen Fällen getan wäre.

Die Geschäftsordnungen der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kennen weiters Regeln, die einem Festhalten der verschiedenen Meinungen im internen Bereich durchaus klar Rechnung tragen. Ich möchte jetzt nur auf den Verfassungsgerichtshof eingehen, dort ist ausdrücklich an­geordnet, daß der Schriftführer das Abstimmungsergebnis in einem besonderen Beratungspro­tokoll verzeichnen muß. Dieses Protokoll hat neben der Anführung der Anwesenden alle gestell­ten Anträge mit wesentlicher Begründung sowie die Darstellung des Vorgangs der Beratung zu enthalten, und der Stimmführer hat namentlich diejenigen anzuführen, die für und gegen den Antrag gestimmt haben. Darüber hinaus kann jeder Stimmführer dem Protokoll eine ausführ­liche schriftliche Darstellung der Gründe seines Antrags anschließen.

Wer also nicht nur den Begründungsweg, sondern auch das Ergebnis wesentlich beeinflussen möchte, der muß entweder ein Referat erstatten oder zum Referat des Referenten ein Gegen­referat vorbereiten und erstatten. Freilich ist dann aufgrund der Abstimmungsregeln zu erwarten, daß die Formulierung zumindest so gewählt wird, daß sie mehrheitsfähig ist, daß also eine Chance auf Mehrheitsbildung zugunsten des Antrages gegeben ist.

Man kann das alles durchaus so sehen, daß die Gesetzgebung dem einzelnen Stimmführer völlige individuelle Freiheit im Kollegium gibt und andererseits durch die Anonymität überdies seine unabhängige Amtsausübung fördert. Nach außen freilich soll – das ist, wenn Sie so wollen, die traditionelle Position, die in unserer Gerichtsbarkeit verankert ist – um der Autorität des Rechts willen mit einer Stimme gesprochen werden.

Ich komme zum rechtspolitischen Aspekt. Ob es in Hinkunft eine “dissenting opinion” geben soll, ist primär eine rechtspolitische Frage, für deren Beantwortung die bestehenden Regeln weiter auf die hinter ihnen liegenden Wertvorstellungen und Zweckmäßigkeiten hinterfragt werden müssen. Die Frage nach dem Rechtsinstitut der “dissenting opinion” spielte bis in die sechziger Jahre in Österreich eigentlich keine Rolle. Es ist schon skizziert worden – zum Teil von Herrn Kollegen Mayer –, daß eine Erörterung dieses Problems mit Rezensionen über dieses Rechtsinstitut im Ausland begonnen hat.

Matscher hat sich in den Jahren 1965 und 1966 aus Anlaß einer solchen Rezension deutlich gegen, Klecatsky in einer Rezension von 1967 klar für die “dissenting opinion” ausgesprochen. Diese Polarität der Meinungen zeigt sich schon im Jahr 1968 sehr deutlich in den ganz unter­schiedlichen Positionen von Hans Spanner einerseits und Neisser/Schantl/Welan andererseits, die bereits damals die auch heute noch maßgeblichen, wesentlichen Gesichtspunkte genannt haben. (Präsident Dr. Neisser übernimmt den Vorsitz.)

Hans Spanner hat sich, motiviert durch die deutsche Diskussion, dazu geäußert und seine Be­denken in drei – eigentlich in ganz unterschiedliche Richtungen weisenden – Argumenten zu­sammengefaßt. Er meinte, Aufgabe der Gerichte sei es, konkrete Streitfälle zu entscheiden, nicht aber, Beiträge zur wissenschaftlichen Diskussion zu leisten oder sich in einen wissen­schaftlichen Meinungsstreit einzulassen. Das ist zwar im Grunde richtig, aber daß man sich mit der wissenschaftlichen Position und Lehrmeinung auseinandersetzen muß, ist heute in der höchstgerichtlichen Judikatur auch kein Kritikpunkt mehr. Das zweite Argument von Spanner lautet, daß die Veröffentlichung von “dissenting opinions” zu einer unterschiedlichen Bewertung der Ent­scheidungen führe, worunter die Autorität des Gerichtes leide – ein zentraler Punkt, der immer wieder auftaucht. Und drittens gehe die Abfassung und Veröffentlichung abweichender Meinun­gen auf Kosten der Raschheit der Rechtspflege.

Die Gegenposition haben – von einem ganz anderen Blickwinkel her – noch im selben Jahr Neisser/Schantl/Welan bezogen. Gerade der Umstand, daß aus den Erkenntnissen des Verfas­sungsgerichtshofes das Stimmverhalten seiner Mitglieder nicht erkennbar sei, führe dazu, im Wege von Mutmaßungen – sei es über persönliche Verhältnisse der Richter oder Naheverhält­nisse zu politischen Parteien oder auch zu dem Verfassungsorgan, das seinerzeit den Vorschlag für die Richterernennung vorgenommen habe – die Einhelligkeit oder, wie man meinte, die Fiktion der Einhelligkeit, der heute eigentlich niemand mehr anhängt, aufzulösen.

Diese Autoren meinten: Wenn die Öffentlichkeit die Möglichkeit hätte, zu sehen, daß es inner­halb des Verfassungsgerichtshofes in den einzelnen Fragen keine festen Fraktionen gebe, son­dern daß die Entscheidungen mit wechselnden Mehrheiten und gar nicht selten auch einstimmig gefällt werden, wäre damit ein wichtiger Aufklärungseffekt verbunden. Ins Treffen führten sie auch einen sogenannten Befriedungseffekt, sowohl für die Richter selbst, die ihre abweichende Stimmabgabe begründen müssen, als auch für die Streitparteien. Denn der Sieger im Meinungs­streit erkenne bei der Abgabe eines “dissents”, daß seine Position nicht ganz unproblematisch sei, der Verlierer des Rechtsstreits sehe, daß es zumindest jemanden gegeben habe, der auch seine Position geteilt habe – ein sogenannter Underdog-Effekt, wie man das gerne aus dem Amerikanischen übernommen nennt. Außerdem habe – drittes Argument – die Einrichtung der “dissenting opinion” die Wirkung, das Gewissen des Richters zu befreien, der sich gegen die Mehrheitsmeinung gestellt hat, sodaß sich eine Art Ventilfunktion oder Befreiungseffekt ergibt.

Die Diskussion über diese Frage ist erst am Beginn der neunziger Jahre wieder aufgeflammt. Es war Kollege Mayer – der gerade zuvor gesprochen hat – selbst, der sich am 11. Österreichi­schen Juristentag schon sehr deutlich für die Einführung der “dissenting opinion” ausgesprochen hat. Er hat das damals im wesentlichen damit begründet – ich darf Sie jetzt zitieren, Herr Kollege –, daß sich die rechtliche Qualität der Entscheidungen verbessern und daß die offene Darlegung der Mehrheitsverhältnisse die Judikatur berechenbarer machen würde. Darüber hin­aus meinte er schon damals – ähnlich wie heute formuliert –, daß dort, wo das Gesetz dem Richter Spielräume gewähre – also vor allem in Verfassungsfragen –, die Offenlegung von Wer­tungen von geradezu staatstheoretischer Notwendigkeit und Wichtigkeit sei. In einem demokra­tischen System sei die offene Willensbildung der Entscheidungsträger von fundamentaler Bedeutung, denn nur auf diese Weise sei – wörtliches Zitat – verantwortliches, und das heiße zuallererst auch kontrollierbares Handeln zu erreichen.

Gerade das zuletzt genannte Argument – das möchte ich nicht verhehlen – vermag mich nicht völlig zu überzeugen. Denn zum einen muß man fragen, worin die weitere Kontrolle eines letzt­entscheidenden Organs liegen soll, und zum anderen ist dem Demokratieprinzip im wesentli­chen – das ist der Kern des Demokratieprinzips – die Mehrheitsentscheidung immanent. Und das ist die Willensbildung in all den kollegial verfaßten Gerichtshöfen! Ist die Entscheidung frei­lich einmal gefallen, dann ist sie als verbindliche Gerichtsentscheidung auch zu akzeptieren.

Kurz zum bisherigen Ende der Entwicklung: Die öffentliche Diskussion war im Jahr 1991 offen­bar auch dadurch losgetreten worden, daß die politische Kritik an bestimmten Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes in den Medien Publizität erhielt. Ludwig Adamovich, der Präsident des Gerichtshofes, meinte damals, er würde die “dissenting opinion” als Verfassungsrechtler be­grüßen, als Präsident des Gerichtshofes allerdings ablehnen.

Ein Entwurf des Bundeskanzleramtes aus der ersten Hälfte des Jahres 1992 – der Herr Präsi­dent hat das einleitend erwähnt – war unter anderem ebenfalls auf die Einrichtung des Sonder­votums in der Verfassungsgerichtsbarkeit gerichtet. Ich möchte nicht verhehlen, daß der Trans­parenzgedanke damals auch mich sehr fasziniert hat und ich in einer Stellungnahme den Entwurf teilweise begrüßt habe. Ich habe allerdings in meiner Stellungnahme, die dem National­rat zugegangen ist, auch vorgeschlagen, den Entwurf dahin gehend zu verändern, daß es meiner Meinung nach für das rechtssuchende Publikum wesentlich wichtiger und interessanter sein könnte, in der Kundmachung der Erkenntnisse die Stimmverhältnisse bekanntzugeben – nicht so sehr den Begründungsweg, der mehrheitlich gefunden werden muß, sondern die Stimmverhältnisse. Dadurch wäre das, woran den Transparenz-Freunden liegt, gewährleistet: daß eine sich anbahnende Trendwende in der Rechtsprechung oder eine nicht einhellige Auffas­sung sichtbar würde.

Ich möchte jetzt nur noch eine weitere Äußerung aus der Literatur zitieren. Rudolf Machacek, den wir heute bereits als Referenten gehört haben, hat in seinem schon erwähnten Beitrag zur Adamovich-Festschrift über Pro und Kontra geschrieben und zugegeben, daß die Verfahrensre­geln des VfGH durchaus ausreichende Vorsorge dafür treffen, daß eine Meinungsvielfalt zum Tragen kommt. Er hält bestimmte, immer wieder vorgebrachte Argumente, wie etwa die Frage der För­derung der Rechtsentwicklung, die Frage der Autoritätssteigerung oder Autoritäts­minde­rung – Gesichtspunkte, die, wenn das Gericht gar keine Autorität hätte, eigentlich keine Rolle spielen könnten – und die Gewissensgründe für den Richter nicht so sehr für entscheidend, sondern vielmehr hält er für entscheidend, daß ein “dissenter” die Mehrheit des Gerichtshofes zu schär­ferem Durchdenken veranlaßt oder zwingt und daß die Fairneß des Verfahrens im Sin­ne der MRK die Einführung der “dissenting opinion” nahelege.

Beide Argumente vermögen mich nicht völlig zu überzeugen. Der Zwang zum schärferen Durch­denken der Argumente ergibt sich wohl schon aus den bestehenden Beratungs- und Begrün­dungsregeln des Verfassungsgerichtshofgesetzes. Was die Anforderungen des Artikels 6 MRK anlangt, so fordert dieser für den Rechtsschutz fundamentale Artikel der MRK gewiß eine faire, unparteiische Verfahrensgestaltung, eine unabhängige Gerichtsorganisation und das rechtliche Gehör der Parteien, aber er zwingt nicht zu bestimmten Formen der Urteilsbegründung und da­mit zur Aufgabe nationaler Rechtskultur.

Ich komme jetzt zu meiner eigenen Stellungnahme. Die Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit bestimmten einzelnen Entscheidungen – das möchte ich voranstellen – sollte keinesfalls Anlaß dazu geben, eine bewährte Entscheidungskultur dem Charme des Neuen oder dem Reiz des vom Ausland Abgeschauten zu opfern. Bedenkt man die über Jahrzehnte erprobte Tauglichkeit der Beratungs- und Beschlußfassungsregeln, die ich Ihnen näherzubringen versucht habe, dann bleibt von allen Pro-Argumenten eigentlich nur das Argument der Transparenz übrig. Da ist meiner Ansicht nach weiter zu hinterfragen, welche Funktion die Transparenz haben kann und soll und ob die Transparenz in gerichtlichen Beratungsvorgängen dieselbe Funktion und Wir­kung haben soll wie in parlamentarischen Beratungen oder in internationalen Streitschlichtungs- und Streit­entscheidungsverfahren.

Transparenz als demokratiepolitisches Postulat ist eine völlig zutreffende Forderung für die po­litische Willensbil­dung. Das Parlament ist die Tribüne – und ursprünglich sogar die einzige und ausschließliche Stätte – des Meinungskampfes; allerdings ist es heute wohl nur noch die Dar­stellungsbühne der abschließenden Meinungs- und Willensbildung über Gesetzesinhalte. Dabei geht es auch um die Darstellung der Loyalitäten zur eigenen Wählergruppe, deren Programm und politische Ideenwelt der Abgeordnete verkörpert.

Fragt man sich, wo es im politischen Prozeß Minderheitsvoten gibt, so stößt man selbstver­ständlich gleich auf die Nationalratsausschüsse gemäß der Geschäftsordnung. Etwas ähnliches findet man – durchaus parlamentsähnlich, könnte man sagen – auch in den Gepflogenheiten großer Kollegialorgane akademischer Institutionen – denken wir etwa daran, daß in Fakultäts­kollegien großer Fakultäten auf Wunsch die abweichende Meinung protokolliert wird, insbeson­dere wenn es sich um fakultätspolitische Entscheidungen handelt. Die Geschäftsordnungen im Rahmen der neuen Autonomieregelungen sehen das auch ausdrücklich vor.

Aber anders als die politischen Entscheidungen, die immer wieder neu aufgerollt werden können, haben Gerichtsurteile einen Rechtsstreit verbindlich zu entscheiden. Das Urteil soll und will den Sinn des Gesetzes – beim Verfassungsgerichtshof insbesondere den Sinn des Verfas­sungsgesetzes – nachvollziehen. Es soll den Rechtsstreit entscheiden und somit die Frage end­gültig außer Streit stellen. Das Verfassungsgericht und seine Mitglieder sind dem Recht und nicht einer Wählergruppe oder einzelnen Organwaltern, die ursprünglich an der Bestellung betei­ligt waren, verpflichtet. Der Zwang zum Sichtbarmachen der im Kollegium bezogenen Rechts­auffassung könnte auch als ein neuer gesellschaftlicher und insofern durchaus mit der Verfas­sung – jedenfalls mit ihren Intentionen – nicht übereinstimmender Zwang gesehen werden und damit gegen die Unbefangenheit und Unbeeinflußbarkeit der einzelnen Verfassungsrichter ge­richtet sein.

Dies betrifft vielleicht nicht so sehr die aktuellen Organwalter. In Deutschland hat man darüber gesprochen, daß damit die Zusammensetzung der Senate berechenbarer werde und daß das zum Anlaß ge­nommen werden könne, die Zusammensetzung der Senate für die Zukunft noch schärfer vorauszukalkulieren – ein Umstand, der in Österreich wohl nur insofern nicht zutrifft, als wir nicht die Zwei-Senate-Lösung haben; zum Glück, möchte ich sagen. Auch Ringhofer hat das seiner­zeit so gesehen und sich in der Frage der Entlastung des Gerichtshofes deutlich gegen dessen Teilung in zwei Senate ausgesprochen.

Aber es können durchaus politische Erwartungshaltungen ausgelöst werden. Es kommt auch hinzu, worauf Spanner schon vor vielen Jahren hingewiesen hat: Der dissentierende Richter ent­zieht nicht nur sich der Anonymität, er entzieht auch die Kollegen des Gerichtshofes, die für die Entscheidung gestimmt haben, insofern mittelbar der Anonymität.

Ein weiterer Gesichtspunkt: Zur Demokratie innerhalb des Kollegialorgans gehört, daß die Mehr­heitsentscheidung akzeptiert wird, und zum Rechtsstaat gehört, daß die Richtersprüche zwar fachlich kritisiert werden können, nicht aber ihre Autorität in Frage gestellt werden darf. Genau darin liegt das Problem, da Urteile, die in Wertungsfragen sehr unterschiedliche Positionen be­ziehen, den notwendigen formalen Grundkonsens jedenfalls nicht stärken, sondern eher min­dern können, sodaß insgesamt die Akzeptanz der Rechtsordnung leiden und einer weiteren Politisierung des Rechtslebens Vorschub geleistet würde.

Ein Seitenblick auf die internationale Gerichtsbarkeit, die vorhin vorzüglich analysiert worden ist, zeigt – das möchte ich nur einflechten, weil es uns den Kontrast bietet –, daß dort die “dis­senting opinion” eine ganz andere Funktion hat. Zum einen haben die Urteile in der inter­na­tionalen Ge­richtsbarkeit nicht nur Streitentscheidungs-, sondern zu einem gewissen Maß auch Streitschlich­tungsfunktion. Gleichzeitig bringen Urteile, die unterschiedliche Rechtspo­si­tionen sichtbar machen, auch unterschiedliche rechtskulturelle Vorstellungen zum Ausdruck. Minder­heitsvoten zeigen dann folglich auch an, wie weit Konsens oder Dissens über den Rechts­bestand und nicht nur über eine Rechtsmeinung innerhalb des internationalen Rechts besteht. Das ist auf der Ebene des internationalen Rechts offenbar immer noch eine Voraus­setzung für die Akzeptanz der Richtersprüche. Sie sollte es aber bei dem im innerstaatlichen Bereich erreichten Grad von innerer Integration und Werteübereinstimmung eigentlich nicht sein.

Lassen Sie mich meine Position in drei Thesen zusammenfassen. Das Minderheitsvotum ist nicht schlechthin abzulehnen, es gibt, wie gesagt, Pro und Kontra. Die Verfahrensregeln des Verfassungsgerichtshofes, die ich Ihnen skizziert habe, treffen aber hinreichend Vorsorge dafür, daß die Meinungsvielfalt zum Tragen kommt und in der Entscheidungsfindung ihren Platz hat. Das Argument des schärferen Durchdenkens trifft meines Erachtens nicht zu, denn ein gutes und treffendes Argument zwingt auch im System der nicht öffentlichen Beratung zum Überden­ken und Verbessern einer Position.

Ich möchte hinzufügen, daß mit der Einführung des Minderheitsvotums – so es kommen sollte – das Abendland gewiß nicht untergeht. Aber trotzdem bestehen erhebliche praktische und gewisse theoretische Bedenken gegen die Einführung. Die praktischen Auswirkungen wären vielleicht weniger günstig, als sich das die Befürworter vorstellen. Ein nur fakultatives Minder­heitsvotum wird wegen der Arbeitsbelastung häufig nicht zur Anwendung kommen. Wenn ein Gerichtshof sehr stark belastet ist, wird man die Mühe des Extra-ein-Paralleljudikat-schreiben-Müssens wahrscheinlich scheuen – auch das weiß ich von Verfassungsrichtern, die leider nicht mehr unter uns weilen.

Ein obligatorisches Minderheitsvotum – dieses wird meinem Eindruck nach allerdings nicht pro­pagiert – würde jedenfalls eine große Belastung bedeuten. Wenn wir Richter diese Belastung akzeptieren, dann führt das unweigerlich zu einer weiteren Verzögerung – zumindest der Ausfer­tigung – der Erkenntnisse und damit zu einer Verzögerung der Rechtspflege.

Wenn das Dissentieren hingegen zur häufigen Gewohnheit wird – Prognosen darüber kann man nur schwer anstellen, aber die amerikanischen Erfahrungen zeigen, daß es Wellenbewegungen gibt; es gibt Zeiten, in denen sehr häufig dissentiert wird –, kann es zu einer Proliferation von Sondervoten kommen, sodaß man nicht mehr von einer klaren Entscheidungslinie sprechen kann; man spricht dann von einer Erosion der Mehrheitsregel-Prozedur. Der Orientierungs­cha­rakter höchstgerichtlicher Entscheidungen würde dann freilich in einem gewissen Maße zweifel­haft werden.

Der staatstheoretisch gravierende Einwand besteht meines Erachtens darin, daß die Mehrheits­regel zwar in der Willensbildung jedes Kollegiums eine Rolle spielt, daß aber die Transparenz der Willensbildung eines Gerichtsentscheides – ich habe das vorhin schon hervorgehoben – nicht mit der Transparenz der Willensbildung politischer Entscheidungsorgane vergleichbar ist. Es geht nicht um die Darstellung oder Selbstdarstellung einzelner Richterpersönlichkeiten – ich möchte dazu anmerken, daß heute niemand mehr an die Fiktion dieses einheitlichen Gerichts­körpers oder eines übermenschlichen Staatsorganes glaubt –, sondern es geht um die Dar­stellung und Akzeptanz der Rechtsmeinung des Verfassungsgerichtshofes, der eine Frage rechts­ver­bindlich entscheidet. – Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. (Allgemeiner Beifall.)

12.19


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Ich danke Herrn Professor Schäffer für seine Ausführungen.

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß der Referate angelangt. Ich möchte mich noch einmal bei Frau Präsidentin Limbach und den anderen Herren, die heute vormittag durch ihre Beiträge die Diskussion bereichert haben, sehr herzlich bedanken.

Bevor wir in die Diskussion eintreten, möchte ich feststellen, daß diese Enquete um 13 Uhr für eine Stunde unterbrochen wird, um eine kurze Erholungspause einzuschalten. Ich bitte weiters um Ihr Verständnis dafür, daß wir aufgrund der Erfahrungen aus bisherigen parlamentarischen Enqueten die Redezeiten mit einer Richtredezeit von 5 Minuten begrenzen.

II. Punkt: Diskussion über die Referate


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Wir beginnen nun die Diskussion mit einer Stel­lungnahme des Herrn Abgeordneten Dr. Kostelka. – Bitte, Herr Abgeordneter.

12.20


Abgeordneter Dr. Peter Kostelka (SPÖ): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Gerichts­präsidenten! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Demokratie lebt nun einmal von Öffentlichkeit, und zwar nicht nur die Demokratie im Bereiche der allge­meinen Volksvertretung – der Vertretungskörper –, sondern jene aller Staatsorgane.

Ich möchte in diesem Zusammenhang die Aussage von Professor Schäffer erweitern und sagen, daß gerade die Öffentlichkeit der Gerichtsbarkeit nicht nur ein Element des liberalen Ge­dankengutes und der Demokratie ist, sondern schlichtweg ein Element der konstitutionellen Ord­nung darstellt. Denn die Öffentlichkeit brachte zusammen mit der Laiengerichtsbarkeit die Über­windung der geheimen Kammergerichtsbarkeit und ist damit ein Element des konstitutionellen Staates sowie schlicht und einfach der Überwindung der staatlich geduldeten, ja der staatlich geförderten Willkür, die in der präkonstitutionellen Zeit zu Schwierigkeiten und zu Auseinan­dersetzungen gesellschaftlicher und politischer Natur geführt hat.

Daher ist es kein Wunder, daß sich in weiterer Folge gerade in den Vereinigten Staaten, wo sich Demokratie und Konstitution zuerst verbunden haben, auch eine Tendenz in Richtung einer weiteren Öffnung und eines Respektes vor der Meinung nicht nur des Gerichtes an und für sich, sondern auch vor der Meinung jedes einzelnen Richters entwickelt hat.

Für Österreich gibt es meiner Ansicht nach darüber hinaus – das hat auch Herr Professor Mayer angeführt – eine weitere Begründung: Der österreichische Verfassungsgerichtshof – als Politiker ist man dabei mitunter Begünstigter, mitunter Betroffener; ich möchte das daher überhaupt nicht werten – hat in den letzten Jahrzehnten einen Weg in Richtung einer werteorientierten Ge­richtsbarkeit und Judikatur angetreten. Von dem dürren Satz, daß vor dem Gesetz alle Bürger gleich sind, bis hin zu dem Spruch, daß 50 Prozent – nicht 49 und nicht 51, sondern genau 50 Prozent – des Regelbedarfes eines unterhaltsberechtigten Minderjährigen steuerlich zu berücksichtigen sind, ist ein weiter Weg – ein Weg, der nur mit einer mitunter sehr weit­reichenden – manche sagen: exzessiven – Interpretation zurückgelegt werden kann.

Das ist durchaus nichts Schlechtes, das hat in unserem Rechtsstaat seinen Platz. Aber diese Interpretation bedingt, daß sie auch begründet wird. Die Judikatur unseres Verfassungsgerichts­hofes ist zwar präzise, aber mitunter sehr kurz; manche sagen – und ich möchte mich dem durch­aus anschließen –: zu kurz. Der Widerstreit von Meinungen ist in diesem Zusammenhang eine Anreicherung genau dieser Motivationen, der Begründungen einer werteorientierten Judika­tur, und bedingt sich meiner Ansicht nach selbst.

Sie haben es in der Zwischenzeit erkannt: Ich bin ein nachhaltiger Vertreter der “dissenting opinions” und habe auch als Staatssekretär im Bundeskanzleramt einen entsprechenden Antrag an die Bundesregierung gestellt. Um das in einem Saal voll “Öffentlich-Rechtlern” näher zu defi­nieren: Ich habe – da ich nicht antragsberechtigt war – meinen Ressortchef gebeten, einen solchen Antrag zu stellen, aber der Herr Bundeskanzler ist damals prompt an seiner Bundesre­gierung, besser gesagt: an seinem Koalitionspartner, gescheitert.

Ich bin aber trotzdem der Ansicht, daß die “dissenting opinions” auch in Österreich kommen wer­den. Schon allein quantitativ, meine Damen und Herren, gibt es eine Tendenz, die nicht über­sehen werden kann. Nahezu alle jüngeren Verfassungen – wenige Ausnahmen seien kon­ze­diert – kennen diese Institution. Umgekehrt gibt es bisher keinen Staat, der “dissenting opinions” wegen schädlicher Auswirkungen abgeschafft hätte. Das heißt, dies liegt im Zug der Zeit, und die Abwägung der einzelnen Argumente läßt mich zu dem Schluß kommen, daß eine Alternative nicht wirklich besteht.

Die persönliche Eitelkeit von Richtern – wie auch von Politikern und von allen anderen Men­schen – ist unübersehbar. Ich denke aber, daß das öffentliche Interesse überwiegt. Auch die Illusion vom einheitlichen Staatswillen entspringt letztlich einem Staatsverständnis, das in mei­nen Augen überwunden gehört. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen.)

Lassen Sie mich daher mit dem wirklich flammenden Appell schließen, meine Damen und Herren innerhalb und außerhalb des Gerichtes – in erster Linie des Verfassungsgerichtes –: Lassen Sie uns von uns beziehungsweise von den Mitgliedern des Gerichtshofes nicht schlech­ter denken, als es die bundesrepublikanischen Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtshofes tun! Diese sind für die “dissenting opinions”, sie sehen darin ein positives, rechtshygienisches und ein die Judikatur belebendes Element. Ich denke, das sollte auch in Österreich möglich sein.

12.26


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Als nächster hat sich Herr Abgeordneter Dr. Khol zu Wort gemeldet.

12.26


Abgeordneter Dr. Andreas Khol (ÖVP): Meine Damen und Herren! Nach meiner unmaßgeb­lichen Meinung hat die Enquete nicht die Funktion, die eigenen Vorurteile zu präsentieren, son­dern sie dient der Meinungsbildung. Ich möchte allen danken, die an diesem Vormittag zur Mei­nungsbildung beigetragen haben. Ich habe mir für meine Person noch keine endgültige Meinung gebildet.

Es wurden heute vormittag viele Aspekte dargelegt. Ich selbst war am Beginn meiner Berufs­laufbahn Schriftführer an einem Gerichtshof, nämlich am österreichischen Verfassungsgerichts­hof, an dem es keine “dissenting opinion” gab – keine öffentliche –, und war dann Schriftführer der Europäischen Menschenrechtskommission, in der es die “dissenting opinion” gab. Ich habe also beide Systeme von innen erlebt. Ich empfand schon damals das Spannungsverhältnis zwischen Unabhängigkeit einerseits und Transparenz sowie Demokratie andererseits so, wie es heute dargelegt wurde.

Es hat fast keine Session im Verfassungsgerichtshof gegeben, in der nicht Indiskretionen nach außen gedrungen wären und dann öffentliche Richterschelte die Folge waren. Ich erinnere mich noch an das Habsburg-Urteil I im Verfassungsgerichtshof, nach dem am gleichen Abend der Bundeskanzler in einer Gesellschaftsveranstaltung den Präsidenten des Gerichtshofes an­sprach und ihm das Mehrheitsverhältnis vorhielt. Ich erinnere mich als Schriftführer auch daran, daß die Indiskretionen bei den Schriftführern gesucht wurden. Meine Erfahrung aus 30 Jahren Berufstätigkeit ist, daß die Indiskretionen immer von den Richtern beziehungsweise von den Politikern, aber nie von den Sekretären ausgegangen sind.

Die Erfahrung, die ich in der Europäischen Menschenrechtskommission gemacht habe, be­stätigt, was Herr Professor Grabenwarter gesagt hat. Ich habe nie erlebt, daß ein Richter bezie­hungsweise ein Kommissionsmitglied – wenn es um etwas gegangen ist – gegen seinen Staat judiziert beziehungsweise eine Meinung vertreten hätte. Es war immer der Judex ad hoc, es war immer der nationale Richter, und das hat selbstverständlich gewisse Konsequenzen.

Herr Professor Mayer hat, wie auch viele andere, von Demokratie gesprochen. Die Demokratie ist natürlich mit einem Baugesetz der Gewaltenteilung versehen, und das Spezifikum der Ge­richtsbarkeit in der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit: sie ist nur dem Gesetz verpflichtet. Es gibt dabei – ich verwende diesen Ausdruck jetzt ganz bewußt – kein imperatives Mandat, und es gibt auch keine politische Verantwortung, sondern es gibt nur eine Verantwortung gegenüber dem Gesetz und dem eigenen Gewissen. Daher ergibt sich aus meiner Sicht die Frage nach dem Spannungsverhältnis: Wie weit wird diese Unabhängigkeit – sie ist meiner Erfahrung nach für die Qualität der Rechtsprechung sehr wichtig – gegebenenfalls durch Transparenz beein­trächtigt?

Dem Argument Demokratie vermag ich nicht zu folgen. Demokratie gibt es bei der Bestellung der Richter, Demokratie – Mehrheit oder Minderheit – gibt es durch die Entscheidungsfindung im Senat. Aber Demokratie dadurch, daß man quasi den Richter an die öffentliche Meinung und an die Mehrheitsentscheidung der öffentlichen Meinung oder der politischen Augenblicksverhält­nisse bindet: dem kann ich nicht folgen.

Ich bitte und hoffe, daß in den Diskussionsbeiträgen Antworten darauf gegeben werden, wie sehr von den Richtern beziehungsweise von den Rechtsanwälten, also von denen, die sich hauptsächlich, nämlich beruflich, damit befassen, eine politische Einflußnahme von seiten der Politik und der Gesetzgebung befürchtet wird und welchen Rückschluß gegebenenfalls die “dissenting opinion” auf den Bestellungsmodus hätte.

Denn es ist nicht zu übersehen, daß sich in den Vereinigten Staaten, wo die “dissenting opinion” ausgeprägt ist, die großen Entscheidungen ins Bestellungsverfahren ver­lagern und daß man in tagelangen Hearings versucht, die Richter darauf abzuklopfen, welche Wertentscheidungen sie treffen werden, damit man herausfindet, wen man wählt. Ich bitte darum, auch das in den Stellungnahmen zu berücksichtigen.

Schließlich gibt es Erfahrungen mit dem Mobbing durch die öffentliche Meinung und die Politik im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Richter. Darüber etwas zu wissen, wäre wichtig, weil man dann auch weitersehen könnte in der Abwägung zwischen den Werten, der Demo­kratie – beziehungsweise meiner Ansicht nach eher der Transparenz – auf der einen Seite und der Unabhängigkeit auf der anderen Seite.

12.31


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Nächster Redner ist Herr Dr. Kurt Heller, Mit­glied des Verfassungsgerichtshofes.

12.31


Dr. Kurt Heller (Verfassungsgerichtshof): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich selbst habe vor etwa 15 Jahren in einem Aufsatz die Meinung vertreten, daß die Einführung der “dissenting opinion” etwas Positives wäre. Ich habe diese Meinung im Prinzip nicht ganz aufgegeben, muß sie allerdings mit großen Fragezeichen versehen. Ich kann das hier nicht im einzelnen dartun, möchte aber zwei Argumente vorbringen.

Das eine ist folgendes: Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes werden immer wie­der kritisiert. Das ist normal, das ist meiner Ansicht nach sogar notwendig. Eine Kritik ist aber in letzter Zeit fast zur Gänze verschwunden, nämlich jene, daß der Verfassungsgerichtshof seine Entscheidungen entlang irgendwelcher parteipolitischer Linien treffe. Diese Kritik ist ver­schwun­den, und ich frage mich daher skeptisch: Warum will man jetzt daran etwas ändern? Warum gerade jetzt? Warum kommt man jetzt in dieser Situation auf einmal mit dem Wunsch daher, deutlicher zu sehen, was intern vorgeht? Was erhofft man sich wirklich von der “dissenting opinion”? Sind es die Argumente von Transparenz und Demokratie, die so schön klingen, oder sind es andere Motive? – Das ist mein erstes großes Fragezeichen.

Das zweite, das ich heute anführen möchte, hängt mit der Belastung zusammen. Vielfach wurden Vergleiche mit anderen Höchstgerichten angestellt, die ergaben, daß es die “dissenting opinion” ja fast überall gebe. Warum eigentlich nicht bei uns? – Dazu darf ich Ihnen einen anderen Vergleich vorführen, nämlich den der Erledigungszahlen von einigen Höchstgerichten. Wir haben zu diesem Zweck eine Reihe von Gerichten angeschrieben. Nicht von allen ist – bis heute – eine Antwort gekommen.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1997 bei einem Anfall von 5 078 Fällen 92 Fälle oder 1,81 Prozent zur Beratung angenommen. 89,55 Prozent wurden nicht angenom­men, und darüber hinaus gibt es eine Restgröße von 431 Fällen, die auf andere Weise erledigt wur­den. Die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichtshofes zusammen haben im Jahr 1997 48 Fälle entschieden, in der sogenannten Kammer 44 Fälle.

Im Supreme Court der Vereinigten Staaten – ich gehe das jetzt nicht in allen Details durch – liegt die Ablehnungsrate, das “non-granting of a certiorari”, bei 97,83 Prozent. Der Supreme Court der Vereinigten Staaten hat in der Vollversammlung – sozusagen im Plenum – in der letzten Session 96 Fälle entschieden, 50 sogenannte summary decisions. Kanada, Entscheidungen im Plenum: 107 Fälle. Kroatien: 108 Fälle. Das Verfassungsgericht von Spanien hat 95,72 Prozent aller Fälle abgelehnt sowie 34 Fälle im Plenum und 203 in der sogenannten Sala, also einer Kammer, entschieden.

Dazu die Zahlen des österreichischen Verfassungsgerichtshofes: Wir haben im Jahr 1997 1 363 Fälle oder 36,82 Prozent zur Entscheidung angenommen, abgelehnt wurden 51 Prozent. Dazwischen liegen sonstige Erledigungen, Zurückziehung von Beschwerden und dergleichen. Im Plenum – also in der Versammlung aller 14 Richter – wurden 417 Fälle entschieden, in der sogenannten kleinen Besetzung 946 Fälle. Heute war bereits zu hören, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in fünf Jahren insgesamt 193 Fälle entschieden hat. Wir ent­scheiden mehr Fälle in einer einzigen Session.

Selbstverständlich müßte man diese Statistik analysieren. Ich will bei Gott nicht sagen, daß andere Gerichte nicht genauso fleißig wie wir sind. Ich habe aber auch eine Analyse des Per­sonals am Supreme Court durchgeführt. Der Personalstand ist etwa fünfmal so hoch wie bei uns. Beim Budget ist die Disproportionalität noch sehr viel größer.

Wenn man das genau betrachtet, zeigt sich, daß unser Gericht ein billiges Gericht ist, ein Ge­richt, das über den politischen Parteien steht, wie heute, glaube ich, unbestritten ist. Wir haben trotz dieser Belastung Erledigungszeiten, die international manchmal Staunen hervorrufen, weil sie in der überwiegenden Zahl der Fälle unter einem Jahr liegen. Ich denke, daß sich auch die Qualität unserer Entscheidungen im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann. – Ich frage jetzt: Was stimmt bei uns also nicht?

Eines aber steht trotz allem, was man über die Statistik sagen kann, fest: Eine weitere Belastung des Gerichtshofes ist einfach nicht mehr möglich. Man soll das nicht herunterspielen und sagen, eine “dissenting opinion” gehe so schnell. Wir haben heute gehört, daß das Verfassen einer “dissenting opinion” etwa genauso lang dauert wie das Verfassen eines ganzen Urteils.

Die Einführung der “dissenting opinion” kann zwei Konsequenzen haben. Wird die “dissenting opinion” nur fakultativ eingeführt, sodaß sie uns freigestellt wird, dann kann ich jetzt schon pro­phezeien, daß unsere “dissenting opinions” in der Größenordnung des Bundesverfassungsge­richtshofes liegen werden. Die entsprechende Statistik haben Sie vor sich liegen: in den letzten zehn Jahren in maximal vier Fällen, mit einer einzigen Ausnahme im Jahr 1995, und in der Regel in einem, zwei oder drei Fällen pro Jahr. Ich frage mich nun, wie dann die von der Wissenschaft gewünschte Transparenz, die Rechts-Fortentwicklung und so weiter entstehen soll, wenn im Jahr in zwei oder drei Fällen eine “dissenting opinion” verkündet wird.

Ich möchte noch etwas sagen: Der Adressat unserer Entscheidungen ist nicht die Öffentlichkeit, sondern sind die Parteien. Es kann sein, daß jemand kommt und sagt: Ich habe früher in acht oder neun Monaten eine Entscheidung erhalten, und jetzt dauert es drei Jahre. Man wird ihm sagen: Ja, jetzt dauert es zwar drei Jahre, aber dafür hast du eine “dissenting opinion”. – Die Reaktion der Parteien darauf möchte ich sehen!

Wenn man aber die “dissenting opinion” in größerem Maße handhabt, so führt das unweigerlich dazu, daß unser Gericht nicht mehr arbeitsfähig ist. Ich möchte das ganz offen sagen. So etwas wäre höchst unverantwortlich. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen.)

Ein Satz noch: Ich denke, es wäre viel wichtiger und dringender, daß man Prioritäten setzt und damit beginnt, zunächst einmal Verwaltungsgerichte in den Ländern einzuführen. Dann könnte man auch unsere Belastung auf ein Maß reduzieren, das akzeptabel ist. Alles andere halte ich, ganz offen gesagt, für unverantwortlich, obwohl ich selbst an sich ein Befürworter der “dissenting opinion” bin. – Danke schön.

12.38


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Zu Wort gelangt jetzt Herr Professor Korinek, gleichfalls Mitglied des Verfassungsgerichtshofes.

12.38


o. Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek (Verfassungsgerichtshof): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer meine Publikationen kennt, weiß, daß ich ein ganz großer Be­fürworter der Judi­katur-Kritik bin. Ich denke, daß durch die Öffentlichkeit von Spruch und Be­gründung die Kon­trolle über verfassungsrechtliche Entscheidungen über den engeren Kreis der Betroffenen hin­aus der Öffentlichkeit, der Rechtswissenschaft und der Politik ermöglicht wird.

Ich habe in diesem Sinn einmal auf die ewige Frage “Et quis custodiet ipsos custodes?” des Juvenal – die allerdings, wie Sie vielleicht wissen, in einem nicht ganz so ernsten Zusammen­hang gestellt wurde – mit einem Zitat des deutschen Staatsrechtslehrers Häberle geantwortet: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten kontrolliert die Verfassungsgerichte. Ich bin überzeugt von der Legitimität und der Notwendigkeit von Entscheidungskritik.

Ich bin aber letztlich der Meinung, daß es nicht angeht, Entscheidungskritik mit der Entschei­dung selbst zu verbinden. Man muß sich entscheiden, ob man an Entscheidungen mitwirkt oder ob man Entscheidungen kritisiert. Das ist manchmal schwer. Die Kolleginnen und Kollegen hier im Raum wissen, daß ich erst vorgestern gesagt habe: Nach dieser Entscheidung würde ich wahnsinnig gern eine “dissenting opinion” schreiben!

Übrigens, Herr Kollege Mayer: Äußerst selten liegt so etwas in den politisch relevanten Fällen nahe. Viel häufiger wären Rechtsfragen von grundlegender Bedeutung davon betroffen. Was unser Gerichtshof etwa in den letzten zwei, drei Jahren an intensiven Diskussionen um zentrale Fra­gen des Zusammenspiels von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht geführt hat, hätte Platz für “dissenting opinions” geboten. Gerade das aber hätte wieder zu Un­sicherheiten geführt, weil man dann nicht gewußt hätte, ob das der Gerichtshof nur vorüber­gehend meint oder ob das letztlich seine Meinung ist.

Ich denke, daß bisher nicht alle Probleme, die “dissenting opinions” mit sich bringen, in der De­batte ausreichend zur Sprache gekommen sind, etwa das Problem der Personalisierung von Gerichtsentscheidungen oder das Problem der Verringerung der Konsensbereitschaft im Ent­scheidungsprozeß.

Frau Präsidentin Dr. Limbach! Wir haben nach meinem Vortrag in Karlsruhe darüber ein sehr interessantes Gespräch geführt. Ich halte es an sich für ein Zeichen hoher Rechtskultur, daß eine Entscheidung im österreichischen Verfassungsgerichtshof nicht so fällt, daß man ja oder nein, “wird stattgegeben” oder “wird nicht stattgegeben” sagt, sondern daß es schrittweise Entscheidungen sind. In deren Verlauf muß man sich zuerst über die Zulässigkeit informieren. Dann muß man sich – etwa in einem Geset­zesprüfungsverfahren – darüber klarwerden, was der Inhalt der Norm ist. Diese ist meistens nicht ganz eindeutig. Erst, wenn man das geklärt hat, kann man fragen: Ist dieser Inhalt der Norm verfassungswidrig? – Dann muß man weiterfragen, ob sie einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich ist oder ob sie zu prüfen sein wird. Daraufhin muß man sich, wenn Verfassungswidrigkeit besteht, die Frage stellen: Wo ist der Sitz der Verfassungswidrigkeit? – Meine Damen und Herren! Das sind oft sechs, sieben weichen­stellende Entscheidungen in einem Entscheidungsprozeß. Es geht dabei also nicht um die schlichte Frage, ob dies oder jenes richtig ist, sondern es geht um eine, wie mir scheint, rechtskulturell sehr fortgeschrittene, differenziertere Betrachtung.

Ein Problem ist sicherlich auch der schon angesprochene Erwartungsdruck der Öffentlichkeit – oder bestimmter Gruppen der Öffentlichkeit – und die Gefahr der Abwertung von Entschei­dungen, die von einer knappen Mehrheit getragen werden.

Ich möchte einen Satz von Frau Präsidentin Limbach noch einmal aufgreifen. – Gnädige Frau, Sie haben gesagt, daß es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß die Gefahr eines Verlustes von Ansehen und Autorität des Gerichtes mit den “dissenting opinions” verbunden ist. Ich darf ganz kurz aus einem sehr bekannten Aufsatz zitieren, den der Bonner Staatsrechtslehrer Isensee geschrieben hat, basierend auf seinem großen Einleitungsvortrag zum – meiner Erinnerung nach – vorletzten Deutschen Juristentag.

Er schreibt: Alarmierend ist dagegen die Kritik, die das Bundesverfassungsgericht aus seinen eigenen Reihen erfährt. Unterlegene Richter nutzen das Sondervotum dazu, die Mehrheit zu rezensieren. – Und: Voten geraten zu immer kräftigeren Urteilsschelten. Darin wird dem Senat vorgeworfen, er verletze das Minimum an Logik, argumentiere inhaltsleer, stelle die Rechtspre­chung auf den Kopf, unterlaufe Verfassungsgrundsätze. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen.)

Kann man dann tatsächlich noch sagen, daß die allgemeine Akzeptanz gleichbleibt, wenn es solche angeschlossenen Meinungen gibt? – Danke schön.

12.44


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Zu Wort gemeldet ist jetzt Herr Professor Morscher, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes.

12.44


o. Univ.-Prof. Dr. Siegbert Morscher (Verfassungsgerichtshof): Da bekann­termaßen hinter Rechtsstandpunkten üblicherweise bestimmte Interessen stehen, möchte ich ganz kurz die verschiedenen Interessen für oder gegen die Einführung einer “dissenting opinion” beleuchten, also von einem klassischen politikwissenschaftlichen Ansatz aus. Obwohl ich von der Seite der Wissenschaft komme, bin ich selbstverständlich nicht so blauäugig, das bloße Streben nach Erkenntnis als maßgebliches Interesse in unserer Gesellschaft anzusehen. Ich möchte versuchen, eine nüchterne und realistische Einschätzung vorzunehmen, und dazu sechs Punkte anführen.

Erstens sei – des Genius loci wegen – auf die Interessen der Politik eingegangen. Die Politik will und soll gestalten. Sinn macht für sie die “dissenting opinion” dann, wenn sie mit ihr ihren Einfluß vergrößern kann. Daß dies – in welcher Form auch immer – möglich ist, stelle ich außer Streit. Ich halte es aber aus meiner Sicht im Ergebnis aus einsichtigen Gründen für schädlich.

Zweitens: Aus der Sicht der Wissenschaft wird die “dissenting opinion” wegen der davon erhofften Informationsmaximierung in der Regel positiv beurteilt. Ich denke, daß diese Sicht­weise etwas vordergründig und – ich bin ein Wissenschafter und darf es darum sagen – egoistisch ist. Sie begünstigt die minderqualifizierte Wissenschaft, die zu bequem ist, ihre wahre Aufgabe wahrzu­nehmen, nämlich verantwortet, vorzudenken und nicht nachzumotzen. Zu der These von Mayer, daß die “dissenting opinion” gerichtliche Entscheidungen besser vorher­seh­bar machen kann – er konnte sich dabei auf die sehr geschätzte Frau Präsidentin berufen –, berufe ich mich dagegen auf Herrn Präsidenten Müller.

Drittens: Von ihrem Standpunkt aus befürworten die Rechtsberufe folgerichtig die “dissenting opinion”. Ihren Angehörigen wird damit ja bescheinigt, daß sie trotz prozessualer Niederlage nicht völlig daneben gelegen sind. Dem optimalen Seeleninnenleben der Rechtsberufler kann aber mit der “dissenting opinion” nicht genützt werden. Sie müssen dieses Seelenleben anderswo fin­den, weil das nur ganz seltene Ausnahmen sein können.

Viertens: Ich habe mich zwar diesbezüglich nicht konkret kundig gemacht, zweifle aber nicht daran, daß der Journalismus und die Massenmedien schon von ihrem Wesen her nur für die Einführung der “dissenting opinion” sein können. So weit, so gut. Aber auch in Abwandlung der bekannten Briefformulierung von Jefferson – wenn ich darüber zu entscheiden hätte, ob wir lieber einen Verfassungsgerichtshof ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne ein Verfassungsge­richt haben sollten, würde ich nicht einen Moment zögern, für die letztere Lösung zu stimmen – wissen wir unter dieser Voraussetzung alle – nicht nur die Politik, sondern insbesondere auch der Journalismus, zumindest für sich selbst –, daß die Qualitätsarbeit auch der Diskretion und des Schutzes der Offenheit nach innen bedarf.

Angesichts der internationalen Entwicklung – also in erheblichem Maß der Vorherrschaft der Öffentlichkeit vor der Politik, der Macht und des Druckes dieser Öffentlichkeit – wird letztlich von dieser Seite die richterliche Unabhängigkeit fundamentaler gefährdet als von seiten der Politik. Nichts spricht dafür, diesen Erosionsprozeß zu unterstützen.

Fünftens: Das Recht insgesamt hat der Bevölkerung zu dienen. Aus unmittelbarer Sicht der Be­völkerung ist die “dissenting opinion” unbekannt und darüber hinaus überflüssig, denn die Men­schen wollen verständlicherweise ihre Prozesse gewinnen. Die Gründe, aus denen sie verlieren oder auch gewinnen, sind ihnen gleichgültig. Daß die “dissenting opinion” der Bevölkerung auch mittelbar nicht beziehungsweise kaum von Nutzen sein kann, versuchte ich darzustellen.

Sechstens, last but for me not least: Wie steht es mit den Interessen des Verfassungsrichters oder der Verfassungsrichterin? – Wenn seine Bequemlichkeit maßgeblich wäre, müßte man gegen die Einführung der “dissenting opinion” sein, möglicherweise auch aus Zeitgründen. Im übrigen aber – und das ist wohl das Wichtigere – gibt es aus der Sicht der Interessen eines Mitgliedes eines Verfassungsgerichtes drei Varianten, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, Verantwortung und Gewissen jeweils vorausgesetzt.

Die mir heute neu bekanntgewordene Ventilfunktion muß meiner Ansicht nach anderwärts – wohl nach innen, auch wenn das ungesund ist – gefunden werden, aber nicht nach außen. Zur Rechtfertigung gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und/oder zur Profilierung die abschließende – ein bißchen sophisticated gestellte – Frage, da sich niemand zur zweiten Variante – man könnte sie auch als Unterwerfungsgeste bezeichnen – bekennt: Wem außerhalb eines Gerichts kann die Profilierung einzelner Mitglieder des Gerichts ein Anliegen sein? – Ich danke.

12.49


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Nächster Redner ist Herr Professor Liehr, Mit­glied des Verfassungsgerichtshofes.

12.49


w. Hofrat a. D. Hon.-Prof. Dr. Willibald Liehr (Verfassungsgerichtshof): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist heute schon sehr viel über die Vor- und Nachteile der Einführung eines Sondervotums am Verfassungsgerichtshof gesagt wor­den. Ich möchte hier dennoch meine Position zu diesem Thema offenlegen: Für mich persönlich überwiegen die Nachteile der Einführung eines Sondervotums, sodaß ich mich dagegen aus­spreche. Im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit, aus zeitökonomischen Gründen möchte ich nur auf einen der Aspekte eingehen, die aus meiner Sicht gegen die Einführung des Sonder­votums sprechen.

Ich sehe im Fall der Einführung des Sondervotums die Gefahr einer Identitätskrise im Verfas­sungsgerichtshof, nämlich die Gefahr, daß sich jenes Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, das überstimmt worden ist, nicht mehr mit dem einheitlichen Spruchkörper und daher nicht mehr mit der Institution Verfassungsgerichtshof sowie den von diesem Gerichtshof gefällten Entschei­dungen identifizieren wird, sondern primär mit seiner von der Mehrheitsmeinung abweichenden Minderheitsmeinung.

Meines Erachtens besteht die Gefahr, daß sich ein Mitglied des Gerichtshofes, das mit seiner Meinung nicht durchdringt – beispielsweise ein Referent, der mit seiner Meinung in einem Ab­stimmungsschritt unterliegt –, sich nicht mit der Meinung der Mehrheit identifizieren wird. Denn er erhält ja nun die Möglichkeit, seine abweichende Meinung nach außen hin, also sozusagen publikumswirksam, zu präsentieren. Wird er da nicht geradezu dazu gedrängt, seine Kraft für die optimale Argumentation seiner eigenen Minderheitsmeinung einzusetzen? – Damit geht aber eine wesentliche Funktion verloren, die in der derzeitigen Beratungspraxis des Verfassungsge­richtshofes eine sehr große Rolle spielt – es ist dies die Stante-concluso-Argumentation –, die die derzeitige Beratungskultur des Verfassungsgerichtshofes ausmacht.

Auch wenn ich beispielsweise mit meinem Referat in der Minderheit geblieben bin, bemühe ich mich auf Basis der gefaßten Mehrheitsmeinung oder aufgrund der in der Diskussion bereits erkennbaren Mehrheitsmeinung, konstruktive Vorschläge zu erstatten, um zu einer besseren Argumentation auch jener Meinung beizutragen, die ich ursprünglich nicht vertreten habe. Wenn ich hingegen Gelegenheit erhalte, mein abweichendes Sondervotum nach außen zu tragen, dann besteht die Gefahr, daß ich mich nach einer gegen meine Meinung gerichteten Abstim­mung zurücklehne und nicht bereit sein werde, durch konstruktive Beiträge die Argumentation der Mehrheitsmeinung zu verbessern, zu verfeinern oder andere Nuancen zu setzen, sondern ich könnte danach trachten, die mit meinem Namen verbundene abweichende Meinung so wirk­sam wie möglich zu plazieren.

So werde ich geradezu dazu gedrängt, nicht das Gesamtinteresse des Verfassungsgerichts­hofes im Auge zu haben, sondern mein Augenmerk könnte sich auf das primäre Interesse rich­ten, nach außen zu dokumentieren, wie überzeugend meine eigene Meinung gegenüber der Meinung der Mehrheit ist. Damit wird vielleicht mein persönlicher Ehrgeiz befriedigt, damit wird Material für die wissenschaftliche Diskussion, für die politische Diskussion und auch für die Dis­kussion in den Medien geliefert, aber die Entscheidungsbegründung wird dadurch nicht besser. Es besteht vielmehr die Gefahr, daß die Veröffentlichung der Minderheitsmeinung nicht zu einer Qualitätssteigerung der Entscheidung beiträgt, sondern geradezu das Gegenteil bewirkt.

Aber jedenfalls hat dies einen negativen Einfluß auf die Beratungskultur im Verfassungsgerichts­hof. – Danke.

12.53


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Nächster Redner ist Herr Sektionschef Okresek vom Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes.

12.53


Sektionschef Dr. Wolf Okresek (Bundeskanzleramt/Verfassungsdienst): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als Ver­treter des Verfassungsdienstes möchte ich mich auf ein paar praktische Anmerkungen zu den heutigen Vorträgen und Debattenbeiträgen beschränken – Anmerkungen aus der Erfahrung des Verfassungsdienstes mit der “dissenting opinion”.

Die Erfahrung des Verfassungsdienstes beruht auf der Vertretung von Fällen vor den Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wir haben heute gehört, daß die “dissenting opinion” sowohl im Verfahren vor der Kommission als auch im Verfahren vor dem Gerichtshof gang und gäbe ist und eine ständig gehandhabte Praxis darstellt. Ich gebe zu, daß meine Ein­drücke in erster Linie aus der Sicht einer Partei vor einem Gericht gewonnen wurden. Vorhin erst ist von Professor Morscher gesagt worden, die Rechtsberufe hätten ein Interesse an der “dissenting opinion”. Ich kann mich erinnern, daß ich vor Jahren damit begonnen habe, die Urteile des Gerichtshofes – zum Teil auch die Berichte der Kommission – in Straßburg zu über­setzen. Die Reaktion eines Anwaltes ganz am Anfang war die Bekundung des Interesses an den “dissenting opinions”.

Aus der Sicht einer Person, die vor einem Gericht auftritt, ist es meiner Meinung nach beson­ders wichtig, daß man die Möglichkeit hat, sich ein Bild von den Richtern zu machen, denen man gegenübersteht. Wenn man die Rechtsprechung eines solchen Organs verfolgt, führt die “dissenting opinion” dazu, daß man über kurz oder lang – zumindest in heiklen Fragen – weiß, wie die Standpunkte der einzelnen Richter sind, zum Beispiel im Gerichtshof in Straßburg in Fra­gen der Transsexualität oder in der Frage der Ausweisung von Ausländern der zweiten Gene­ration, in der Frage der Weite der Civil Rights nach Artikel 6. Es ist, wenn man eine Prozeß­position auf­baut, sehr wichtig, daß man die Gedanken von Mitgliedern eines Kollegialorganes, die in der Mehrheitsbegründung nicht unbedingt ihren Niederschlag finden, kennt und die Möglichkeit hat, in der Vertretung bestimmter Positionen darauf einzugehen.

Ich denke aber, man darf auf der anderen Seite die Bedeutung einer “dissenting opinion” auch nicht überschätzen. Ich teile die Meinung derjenigen, die heute betont haben, daß die “dis­sen­ting opinions” in der Praxis nicht unbedingt dazu führen, daß die Mehrheitsentscheidung im Detail auf die Argumente der “dissenting opinion” eingeht. Ich denke zum Beispiel an den Fall Cossey gegen das Ver­einigte Königreich, in dem eine “dissenting opinion” des niederländischen Richters von 19 Seiten einigen ganz wenigen Paragraphen oder Absätzen im Urteil gegenüber­steht, ohne daß die Aus­einandersetzung, die angeblich zur Qualitätssteigerung führt, wirklich stattgefunden hätte.

Meiner Ansicht nach besteht auch die Gefahr, daß es in Einzelfällen – es wurden die nationalen Richter genannt – zur Vertretung eines Standpunktes kommt, der vielleicht ein gewisses Er­staunen auszulösen vermag. Ich glaube aber, daß man das nicht überschätzen darf. Auch mir ist unter anderem der heute schon zitierte Fall Kokkinakis aufgefallen, in dem der nationale Richter vehement eine Position bezogen hat, bei der man sich zumindest wundert, daß in einem Gericht, das über Grund- und Freiheitsrechte urteilt, solche Gedanken vertreten werden. Ich denke aber, daß das nicht das Urteil disqualifiziert. Ich glaube nicht einmal, daß es das Gericht qualifiziert, sondern es qualifiziert in einem konkreten Fall einen bestimmten Richter. Aber es tut der Autorität der Entscheidung und letztlich auch der Autorität des Gerichtes keinen Abbruch. Die Konsequenz wäre eher, daß der Richter, der eine solche “dissenting opinion” abgibt, sich dar­über zu befragen hätte.

Nach meiner Überzeugung zeigt gerade die Judikatur in Straßburg, daß die Autorität der Entscheidungen nicht gelitten hat, nicht einmal in Fällen, in denen sich mit einem Stimmenver­hältnis von vier zu drei – wie etwa im österreichischen Fall Gustav Adolf – ein denkbar knappes Verhältnis ergeben hat. Trotzdem war es eine Entscheidung, die letztlich anerkannt wurde und auch richtungsweisend war. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen.)

Meine Gesamtbewertung ist daher – aus der Sicht der Erfahrung mit diesen Instanzen der Menschenrechtskonvention – überwiegend positiv. – Danke.

12.59


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Danke, meine Damen und Herren.

Wie angekündigt, unterbreche ich jetzt die Enquete.

Wir werden um 14 Uhr fortsetzen, und zwar zunächst mit Debattenbeiträgen von Professor Mantl und Professor Wielinger. Ich bitte, sich pünktlich um 14 Uhr wieder hier einzufinden.

(Die Enquete wird um 12.59 Uhr unterbrochen und um 14 Uhr wiederaufgenommen.)


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf Sie bitten, die Plätze einzunehmen. Wir wollen pünktlich um 14 Uhr fortsetzen.

Ich darf noch einmal in Erinnerung rufen, daß wir uns als Richtredezeit 5 Minuten vorgenommen haben.

Ich erteile als erstem Redner am Nachmittag Herrn Univ.-Prof. Dr. Mantl das Wort. – Bitte, Herr Professor.

14.00


o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mantl (Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Graz): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir fällt die Rolle des Stimulans im deplorablen Biotief nach dem Mittagessen zu. Diese Rolle als Stimulans spricht man im allgemeinen der “dissenting opinion” zu; ich werde jedoch gegen diese argu­mentieren.

Lassen Sie mich ein paar Dinge zu Beginn sagen: Es erscheint irgendwie entschieden, als ob notwendigerweise zwischen der Ratio und der Auctoritas der Entscheidung ein synergetischer Effekt bestünde. Das ist in meinen Augen aber nach wie vor nicht eindeutig entschieden, und wir müssen immer wieder mitbedenken, welche Aktionen wir unternehmen, damit die Auctoritas nicht beschädigt und unter Umständen etwas getan wird, das der Ratio gar nichts nützt.

Noch wichtiger als diese Erwägung ist mir folgendes Bedenken: In den letzten 200 Jahren – nach der Aufklärung, den bürgerlichen Reformen und Revolutionen – hat sich das Rechtsstaat- und Demokratiepostulat in einer sehr subtilen Balance zwischen Öffentlichkeit und Nichtöffent­lichkeit des Staatshandelns in allen drei Staatsfunktionen etabliert: in der Gesetzgebung, in der Verwaltung und auch in der Gerichtsbarkeit. Das wurde in der heutigen Diskussion manchmal etwas unterbelichtet.

Wir müssen wissen, daß es auch negative Erfahrungen mit der Öffentlichkeit gibt, die durchaus der Beeinflussung, der Disziplinierung von Bürgern und Organwaltern in den letzten 200 Jahren dienten. Die Jakobiner Verfassung von 1793, durch die die öffentliche Beratung und Ver­handlung der Gerichte in Frankreich eingeführt wurde, ist meiner Meinung nach ein histori­sches Beispiel; die etwas gemäßigtere Direktorialverfassung von 1795 hat dies dann wieder abge­schafft.

Es hat mich sehr nachdenklich gestimmt, aber auch, daß Carl Schmitt, dessen Gescheitheit wie Bedenklichkeit wir kennen, in seiner Verfassungslehre aus dem Jahre 1928 das Wahlgeheimnis als Ausdruck individualistischer Privatheit abgelehnt hat. Ich bin mir durchaus dessen bewußt, daß ein quantitativer und qualitativer Unterschied zwischen Wählern und Höchstrichtern besteht, dennoch wird die Nachdenklichkeit in mir geweckt. Es stellt sich die Frage, ob Öffentlichkeit immer befreit und emanzipiert.

Es war bereits mehrfach von den Vereinigten Staaten von Amerika die Rede. Im Common-Law-System, im Case-Law-System ist es notwendig, die ratio decidendi möglichst umfangreich dar­zulegen, weil sie als Entscheidungsgrund das Präjudiz für spätere Fälle bietet. Die Pluralität von Meinun­gen einzufangen, war schon in der englischen Tradition vorhanden. Freilich haben sich die USA auch beim Common law als völlige Neugründer verstanden. Das hat sich in der neueren Ver­fassungsgeschichte, etwa bei Adams – er ist kein Verwandter der Präsidenten­familie, sondern ein deutscher Historiker –, gegenüber der älteren Auffassung von Fränkel durchgesetzt.

Es ist natürlich auch etwas anderes, eine Verfassung mit sieben Artikeln und kaum 30 Amend­ments zu interpretieren; die Person des Richters steht im Vordergrund. Es gibt nicht überall einen Holmes, einen Brandeis, einen Stone, einen Frankfurter. Bei uns auf dem Kontinent ste­hen die Institutionen der Gerichte, das Organ im Vordergrund.

Auffallend ist meiner Meinung nach auch, daß im Jahre 1867 bei uns kein Sondervotum einge­führt wurde. Bei der ethnischen Pluralität Altösterreichs wäre dies irgendwie sinnvoll gewesen – so wie bei internationalen Gerichten auch, wie wir dies heute mit allen Pro und Kontras gehört haben. Man hat es aber nicht getan. Man hat freilich die unerhört schwierigen Verhandlungen gerade in Nationalitätenfragen in den Protokollen festgehalten, die heute als Materialien zur Ver­fügung stehen. Der eminente österreichische Historiker Gerald Stourzh hat ja einen Gutteil seiner Lebensarbeit der Erschließung dieser Quellen gewidmet.

Ein Argument auf verfassungspolitisch-rechtlicher Ebene, das mehrfach angeklungen ist, möch­te ich aber doch auch noch verdeutlichen: Ich glaube, daß die Einführung von Sondervoten zu einer Politikakzentuierung des Handelns der Verfassungsgerichte des österreichischen Ver­fas­sungsgerichtshofes führen würde; nicht nur zu einer Konfliktaufladung, sondern auch zu einer Politikakzentuierung, die gerade vom Standpunkt demokratischer Politik, die über Parteien – ich bin durchaus ein Anhänger der Parteiendemokratie – in ihrem Zentralort, dem Parlament, trans­por­tiert und formuliert werden muß. Das würde – wie in den USA – in den Hintergrund treten.

Das Parlament soll sich doch nicht im Common-Law-Gehege verkriechen. Es müßte diese Poli­tikaufgabe wahrnehmen, und das wird ja auch oft als Vorwurf gegen den Verfassungsgerichts­hof formuliert. Ich glaube auch, daß die Friedensfunktion darunter leiden könnte (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen), die Friedensfunktion als Klammer im Bundes­staat, wie Kelsen es hervorhebt, aber auch im Pluralismus der Gesellschaft.

Eine unbeeinflußte Argumentation ist ein sozialer Schutz der inneren Unabhängigkeit, gerade in der veränderten Lebenswelt der letzten dreißig Jahre. Eine Herauslösung aus der unvermeid­lich parteipolitisch beeinflußten Bestellungssituation könnte durch Sondervoten gefährdet wer­den. Dr. Limbach ist in diesem Zusammenhang optimistischer, ich teile die Skepsis von Dr. Müller.

Es gibt ja manchmal einen Zungenschlag, als ob die Verfassungsrichter – viri et feminae – obskure Personen wären, die durch die Sondervoten zur wahren Richterpersönlichkeit erzogen werden müßten. Ich glaube auch, daß es für die Konsenssuche schädlich ist – das ist schon angeklungen –, wenn man dezessionistisch in den Dissens ausweicht, das wäre letztlich eine Entrationalisierung des Rechtskonkretisierungsprozesses. Sondervoten könnten auch Anschluß­gesetzgebung stimulieren. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt neuerlich das Glocken­zeichen.)

Ich schließe unter Abwägung all dieser Argumente vor dem Horizont der politischen und recht­lichen Entwicklungen der Aufklärungswelt: Im Dienst eines realistisch verstandenen aufgeklärten Diskurses überwiegen bei mir Skepsis, ja Ablehnung gegenüber der Einführung von Sonder­voten.

14.08


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Zu Wort gemeldet ist nunmehr Herr Univ.-Prof. Dr. Wielinger. – Bitte.

14.08


Univ.-Prof. Dr. Gerhart Wielinger (Landesamtsdirektor, Steiermark): Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, obwohl ich als Vertreter der Wissenschaft geladen bin, in hohem Maße auch meine Erfahrungen als Verwaltungsbeamter in mein Votum einfließen zu lassen.

Nach meinem Dafürhalten kann man bei der Diskussion um die Wünschbarkeit von Regelungen für ein Verfassungsgericht nicht von den konkreten politischen Gegebenheiten eines Landes abstrahieren. Daher sind Vergleiche mit dem Ausland nur sehr bedingt brauchbar, und daher ist insbesondere das Argument, irgend etwas sei in anderen Ländern so, daher sei es einem Zug der Zeit entsprechend, daß etwas eingeführt werde, und dieser Zug der Zeit komme bestimmt, Ausdruck einer Geschichtsmetaphysik, der ich mich nicht anschließen kann.

Es wurde gesagt, die Demokratie sei Diskurs und Diskurs habe öffentlich stattzufinden, über Wertentscheidungen dürfe nur öffentlich diskutiert werden. Da muß man fragen: Hat dann ein Verfassungsgericht überhaupt noch seinen Platz? Wenn über Wertentscheidungen nur öffent­lich diskutiert werden darf, dann bitte möge man die Konsequenz daraus ziehen und sagen, die Wertentscheidungen des Parlaments können durch kein Gericht mehr angefochten werden. – Wir kennen Staaten, in denen so argumentiert wird, wir kennen dieses Argument auch aus der österreichischen Diskussion und aus der Diskussion im deutschsprachigen Raum.

Wenn wir aber die konkreten politischen Gegebenheiten Österreichs in die Diskussion einbe­ziehen, so müssen wir auch jene Frage stellen, die heute vormittag Herr Dr. Heller aufgeworfen hat: Warum wird zu bestimmten Zeiten immer wieder das Thema Sondervotum diskutiert? – Mir fällt auf, daß das regelmäßig dann erfolgt, auch im Parlament, wenn der Verfassungsgerichtshof nicht kanzlerparteitreu entschieden hat.

Beim letzten derartigen Anlaß ist ja vom Regierungschef die Vermutung geäußert worden, daß das eigentlich nur ein Ausrutscher gewesen sei, im Gerichtshof sei mit einer Stimme Mehrheit entschieden worden. Es war dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes zu danken, daß er dies klargestellt hat. Da liegt nach meinem Dafürhalten das Problem. Es ist für den Beobachter, gerade für einen Beobachter in der Verwaltung, nicht zu übersehen, daß hinter den hehren Wor­ten über Transparenz und Demokratie sehr rasch der Wunsch nach Disziplinierbarkeit sichtbar wird.

Der Vergleich zwischen Bezirksrichter und Verfassungsrichter, den Herr Kollege Mayer heute vormittag gebracht hat, ist wohl nicht ganz realistisch. Es gibt auch die Möglichkeit, Abhängig­keiten bei Personen geltend zu machen, die rechtlich unabsetzbar, unversetzbar sind und kurz vor der Pensionierung stehen. – Danke.

14.12


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Als nächsten Redner habe ich Herrn Dr. Fialka vorgemerkt. Er vertritt den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag. – Bitte.

14.12


Rechtsanwalt Dr. Georg Fialka (Österreichischer Rechtsanwaltskammertag): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zuerst Herrn Professor Morscher folgendes ent­gegnen: Die Rechtsanwälte sind nicht unbedingte und ihrer eigenen Meinung derart verbundene Vertreter, daß sie die “dissenting opinion” besonders dann gerne lesen wollen, wenn ihrer Be­schwerde nicht stattgegeben wurde, sondern es besteht eine sehr differenzierte und auch im Endergebnis eher ablehnende Haltung der Anwaltschaft gegenüber dieser Institution. – Darauf möchte ich später noch ganz kurz eingehen.

Was mich als Anwalt an den bisherigen Beiträgen etwas irritiert hat, ist der Umstand, daß an­scheinend der Beschwerdeführer zur Bedeutungslosigkeit verurteilt ist, daß er geradezu wie ein notwendiges Übel oder ein unvermeidbarer Auslöser subtiler juristischer Diskussionen angese­hen wird. Damit, so glaube ich, wird man dem Gerichtshof in seiner Bedeutung für den Staats­souverän – und das ist immerhin das Volk, und nicht die juristische Elite – nicht gerecht.

Was sonst dazu noch zu sagen wäre, ist vor allem, daß der einzelne – er ist es ja in der über­wiegenden Zahl der Fälle, der mit seiner Beschwerde eine Entscheidung herbeiführt bezie­hungsweise auslöst, wie auch die sich daran anknüpfende Diskussion – seine Sache gehört, geprüft und entschieden haben möchte, und das in möglichst angemessener Zeit.

Dieser einzelne hat nur ein sehr begrenztes Verständnis dafür, daß seine Sache zum Gegen­stand einer Art juristischen Egotrips einzelner Mitglieder des Gerichtshofes gemacht wird. Ich sage das sehr pointiert, ich bin mir dessen bewußt, daß ich mit dieser Bemerkung eine gewisse Exotenstellung einnehme.

Gemäß dem historischen Konzept des Verfassungsgerichtshofes sollte dieser von Beginn an sein Ohr dem Volkssouverän, dem Volk leihen. Das sieht man etwa an der Art, wie die erste Be­setzung des Gerichtshofes erfolgte. Aus dieser ist ableitbar, daß nicht juristische Liebhaberei, sondern eine Verbundenheit mit dem Volk Ziel der Entscheidungspraxis sein sollte.

Der Hüter der Verfassung sollte also dem Volk nahe sein, die Meinungsvielfalt, wie sie auch im Volk vertreten ist, sollte sich auch im Gerichtshof widerspiegeln, aber nicht in dem Sinne, daß sie sich dort gegenseitig konkurrenziert, sondern in der Form einer Integration. Man könnte das Motto “Integrieren statt abseits stehen” auch für die Judikatur des Verfassungsgerichts­hofes heranziehen.

In diesem Zusammenhang ist mir beim Durchlesen von Literatur ein Zitat von Thomas Jeffer­son, dem amerikanischen Staatsmann aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufge­fallen. Er hat folgendes gesagt: “An opinion is huddled up in conclave, perhaps by a majority of one, delivered as if unanimous, and with the silent acquiescence of lazy or timid associates by a crafty chief judge.” – Das heißt, wenn nur ein starker Vorsitzender vorhanden ist, dann mag auch ein mit bescheidenster Mehrheit zustandegekommener Beschluß so präsentiert werden, als wäre er einstimmig gefaßt worden. – Ich frage jetzt, ob jene Mitglieder eines Senates, die nicht in der Lage waren, in der Beratung ihre Meinung unterzubringen, dort überzeugend zu sein, dann die Courage haben werden, sich anschließend im Rahmen einer separate opinion” juristisch zu outen. – Ich persönlich bezweifle das.

In dem Beitrag von Professor Grabenwarter ist mir etwas aufgefallen, das, glaube ich, bisher un­beachtet blieb. Auf Seite 12 seiner schriftlichen Ausführungen zum Fall “Sunday Times” findet man folgen­des: Gegenstand des Verfahrens war, daß Journalisten, die über ein laufendes Ge­richtsverfah­ren im Zusammenhang mit einem Contergan-Prozeß berichtet hatten, wegen eines Delikts an­geklagt und verurteilt wurden, das im anglo-amerikanischen Raum geradezu die Ver­folgung eines Sakrilegs darstellt, nämlich contempt of court – Beeinflussung, Unterdrucksetzung des Gerichtes.

Ich glaube, Professor Mayer war es, der die kritische Auseinandersetzung mit gerichtlichen Akten und gerichtlichen Verfahren als Ausdruck demokratischer Gesinnung, demokratischen Kritikvermögens betrachtet hat. Das stimmt für den kontinentaleuropäischen Bereich durchaus, nur gibt es eben hier ein anderes System. Im anglo-amerikanischen Bereich gibt es auf der einen Seite die Richter mit ihrer weiten Diskretion, mit ihrer Möglichkeit, “dissenting opinions” ab­zugeben, aber sie sind auf der anderen Seite durch ein rigides System geschützt, das jede Form von contempt of court untersagt. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen.) Der kontinentaleuropäische Richter genießt diesen Schutz nicht.

Aus diesem Grund kann ich zusammenfassend aus der Sicht der österreichischen Anwälte sagen, daß wir gegen eine selektive Adaption einzelner Rechtsinstitute sind, die einer vorberei­tenden Integrierung bedürften, um sich in diese Rechtsordnung einfügen zu können. Derzeit be­steht dafür nach unserer Auffassung kein Bedarf. – Danke.

14.18


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Als nächster zu Wort gemeldet ist Herr Abge­ordneter Dr. Kier. – Bitte.

14.18


Abgeordneter Dr. Volker Kier (Liberales Forum): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte die Gelegenheit jetzt nützen, mitten in der Diskussion, unvorgreiflich der ab­schließenden Stellungnahmen, aus dem Bewußtsein, zwar kein wissenschaftlich Legitimierter, auch kein in den rechtsfreundlichen Berufen Arbeitender und auch nicht dem Stand der Richter Angehörender zu sein, aber doch als Jurist, der sich politisch betätigt, folgendes einzubringen:

Ich vermisse die klare Feststellung, daß es sich beim Verfassungsgerichtshof, als einer der Ge­richtshöfe des öffentlichen Rechtes, durchaus auch um eine politische Einrichtung handelt. Wer das Wort “Politik” allerdings grundsätzlich nur negativ konnotiert, der wird davor vielleicht zurückscheuen, wenngleich in den einzelnen Diskussionsbeiträgen durchaus Begrifflichkeiten wie “rechtspolitisch” gefallen sind. Ich meine, es ist eben in einer demokratisch verfaßten Ge­sellschaft wesentlich, sich zu überlegen, wie die Verhältnismäßigkeit der obersten Organe ist und wie die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes im politischen Raum stehen.

Wir bemühen uns hier um eine Meinungsbildung, um Erkenntnisgewinne im Zusammenhang damit, welche Aspekte von Transparenz und Plastizität eine “dissenting opinion” ermöglichen kann oder nicht. Das darf einfach nicht ausschließlich lokal gebunden diskutiert werden. Daher war ich auch froh darüber, daß wir Stellungnahmen von der Präsidentin des Deutschen Bun­desverfassungsgerichtes und dem Präsidenten des Schweizerischen Bundesgerichts hören konnten. In beiden Stellungnahmen ist eindeutig die große Öffentlichkeit der Abläufe zum Aus­druck gekommen. Der Kontrast zur Schweiz ist ja nur der, daß die Schweiz als eine alte und reife Demokratie frühzeitig erkannt hat, daß auch die Entwicklung der Entscheidungen selbst im öffentlichen Raum ablaufen muß und soll. Es war beeindruckend, unter diesem Gesichtspunkt das Referat des Herrn Dr. Müller zu verfolgen.

Dort – aber nur dort! – ist selbstverständlich eine “dissenting opinion”, die eine andere Form der Öffentlichmachung ist, nicht von dringlicher Bedeutung und auch rechtssystematisch schwerer unterzubringen. Aber in einem rechtspolitischen Raum wie in Österreich, in einem kontinental­europäischen Raum, der mit Deutschland durchaus vergleichbar ist, ist die Möglichkeit, zuzulas­sen, daß Minderheitsmeinungen auch öffentlich qualifiziert sichtbar gemacht werden können, jedenfalls auch im juristischen Sinn ein Fortschritt, weil mit einer Meinung unterlegen zu sein, dieselbe jedoch öffentlich zugänglich machen zu können, ist an sich nicht so schlecht, wie manche Diskussionsteilnehmer es versucht haben, darzustellen, sondern dadurch wird die Dreidimensionalität eines Ablaufes sichtbar.

Das mag jetzt die Wissenschaft erfreuen, manche mögen das sozusagen als billigen Rohstoff für eine höhere Anzahl von Publikationen betrachten. Ich sehe das nicht so, ich sehe das als wertvollen Rohstoff für ein mehrdimensionales Nachdenken; es ist jedoch natürlich ein undog­matischer Ansatz. Er geht nicht davon aus, daß Erkenntnisse eines Gerichtshofes des öffentli­chen Rechtes per se sakrosankt sind, sondern daß sie sich auch über ihre Qualität und insbe­sondere über die Qualität ihrer Begründungen legitimieren müssen.

Was an einem inhaltlichen Legitimationszwang bedenklich sein soll, weiß ich nicht. Ich hoffe, daß wir in der heutigen Diskussion noch Erkenntnisse gewinnen, damit ich meine “Einäugigkeit” ver­liere. Aber ich halte es nicht für einäugig, zu postulieren, daß die Notwendigkeit zur verbes­serten Qualität ein Rückschritt wäre und insbesondere eine Einfallschneise für Manipulation oder eine Gefährdung richterlicher Unabhängigkeit.

Richterliche Unabhängigkeit, die sich davor fürchtet, unter Begründungszwang zu kommen, macht mir mehr Sorgen als die Möglichkeit, daß sich tatsächlich anhand von zwei qualifizierten Begründungen – die eine, die in der Minderheit geblieben ist und die andere, die in der Mehrheit geblieben ist – eine Diskussion ergibt. Es stellt sich eben die Frage: Hält man eine Diskussion für etwas Förderliches in einer Gesellschaft – auch unter Fachleuten –, oder hält man sie für etwas, das zu unterdrücken ist? – Das ist natürlich wiederum eine politische Frage, das gebe ich zu.

Insofern ist der Verfassungsgerichtshof eben ein politisches Organ mit höchstem fachlichen An­spruch. Daher glaube ich, daß man sich darum nicht drücken und nicht so tun darf, als ob es eine politikfreie Rechtsprechung gäbe. Würden wir das glauben, dann müßten wir zum Rich­terstaat schwenken. Ich meine, das ist eine Alternative, die wir hier nicht diskutieren. Wir dis­kutieren in einer demokratischen Rechtsordnung, in einer Verfassung, die geordnet ist. – Je reifer eine Demokratie, desto weniger fürchtet sie sich vor der Wahrheit.

14.24


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Als nächster zu Wort gemeldet ist Herr Dr. Fessler. – Bitte.

14.24


Dr. Peter Fessler (Verfassungsgerichtshof): In den gehaltenen Referaten und auch in den zahlreichen Debattenbeiträgen wurde das Pro und Kontra zur Einführung einer “dissenting opinion” sehr ausführlich dargestellt. Ich glaube, dazu nichts weiter beitragen zu können. Ich meine nur, aus meiner 25jährigen Tätigkeit beim Verfassungsgerichtshof sagen zu können, daß mehr für als gegen die Einführung eines solchen Instituts spricht.

Vergleiche mit anderen Staaten sind sicher etwas fragwürdig, nur gerade der Vergleich mit Deutschland und der Schweiz ist bestimmt sehr sinnvoll, während der Vergleich mit den euro­päischen Gerichtshöfen in Straßburg und in Luxemburg nicht sehr viel weiter führt.

Es wurde schon gesagt: Die Rechtslage in der Schweiz, diese öffentliche Beratung, ist ja letzt­endlich ein Ersatz beziehungsweise kommt sie im Endeffekt aufs gleiche hinaus wie die schriftli­che Veröffentlichung einer abweichenden Meinung nach dem Urteil. Das Ziel ist das gleiche, der Weg ist anders. Wir haben von den Sprechern für Deutschland beziehungsweise für die Schweiz gehört, daß dies ganz gut beziehungsweise sehr gut funktioniert.

Ein Hauptargument gegen die Einführung der “dissenting opinion” war, daß man damit versucht werden könnte, Verfassungsrichter unter Druck zu setzen. Ich glaube nur, so kann man das wirklich nicht sehen. Ich meine, der Vergleich mit dem Bezirksrichter beziehungsweise mit ir­gendwelchen Verwal­tungsbeamten ist natürlich fragwürdig; auch der Einzelrichter muß aus der Anonymität heraus­treten und kann sich nicht hinter einer anonymen Institution verstecken, sondern muß sagen: Ich bin es, der entscheidet. Der Unterschied ist nur, daß der eine sich allenfalls eine Weisung holen kann, während der andere sagen kann: Machen Sie halt ein Rechtsmittel. – Letzten Endes muß er aber auch in der Öffentlichkeit dafür gerade stehen: Ich, Dr. Fessler, bin es, der es so meint.

Welcher Druck soll denn mit dieser Einrichtung bei der Absicherung, die der Verfassungsrichter hat, ausgeübt werden? – Ich komme aus der Verwaltung, und man könnte vielleicht meinen, daß ich von meinen früheren Ministern irgendwie unter Druck gesetzt beziehungsweise beein­flußt wor­den wäre. Ich kann Ihnen versichern: In all den 25 Jahren ist es nie auch nur versucht worden. Das kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre dann ein Fehler in der Auswahl. Ich kann mir ein­fach nicht vorstellen, daß sich ein Verfassungsrichter davor fürchtet und glaubt, er werde irgend­wie beschimpft – absetzen kann man ihn nicht – beziehungsweise gesellschaftlich oder in seiner Gruppe geächtet.

Ein zweites Argument noch aus der Erfahrung heraus: Ich glaube, man muß sehr wohl davon ausgehen, daß Verfassungsrichter – alle Richter, aber Verfassungsrichter im besonderen – ihre Tätigkeit ernst und maßhaltend im Sinne der Allgemeinheit ausüben und nicht, um sich selbst beziehungsweise aus eigener Geltungssucht heraus zu profilieren. Bei der zu erwartenden Maß­haltung – wie wir auch aus den Beispielen von Deutschland gehört haben – kann ich mir nicht vorstellen, daß die “dissenting opinion” so häufig ist, daß es dadurch zu einer Arbeitsüberlastung kommt.

Die Dinge, um die es geht, die wirklich wichtigen und interessanten Dinge – sei es aus poli­tischer oder rechtlicher Sicht – sind richtungsweisend. Darauf bereitet sich doch jeder Richter vor und macht ein Koreferat. Daß es durch die Arbeit, die in den paar Fällen entsteht, um das, was man gemeint hat, auszuführen, zu einer Überlastung des Verfassungsgerichtshofes kom­men könnte, kann ich mir nicht vorstellen.

Prognosen zu stellen, ist immer schwer. Ich glaube aber doch, daß es für einen Teil der Ent­scheidungen vielleicht bessere und ausführlichere Begründungen geben könnte. (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen.) Denn wenn man die “dissenting opinion” an­kündigt, wird man sich vielleicht damit intensiver beschäftigen.

Nur noch einen Satz: Wenn man die “dissenting opinion” einführt – ich glaube, das ist selbstver­ständlich –, dann müßte man die Pflicht haben, diese vorher anzukündigen, und es müßte eine Frist für deren Abgabe festgesetzt werden. – Danke schön.

14.30


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Nunmehr ist Herr Professor Dr. Öhlinger von der Uni­versität Wien zu Wort gemeldet. – Bitte.

14.30


Univ.-Prof. Dr. Theo Öhlinger (Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien): Herr Vorsitzender! Es ist wahrscheinlich bekannt, daß ich immer ein Befürworter der “dissenting opinion” war, und ich bin es auch nach der heutigen Diskussion, auch wenn ich durchaus einräume, daß mich manche Argumente – vor allem die geschlossene Ablehnung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs am Vormittag – durchaus nachdenklich gemacht, nicht aber zu einer ande­ren Meinung gebracht haben. Herr Dr. Fessler hat das jetzt ohnehin wieder etwas zurecht­gerückt.

Ich meine einfach, daß am Ende die positiven Argumente überwiegen werden. Ich weiß natür­lich, daß im österreichischen Klima eine Einflußnahme auf die Rechtsprechung alles andere als undenkbar ist, nur bin ich überzeugt davon, daß die Richter darauf die Antwort wissen werden und daß auf längere Sicht die Möglichkeit der “dissenting opinion” geradezu eine bereinigende Wirkung haben kann. Die Spekulationen, die es derzeit über Mehrheitsverhältnisse und ähnliche Dinge im Gerichtshof gibt, sehe ich jedenfalls negativer als eine klare Offenlegung.

Mich haben die Argumente von Frau Dr. Limbach absolut überzeugt, und ich sehe nicht, warum man das nicht in Österreich genauso argumentieren kann, zumal von allen Gerichten, die heute zur Diskussion, zum Vergleich angestanden sind, das deutsche Bundesverfassungsgericht je­nes ist, das in seiner Funktion und in seiner Konstruktion dem österreichischen Ver­fassungs­gerichtshof am ähnlichsten ist. Der Vergleich mit dem Europäischen Gerichtshof für Men­schenrechte ist sicher ein viel weiter herbeigeholter Vergleich, mit der Schweiz insofern, als man dort durch die Öffentlichkeit der Beratung das viel stärkere Instrument der Offenlegung hat, etwas, was wir in Österreich sicher nicht ernsthaft diskutieren werden.

Es wurde darauf hingewiesen, daß die kontinentalen Gerichte überhaupt, und damit eben auch die österreichischen, eine andere Funktion haben als jene im Common law, aus dem das Institut der “dissenting opinion” stammt. Das ist vollkommen richtig, mit einer Ausnahme, und zwar mit der des Verfassungsgerichtshofes. Denn es geht vor allem um die Funktion des Verfassungsge­richtshofes als Gesetzesprüfer. Das ist im übrigen eine Funktion, die aus dem amerikanischen Recht nach Europa importiert wurde. Das ist in Amerika entwickelt worden und war bis zum Jahre 1920 in Europa völlig undenkbar.

Diese Funktion ist eine andere als die bloße Streitentscheidung. Man braucht das nicht darzule­gen. Der Herr Präsident des Verfassungsgerichtshofes hat das auch mir gegenüber einmal sehr stark betont, daß Entscheidungen im Gesetzesprüfungsverfahren politische Implikationen haben – nur muß man in Österreich sofort dazusagen: das heißt natürlich nicht parteipolitische Implikationen. Ich sehe die “dissenting opinion” wahrlich nicht als ein Instrument, parteipolitische Polarisierungen entweder in den Gerichtshof hineinzutragen oder dort offenzulegen. Es geht um jenen Spielraum der Entscheidung, den gerade das Verfassungsrecht zwangsläufig durch seinen hohen Abstraktionsgrad offen läßt.

Kollege Korinek hat Beispiele des Verhältnisses EG-Recht–Verfassungsrecht gebracht. Gerade da hätte ich mir in der Tat manchmal eine Entscheidungsbegründung gewünscht, die die diffe­renzierten Möglichkeiten und Zugänge aufzeigt – nicht nur, weil ich es für einen Vorteil halte, daß eine Streitfrage ex cathedra ein für allemal entschieden wird, sondern auch, um die Ent­wicklungs­möglichkeit in diesen doch noch sehr zu diskutierenden Bereichen offenzuhalten. Ge­rade in die­sen Bereichen würde ich eine “dissenting opinion” begrüßen. Ich würde sie als pro­fessionell mit Verfassungsrecht befaßter Mensch begrüßen, ich würde sie aber auch als Staats­bürger bezie­hungsweise – wie es schon genannt wurde – als Mitglied der offenen Gesell­schaft der Verfas­sungsinterpreten begrüßen. Ich meine, dazu gehört zwar nicht ein Maximum an Transparenz, aber ein Maß an Transparenz, das mit der Funktion des Gerichtes durchaus kompatibel ist. Aus die­sem Grund bin ich davon überzeugt, daß die “dissenting opinion” im Prinzip eine positive Sache ist.

Mir ist klar, daß damit Arbeitsbelastung verbunden ist, aber das ist ein praktisches Problem, das man nicht über die “dissenting opinion” zu lösen hat, denn das ist ein Problem, das andere Dimensionen hat und daher auch auf andere Weise gelöst werden soll. – Danke.

14.35


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Als nächster zu Wort gemeldet ist Herr Dr. Jabloner. – Bitte.

14.35


a.o. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner (Präsident des Verwaltungsgerichtshofes): Herr Präsi­dent! Ich spreche aus meiner persönlichen Kapazität und nicht für den Verwaltungsgerichtshof. Ich trete insgesamt dafür ein, daß das fakultative Sondervotum beim Verfassungsgerichtshof eingeführt wird. Ich folge in den wesentlichen Elementen der Begründung den Professoren Mayer und Öhlinger und möchte nur zwei Punkte näher beleuchten.

Zum einen glaube ich, daß das “votum separatum” wirklich dazu dienen könnte, die Entschei­dun­gen transparenter und juristisch wertvoller zu machen. Gerade der Verfassungsgerichtshof be­ansprucht für sich große Entscheidungsressourcen. Die Erkenntnisse und Beschlüsse beru­hen oft auf verfassungsrechtlichen Überlegungen mit größter Tragweite sowie auf Wertungen.

Gerade jene Punkte, auf die es ankommt, nämlich die Weichenstellungen, die dort gegeben sind, wo der juristische Erkenntnisprozeß in den Entscheidungsprozeß umschlägt, gerade diese Punkte drohen in einer Urteilsbegründung unterzugehen. Sie werden juristisch oder pseudojuri­stisch camoufliert, auch wenn das nicht die Absicht ist.

Weiters besteht in einem kollegialen Spruchkörper die Tendenz, letztlich doch einstimmige Ur­teilsbegründungen zu finden. Das ist auch ein Ergebnis des Stare-Decisis-Prinzips. Ich meine, daß man Gefahr läuft, daß man in diesem Subtraktionsprozeß, bei dem die Begründung dann immer dünner wird, gerade die entscheidenden Passagen wieder herausstreicht. Ich meine also, daß es wirklich – und zwar schon präventiv – die Qualität verbessern könnte, wenn man das Sonder­votum einführte.

Zweitens: Die Frage ist naheliegend, ob man das auch beim Verwaltungsgerichtshof haben will. Ich bin grundsätzlich und wohl im Gegensatz zur Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungsge­richtshofes, wie ich vermute, der Meinung, daß auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit damit aus­gestattet werden sollte, allerdings erst eine reformierte Verwaltungsgerichtsbarkeit, die sich auf grundsätzliche Rechtsfragen beschränken könnte. In diesem Punkt – aber nur in diesem Punkt – bin ich mit meinem Vorredner, Dr. Heller, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, einer Meinung. – Danke.

14.37


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Zu Wort gemeldet ist nun Professor Adamo­vich. – Bitte.

14.37


o. Univ.-Prof. Dr.DDr. h.c. Ludwig Adamovich (Präsident des Verfassungsgerichtshofes): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst meiner Genugtuung darüber Aus­druck verleihen, daß diese Enquete stattfindet. Der bisherige Verlauf zeigt sehr deutlich, daß ihre Abhaltung überaus zweckmäßig war, weil sie geeignet ist, ein sehr schwieri­ges und bisher sicher nicht frei von Emotionen diskutiertes Thema zu objektivieren.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist ohne Zweifel eine echte Gerichtsbarkeit, eine unabhängige Gerichtsbarkeit, aber sie ist keine Gerichtsbarkeit in dem Sinne, wie es die ordentliche Gerichts­barkeit ist. Das zeigt sich allein schon aus der Tatsache, daß die Richter des Verfassungsge­richtshofes keine Berufsrichter sind und daß sie in einem anderen Verfahren ins Amt berufen werden als die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Ich lasse jetzt den Sonderfall der Ver­waltungsgerichtsbarkeit ganz bewußt beiseite.

Ich möchte sagen, ich kenne kein europäisches Verfassungsgericht, speziell als Verfassungsge­richt eingerichtetes Gericht, bei dem der Bestellungsmodus so wäre wie in der ordentlichen Ge­richtsbarkeit. Das schließt allerdings die Unabhängigkeit absolut nicht aus. Ich möchte das mit Nachdruck betonen. Wäre es anders, dann gäbe es bestimmte Konflikte gar nicht.

Die Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit bewegt sich, um das ganz allgemein auszu­drücken, im staatspolitischen Raum. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß in dieser Judikatur Wertungen eine sehr große Rolle spielen. Diese Wertungen befinden sich jeweils an der Schnittstelle zwischen dem politischen und dem juristischen Bereich. Eine exakte Trennung ist nicht möglich.

Ich stimme den Kollegen Walter, Mayer und Öhlinger, die sich im Prinzip für die Einführung der “dissenting opinion” beim Verfassungsgerichtshof aussprechen, zu. Insbesondere im Bereich der Grundrechtsinterpretation spielen ja diese Wertungen eine sehr, sehr große Rolle. Der Be­griff des negativen Gesetzgebers – dort, wo der Verfassungsgerichtshof Gesetze auf­hebt – zeigt ja sehr deutlich, wo das Problem liegt.

Das Beispiel Schweiz ist zwar eindrucksvoll, aber dort ist die Situation in Folge der öffentlichen Beratung von vornherein eine ganz andere; auch das Beispiel der internationalen Gerichte ist nicht unbedingt zur Widerlegung geeignet, weil es sich dabei um anders konstruierte Gerichte handelt.

Allerdings, und damit muß ich nun die Kurve nehmen, gibt es sehr schwerwiegende Argu­men­te – wir haben sie bereits gehört – gegen die Einführung der “dissenting opinion”. Ich möchte das jetzt im einzelnen absolut nicht wiederholen, ich möchte jedoch sehr wohl folgendes zum Ausdruck bringen: Beim deutschen Bundesverfassungsgericht war die Einführung der “dis­senting opinion” ja keineswegs unbestritten.

Ich entnehme einem Aufsatz von Faller, der unter dem Titel “Beratungsgeheimnis und Dis­sen­ting Vote” in der Nummer des “Deutschen Verwaltungsblattes” vom 15. September 1995 er­schienen ist, daß sich im Jahre 1967 das Plenum des Bundesverfassungsgerichts mit neun zu sechs Stimmen für die Einführung eines Sondervotums ausgesprochen hat. Ich entnehme demselben Artikel folgenden Satz – ich zitiere wörtlich –: Den endgültigen Durchbruch schaffte schließlich eine gemeinsame Sitzung der Mitglieder des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages mit Richtern des Bundesverfassungsgerichts am 23. April 1970 in Karlsruhe. – Zitatende. Ich gebe das wieder und gehe davon aus, daß es den Tatsachen entspricht.

Von dieser Situation sind wir in Österreich – wie der Verlauf der Diskussion gezeigt hat – sehr, sehr weit entfernt. Ich muß das gar nicht länger darlegen, weil die bisherigen Redebeiträge gerade aus dem Kreis der Kollegen des Verfassungsgerichtshofes für sich sprechen.

Ich kann es nicht für richtig finden (Vorsitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glocken­zeichen), obwohl ich meine persönliche Auffassung dargelegt habe, daß man einem Gerichts­hof, der in seiner Mehrheit gegen die Einführung des “dissenting vote ist, eine solche Institution ge­wissermaßen oktroyiert. – Danke.

14.42


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Nächster Redner ist Herr Professor Dr. Bin­der. – Bitte, Herr Professor.

14.42


Univ.-Prof. Dr. Bruno Binder (Institut für Verwaltungsrecht, Universität Linz): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich möchte der Debatte noch einige Punkte anfügen.

Punkt eins: Ich halte die Frage, ob eine abweichende Meinung veröffentlicht wird oder nicht eigentlich für keine entscheidende Frage. Das Wohl und Weh der Verfassungsgerichtsbarkeit hängt davon nicht ab. Es gibt, das wurde schon ausgeführt, sehr viel wichtigere Probleme der Reform der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts.

Ich wage auch die These, daß, wenn es zur Einführung dieser Möglichkeit kommt, die Ver­fas­sungsgerichtsbarkeit weder besser noch schlechter und die Verflechtung des Gerichtshofs mit der Politik weder mehr noch weniger werden wird.

Punkt zwei: Das eigentliche Thema – und das ist ein wichtiges Thema – ist die Frage: Wieviel Transparenz benötigt der Staat, benötigt die Justiz, und wieviel Transparenz schadet dem Staat beziehungsweise der Justiz? – Das ist die eigentliche Frage, um die es geht, und diese Frage ist eine allgemeine Frage, die für die Justiz insgesamt gestellt werden müßte. Daher ist für mich nicht ganz nachvollziehbar, warum sich die gegenwärtige Debatte ausschließlich und nur auf den Verfassungsgerichtshof konzentriert. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die gleichen Argu­mente nicht für den Obersten Gerichtshof gelten sollten, warum die gleichen Argumente nicht für den Verwaltungsgerichtshof und im übrigen auch für die anderen Gerichte gelten sollten, wobei ich anmerken möchte, daß wir naturgemäß den Einzelrichtern ja ohnedies die totale Transparenz zumuten. Erst bei Kollegialentscheidungen – das ergibt sich sozusagen auch aus der Natur der Sache – entsteht das Problem überhaupt, über das wir hier reden.

Punkt drei: Wenn man also diese Frage nicht allgemein erörtert – was ich bedauere –, sondern nur auf den Verfassungsgerichtshof bezieht, dann muß doch die Begründung, warum so etwas einzuführen ist, aus der Besonderheit des Verfassungsgerichtshofs erfolgen. Daher sollte man die Argumente trennen, und zwar in solche, die allgemein für oder gegen die Transparenz in der Justiz sprechen, und in solche, die sich aus der Besonderheit des Verfassungsgerichtshofs in seiner ganz bestimmten Ausformung der österreichischen Verfassung ableiten lassen.

Wo könnten nun die Besonderheiten liegen? – Es wurde bereits angedeutet: Eine der Besonder­heiten sind natürlich die besonderen Aufgaben, speziell im Normenkontrollverfahren, was aber schon den Hinweis erlaubt, daß möglicherweise eine Beschränkung der Veröffentlichung abwei­chender Meinungen auf diese Verfahren nicht unsinnig wäre. Diese wichtigen Aufgaben mögen es rechtfertigen, Transparenz zu verlangen. Meine Kritik am vorgeschlagenen Weg, ab­weichende Meinungen zu veröffentlichen, besteht darin, daß die Veröffentlichung der abwei­chenden Meinung die Transparenz ja nicht herstellt. Das geht doch am Thema vollkommen vorbei. Wenn man Transparenz haben will, dann will man wissen, wer wie gestimmt hat. Das ist Transparenz.

Außerdem ist es interessant, wie die Mehrheit zustande gekommen ist. Die “dissenting opinion” beschreibt ja, wie sich ein Unterlegener fühlt. Das heißt, der Nebel wird bunter, aber der Nebel wird nicht gelichtet. Insofern glaube ich, daß das einfach ein falscher Ansatz ist. Aus historischer Sicht, um auf die deutschen Verhältnisse zurückzukommen, meine ich: Das war ja damals in Wirklichkeit ein Kompromiß zwischen dem Standpunkt, man möge Transparenz schaffen, und dem Standpunkt, daß das die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vertrage. Die “dissenting opinion” ist dann als politischer Kompromiß herausgekommen.

Also ich zweifle sehr daran, ob es sinnvoll ist, nicht eine wirkliche Debatte zu führen, sondern vielmehr in eine Alibiaktion abzuweichen und zu sagen: Wir haben das Problem der Transpa­renz gelöst, wenn ein Richter nach eigenem Belieben, wenn er es eben gerade für richtig hält, einmal dagegen schreibt. Insofern glaube ich, daß die Vorlage nicht geeignet ist.

Vierter Punkt: Es wurde gesagt, es sei eine Frage der Qualität und die Wissenschaft werde da­von profitieren. Ich meine, daß das wieder ein Argument ist, das für alle Gerichte gilt, also das ist kein Spezifikum der Verfassungsgerichtsbarkeit. Ich meine außerdem, daß die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs die Möglichkeit, am wissenschaftlichen Diskussionsprozeß teilzuneh­men, auch sonst haben. Manche von ihnen sind ja auch Hochschullehrer; ich sehe also nicht, was das zusätzlich bringen soll. Auch die Erfahrung in Deutschland zeigt, daß die Wissenschaft dies zwar mit Interesse wahrnimmt, die wissenschaftliche Diskussion jedoch sicher nicht von den abweichenden Meinungen des Verfassungsgerichts abhängt.

Ein weiterer Punkt, und der scheint mir der entscheidende Punkt zu sein: Die Sonderstellung des Verfassungsgerichtshofs besteht auch darin, daß er eben ein politisches Gericht ist (Vor­sitzender Präsident Dr. Neisser gibt das Glockenzeichen) und daß die Zusammensetzung poli­tisch ist. Und das ist der entscheidende Punkt: Auf der einen Seite gibt es eine politische Nähe, auf der anderen Seite will man die Unabhängigkeit der Person. Wenn man die Unabhängigkeit der Person will, dann muß man alles vermeiden, was irgendwie in die Richtung einer Pression geht.

Einen letzten Punkt möchte ich noch anführen: Im Gesetzgebungsverfahren sollte man auch über Alternativen nachdenken. Wenn klar auf dem Tisch liegt, was man denn überhaupt mit die­ser gesetzlichen Lösung erreichen will, dann könnte man auch darüber nachdenken, ob es nicht andere Varianten gibt, wie etwa Begründungen zu verbessern, an der Begründungspflicht zu for­mulieren und dergleichen. – Danke.

14.49


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Ich erteile jetzt Herrn Professor Oberndorfer, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, das Wort. – Bitte.

14.49


o. Univ.-Prof. Dr. Peter Oberndorfer (Verfassungsgerichtshof): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich spreche gegen die Einführung eines Sonder­votums beim Verfassungsgerichtshof, weil ich glaube, daß man – und das ist ja in vielen Rede­beiträgen bereits angeklungen – auf die konkrete Organisation, die Arbeitsweise, die Aufgaben­stellung und nicht zuletzt den Rechtsprechungsstil eines Gerichtes entsprechend Rücksicht neh­men muß, ehe man so etwas erwägt. Allein deswegen habe ich die weitgehend von Emotionen getra­genen Ausführungen des Herrn Kollegen Mayer nicht recht verstehen und nicht nachvoll­ziehen können. Bezeichnenderweise hat er das für alles schlechthin gefordert.

Die Besonderheit des österreichischen Verfassungsgerichtshofes – Herr Präsident Adamovich hat es erwähnt – besteht unter anderem darin, daß die Verfassungsrichter Richter im Nebenamt sind, daß sie also weiterhin Rechtsanwälte, Richter an anderen Höchstgerichten, Universitäts­professoren und Verwaltungsbeamte sind, lediglich als Verwaltungsbeamte werden sie außer Dienst gestellt.

Diese Vielfalt der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein von vornherein gezieltes und geplantes Ergebnis und soll und kann nicht verändert werden. Der Verfassungsgesetzgeber hat sich da in einer sehr sinnvollen Weise festgelegt, und das bringt der österreichischen Ver­fassungsgerichtsbarkeit unglaublich viel, wie ich meine.

Das bedeutet aber natürlich auch, daß die Arbeitskapazität entsprechend zweckmäßig zu pla­nen und zu organisieren ist. Kollege Heller hat darauf hingewiesen, wieviel der österreichische Verfassungsgerichtshof jetzt schon leistet, und die Damen und Herren Parlamentarier wissen und kennen das ja aus den jährlichen Tätigkeitsberichten, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, die sie auch beraten. Das schließt eine Mehrbelastung aus, es sei denn, sie geht auf Kosten der Entscheidungsdauer. Was die Damen und Herren Rechtsanwälte dazu sagen, wurde ja auch bereits diskutiert. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind noch immer primär für die Parteien des verfassungsgerichtlichen Verfahrens gezielt und bezweckt und nicht für sonstige Stellen.

Zum Argument, daß der Verfassungsgerichtshof ja letztlich auch ein politisches Organ sei: Alle von der Verfassungsrechtsordnung vorgesehenen Organe sind letztlich in gewisser Weise poli­tische Organe. Wenn damit aber ausgesagt werden soll, daß der rationale Diskurs im Verfas­sungsgerichtshof so geschehen soll wie in einem Parlament, so muß ich dem heftig widerspre­chen. Ich glaube, der parlamentarische Prozeß hat seinen Eigenwert und ist sinnvoll und wichtig und muß auf einer möglichst großen Offenlegung von entsprechenden Argumenten, Meinungen und Auffassungen beruhen. Hingegen stützen sich die Begründungen des Verfassungsgerichts­hofes auf Beratungen, die in einer sehr differenzierten Art und Weise ablaufen. In einzelnen Redebeiträgen – bei Herrn Kollegen Schäffer und auch bei Herrn Kollegen Liehr ist das schon angeklungen –: Wir müssen aufgrund des Stante-Concluso-Prinzips beraten, das heißt, wir müssen von Teilergebnissen ausgehen und von dort aus fortschreiten; das erschwert zumindest ein Minderheitsvotum ganz beträchtlich.

Das drückt sich nicht zuletzt darin aus, daß der Verfassungsgerichtsbarkeit zweifellos – wie jeder höchsten Gerichtsbarkeit – eine einheitsstiftende Funktion in der Rechtsordnung zukom­men muß. Ich meine, die ständige Rechtsprechung ist etwas sehr wichtiges. Soweit ich es nicht schon gewußt habe, war das erste, das ich lernen mußte, als ich vor elf Jahren in den Verfas­sungsgerichtshof kam, daß ein Verstoß als Referent gegen die ständige Rechtsprechung eine Sünde wider den Geist ist.

Diese Berechenbarkeit der Verfassungsjudikatur ist sehr wichtig, und daher halte ich es auch für ein eher romantisches Gerichtsverständnis, zu sagen, die Minderheitsmeinung – wenn das einer der “great dissenters” war; darüber gibt es natürlich Bücher in den USA – hat plötzlich die Chance, zur Mehrheitsmeinung zu werden. Also ich bin noch immer der Meinung: Sollte ein ent­sprechender verfassungsrechtlicher Grundsatz, eine entsprechende verfassungsrechtliche Aus­sage, nicht mehr die Auffassung der Mehrheit des Volkes finden, dann wird eben der Verfas­sungsgesetzgeber entsprechende Richtmarken zu setzen haben – er tut es ja nicht allzu selten. – Soweit diese meine Bemerkungen.

Ich glaube daher nicht, daß man auf diesen Zug der Zeit, falls es einer sein sollte, wirklich auf­springen sollte.

14.52


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Zu Wort gelangt jetzt Herr Rechtsanwalt Dr. Noll, der für die heutige Enquete vom Parlamentsklub der Grünen nominiert wurde. – Bitte, Herr Doktor.

14.52


Rechtsanwalt Dr. Alfred Johannes Noll: Herr Vorsitzender! Wie die meisten wissen, versuche ich seit Jahren mit Wort und Tat – soweit das geht – für die Einfüh­rung des “votum separatum” einzutreten. Mit besonderer Spannung habe ich deshalb heute erwartet, welche Gegenargu­mente hier vorgelegt werden; sie sind zum Teil natürlich sehr ge­wichtig. Ich meine trotzdem, daß in der Gesamtheit die besseren Gründe dafür sprechen, die “dissenting opinion” auch beim österreichischen Verfassungsgerichtshof einzuführen.

Ich erlaube mir, das in fünf Punkten zusammenzufassen und nehme dabei gleichzeitig die Mög­lichkeit wahr, gegenüber meinem Standesvertreter eine “dissenting opinion” abzulegen, denn es ist keineswegs ausgemacht, daß die Rechtsanwaltschaft insgesamt hier die eine oder die andere Meinung vertritt. Es haben eben die Funktionäre der Kammer das Wort ergriffen, das möchte ich ganz deutlich sagen.

Erstes Argument für das “votum separatum”: Ich meine, die Einführung der “dissenting opinion” markiert einen qualitativen Sprung von der Anonymität zur Transparenz: Aus einem ganz amorphen Spruchkörper wird ein Gremium von Individuen. Ich meine, das ist einerseits tatsäch­lich ein Zug der Zeit, andererseits auch ein demokratiepolitisches Gebot, daß jene Leute, die Entscheidungen treffen, mit ihrem Namen, mit ihrer Person insgesamt hinter dieser Entschei­dung stehen können.

Zweites Argument: Die Abgabe des “votum separatum” macht die Rechtsprechung insgesamt an­schaulicher, nachvollziehbarer und volksnäher und nimmt ihr – und das ist wahrscheinlich das wesentlichste Argument – diesen Nimbus der Unfehlbarkeit. In immer mehr Fällen und Entschei­dungen ist es durchaus vertretbar zu sagen: Es hätte auch anders entschieden werden können, und das ist ein ganz wesentliches Argument für die Nachvollziehbarkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Das sage ich nicht zuletzt als Parteienvertreter, der ja seinen Mandanten und der rechtsuchenden Bevölkerung erklären muß, wie ein Gericht zu einer bestimmten Entschei­dung gekommen ist – und das ist meines Erachtens ein ganz wichtiges Argument. Die Einfüh­rung des “votum separatum” nimmt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung diesen falschen Nimbus, der ja für die Insider ohnedies nicht besteht, aber trotzdem nach außen transportiert wird.

Drittes Argument für die Einführung: Ich meine, daß die Abgabe einer abweichenden Meinung es erst möglich macht, daß man im Kontext des Urteils überhaupt die Spannbreite der strittigen Rechtsfragen wirklich auf den Tisch gelegt bekommt, zumindest für die Betrachtung von außen. Das mag in der Beratung der Richter selbst natürlich ganz anders sein, weil dort die Argumente auf den Tisch gelegt werden, nach außen fördert erst die Abgabe eines “votum separatum” die Plausibilität des Urteils und ermöglicht dadurch auch öffentliche demokratische Kontrolle – Kon­trolle nicht im parteipolitischen Sinne, sondern Kontrolle durch das juristische, in immer mehr Fällen auch durch das rechtspolitische Argument.

Viertes Argument: Die Abgabe einer abweichenden Meinung setzt die Mitglieder des VfGH bei der Urteilsberatung unter einen, wie ich meine, durchaus heilsamen Sachzwang und optimiert die Interaktion in Kollegien. Das ist natürlich kein juristisches Argument, aber es ist ein allge­meiner Erfahrungssatz aus der Organisationssoziologie: Wo einer der Diskutanten – jetzt sage ich es einmal sehr salopp – damit drohen kann, seine abweichende Meinung nach außen zu kommunizieren, steigt im Regelfall der Druck, sich innen ins Einvernehmen zu setzen.

Letztes Argument: Die “dissenting opinion” fördert insgesamt den Rechtsfrieden. Die unterlegene Partei und ihre Anhänger müssen ihre Ansichten nicht für gänzlich absurd halten, wenn sie von einigen RichterInnen geteilt werden. Auch das ist meines Erachtens ein ganz wesentliches Argument.

Wenn ich diese Argumente den Argumenten gegenüberstelle, die heute gegen die Einführung der “dissenting opinion” vorgebracht worden sind, meine ich abschließend –mit einer einzigen Ausnahme, zu der ich gleich kommen werde –, daß es hoch an der Zeit ist, die “dissenting opinion” einzuführen.

Dieses letzte und gravierendste Gegenargument ist die von Kollegen Heller angeführte Arbeits­belastung des VfGH und seiner Mitglieder. Ich meine, alle theoretischen, alle politischen, alle juristischen Argumente zerschellen an der Klippe der Praktikabilität, wenn es nicht machbar ist. Ob es machbar ist – vom Arbeitsaufwand, von der Arbeitsbelastung her –, darüber muß man sich sehr wohl insbesondere natürlich mit dem VfGH selbst ins Einvernehmen setzen, und dann ist die Politik gefordert, die entsprechenden Arbeitsbedingungen zu schaffen. Das ist eine Frage, die natürlich das Parlament in nächster Zeit angehen wird. – Danke.

14.58


Vorsitzender Präsident Dr. Heinrich Neisser: Ich erteile jetzt Herrn Universitätsprofessor Dr. Barfuß das Wort, der vom ÖVP-Parlamentsklub für die heutige Enquete nominiert wurde. – Bitte.

14.58


Univ.-Prof. DDr. Walter Barfuß (Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein Hauptberuf ist Rechtsanwalt, ich kann dennoch dem “votum separa­tum", insbesondere beim Verfassungsgerichtshof, nichts abgewinnen. Dazu einige ganz pragma­tische Bemerkungen – vieles davon ist nicht neu, vieles haben wir heute schon gehört und bereits vor Jahren gewußt und gelesen. (Präsident Dr. Brauneder übernimmt den Vorsitz.)

Der Verfassungsgerichtshof ist ein Gericht, das Rechtsfragen entscheidet – Rechtsfragen, die zwischen Parteien streitig sind. Der Verfassungsgerichtshof bildet einen einheitlichen Spruch­körper, er ist kein allgemeiner oder besonderer Vertretungskörper. Ich sehe daher keinen prakti­schen Sinn darin, quasi einen engeren Spruchkörper einzuführen.

Schon in meiner Jugend, muß ich langsam aber sicher sagen, haben mich Senatsmitglieder von ordentlichen Gerichten sehr irritiert, die mehr oder minder offen nachher sagten: Ich war ja ohnehin dagegen, aber leider bin ich überstimmt worden, meine Argumente waren ja viel besser. – Ich habe das immer als sehr unangenehm empfunden, und ich glaube, daß ich da nicht nur in guter Gesellschaft war, sondern auch heute noch in guter Gesellschaft bin.

Es steht jedem Richter, insbesondere auch jedem Verfassungsrichter, frei – völlig frei! –, seine Meinung qualifiziert, gescheit, wortreich und gewichtreich in die Beratung einzubringen. Es steht ihm frei, einen Gegenentwurf zu verfassen, es steht ihm frei, sich in der Literatur zu äußern – das alles geschieht ja auch tatsächlich –; ich frage mich, warum man ein Nebenurteil, das rechtsunerheblich ist, braucht, das aber doch gewisse faktische Wirkungen hat.

Ich bin auch davon überzeugt, daß die Möglichkeit des “votum separatum” – zumindest da oder dort – dazu führt, daß die Bereitschaft, an konsensualen Lösungen mitzuwirken, sinkt. Man muß sich vorstellen, daß insbesondere der Verfassungsgerichtshof nicht zuletzt deswegen manches Mal seine Begründungen nicht so verfaßt und nicht so hält, daß es allen Professoren und Wissenschaftern gefällt. Der Verfassungsgerichtshof weiß sehr genau, was alles fehlt und was man noch hineinschreiben könnte. Aber, meine Damen und Herren, man muß ja zu Mehrheiten kommen, das darf man nicht vergessen. Jede Entscheidung in einem Kollegium ist der kleinste gemeinsame Nenner.

Den Arbeitsaufwand möchte ich überhaupt nicht geringschätzen. Es ist ja nicht damit getan, daß sich der eine oder andere Richter hinsetzt und seine abweichende Meinung diktiert, sondern das muß auch noch administriert werden – das nur als kleiner Hinweis.

Unsere Bundesverfassung kennt Regeln über die Vorschlags- und Bestellungsmodalitäten der Verfassungsrichter. Ich meine, daß diese Regeln – diese sind selbstverständlich politisch orien­tiert, und es wäre naiv, zu meinen, das habe mit Parteipolitik nichts zu tun – auf Ausgleich hin verfaßt worden sind, sodaß es darum geht, ein möglichst mehrheitliches, ein möglichst trag­fähiges Urteil zu bekommen. Das ist nur möglich, wenn Konsens gefragt und angesagt ist und wenn Konsens geübt wird. Ein Hinaustragen der Argumente – das wurde heute auch schon gesagt – nach der Art eines Parlaments ist – das ist meine persönliche Meinung, und auch damit stehe ich nicht allein – nicht etwas, was einem Gericht gut ansteht.

Noch etwas: Österreich ist ein sehr kleines Land. Jeder kennt jeden, viele sind miteinander per du. Sie lachen darüber, aber es ist so, und Sie wissen, daß es so ist. Ich meine, daß hier Loyalitäten in dieser oder jener angemessenen – ich sage gar nicht: unangemessenen – Form eingefordert werden, das ist für mich evident. Ich glaube nicht, daß es anders ist. Das ist für den Betroffenen unangenehm, und man soll einen Verfassungsrichter oder überhaupt einen Richter nicht in unangenehme persönliche Situationen bringen. Die Antwort: Das ist ein “schöner” Rich­ter, der sich so in die Pflicht nehmen läßt! befriedigt mich nicht. Denn ich glaube zu wissen, daß es – ich spreche jetzt ganz allgemein von der Justiz – auch Richter gibt, die – der Sache nicht dienlich, sondern ganz anders reagieren, nämlich bösartig, meine Damen und Herren! Das ist auch nicht der Sinn der Sache. (Vorsitzender Präsident Dr. Brauneder gibt das Glocken­zei­chen.)

Ich bin also gegen den freiwilligen Offenbarungseid. Herr Kollege Professor Binder hat es mir eigentlich vorweggenommen: Ich habe mich gefragt, was transparenter werden soll, das Stimm­verhalten und der Gedankenreichtum des Sondervotanten. – Danke.

15.03


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Danke.

Meine Damen und Herren, ich bin auch gerne dazu bereit, schon nach 3 Minuten das Glocken­zeichen zu geben.

Das ist nicht gewünscht? – Gut.

Weiters steht jetzt Herr Professor Dr. Duschanek auf der Rednerliste; er wurde vom ÖVP-Parlamentsklub nominiert.

15.03


Prof. Dr. Alfred Duschanek (Wirtschaftskammer Österreich): Meine Damen und Herren! Ge­statten Sie, daß ich in diese Diskussion auch einige Überlegungen aus dem Blickwinkel der Wirtschaftstrei­benden einbringe, also einer nicht ganz unbedeutenden Gruppierung von Rechts­unterworfenen. Sie mögen mir nachsehen, daß ich dazu als Kammervertreter sprechen muß, wie das eben unserem politischen System in Österreich entspricht. Ich denke, gerade auf die Perspektiven der Rechtsunterworfenen wurde in dieser vielschichtigen Diskussion noch eher wenig eingegangen. Herr Dr. Fialka hat in dieser Hinsicht vielleicht schon einiges angesprochen.

Es hat in der bisherigen Diskussion jede Menge von Pro-Argumenten gegeben – ich brauche gar nichts davon zu wiederholen –, die alle wieder von anderen Stellungnahmen widerlegt wor­den sind. Aber ich denke doch, daß einem Ergebnis, einer Perspektive bisher noch nicht wider­sprochen worden ist, nämlich derjenigen, daß speziell bei knappen Abstimmungsergebnissen in politisch brisanten Fragen auch mit einer besonderen Intensivierung der öffentlichen Diskus­sionen zum betreffenden Thema gerechnet werden muß – auch wenn man selbstverständlich zustimmen muß, daß bei bestimmten Themen, unabhängig von der Einführung von Sonder­voten, eine Diskussion nicht zu vermeiden sein wird.

Ich meine, man muß klar sehen, daß in Fällen von knapper Mehrheitsfindung im Verfassungs­gerichtshof die Auseinandersetzungen in der Fachöffentlichkeit nicht abreißen würden. Die Ent­scheidung würde die Diskussion nicht abschließen, sie würde nicht Rechtsfrieden und Rechts­sicherheit stiften, sondern sie würde die Verfechter der unterlegenen Position geradezu dazu ermutigen, weiterhin aktiv zu bleiben, um anknüpfend an die “dissenting opinion” anläßlich einer neuerlichen Befassung des Gerichtshofes mit diesem Thema vielleicht doch noch einen Mei­nungs­umschwung zu erreichen. Auch wenn die Wirtschaftskreise selbstverständlich fallweise an einer Revision bestimmter wirtschaftsrelevanter Judikatur interessiert sein sollten, müßte es doch in unserem rechtsstaatlichem System dem Gesetzgeber überlassen bleiben, den Fortgang der Rechtsentwicklung zu bestimmen.

Eine solche Situation perpetuierter Ungewißheit kann nicht im Interesse der Wirtschaftstreiben­den gelegen sein, vor allem dann nicht, wenn diese Ungewißheit beziehungsweise Unsicherheit wesentliche rechtliche Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Betätigungen betrifft. Wie schon in der Studie des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen zum Wirtschaftsstandort Österreich und in der Folge in weiteren Untersuchungen herausgearbeitet wurde, werden die Vorherseh­barkeit und die Berechenbarkeit behördlicher Entscheidungen als wesentliche Kriterien für die Effizienz der öffentlichen Verwaltung und damit für die Qualität des Wirtschaftsstandortes Öster­reich im internationalen Wettbewerb angesehen. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß andauernde Diskussionen über die mögliche Entwicklung und Beeinflußbarkeit der VfGH-Judi­katur in wichtigen wirtschaftsrechtlichen Verfassungsfragen diesen Zielen abträglich wären.

Ich glaube schon, daß das lustvolle Zerpflücken von Begründung und “dissenting opinion” ein Fressen für die Rechtswissenschaft sein könnte, wie einer der Referenten es heute schon drastisch formuliert hat. Ich glaube auch, daß eben das Gegenüber von Begründung und Kontraposition reizvolles Argumentationsmaterial für die politische Diskussion liefern könnte. Die Wirtschaft kann diesem Vergnügen nichts abgewinnen. Sie braucht für ihre Investitionsentschei­dungen, die letztlich für den Wohlstand unserer Gesellschaft bestimmend sind, Berechenbarkeit und Sicherheit über die maßgeblichen Inhalte der Rechtsordnung.

Ich muß wohl auch nicht besonders betonen, daß derselbe Einwand auch für mögliche Verfah­rensverlängerungen gilt, die infolge des vermehrten Arbeitsaufwandes durch Ausformulierung der Sondervoten ohne personelle Aufwandsmaßnahmen entstehen würden. (Vorsitzender Präsi­dent Dr. Brauneder gibt das Glockenzeichen.)

Damit bin ich auch schon am Ende meiner Ausführungen. – Danke.

15.08


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Danke.

Weiters zu Wort gemeldet ist Herr Abgeordneter Jung. – Bitte, Herr Abgeordneter.

15.08


Abgeordneter Wolfgang Jung (Freiheitliche): Herr Präsident! Gestatten Sie mir eine Anmer­kung zu diesem Themenbereich als einem der wenigen Nichtjuristen, der im politischen Bereich damit konfrontiert ist. Ich denke – deswegen habe ich mich zu Wort gemeldet –, daß das – auch wenn es ketzerisch klingt – weniger eine juristische als eine politische Frage ist, und das sogar in erster Linie. Hier gilt es, Plus und Minus abzuwägen. Ich möchte zu den drei wichtigsten Minus-Punkten kurz Stellung nehmen.

Das eine ist die Arbeitsbelastung. Ich denke, das kann nicht das Kriterium sein. Wenn das der Fall ist, müssen dafür andere Auswege gefunden werden. Das zweite ist die Frage der mög­lichen politischen Einflußnahme und des Drucks. Dieser wurde geleugnet, allerdings haben manche dabei geschmunzelt. Ich denke auch, daß das eine Realität ist und daß es einem Faktum entspricht. Wenn man selbst eine Position innehat, ist allein schon dadurch, daß je­mand zum Beispiel 30 Jahre lang in einem politischen System groß geworden ist, auch die Gefahr des vorauseilenden Gehorsams psychologisch gegeben.

Es wurde vom freiwilligen Offenbarungseid gesprochen. Ich sehe das allerdings etwas anders, denn ein Offenbarungseid in der Form ist mehr oder weniger das Eingeständnis der Unfähigkeit, aber jemand, der eine abweichende Meinung abgibt, gesteht damit keineswegs seine Unfähig­keit ein.

Ein echtes Problem, das ich hier sehe, ist die Profilierungssucht. Auf der anderen Seite aber sprechen sehr schwerwiegende Argumente dafür, vor allem die Nachvollziehbarkeit und die Transparenz.

Wenn ich beides nebeneinanderstelle, abwäge und versuche, die Vorteile des einen zu nutzen, ohne die Nachteile des anderen voll in Kauf zu nehmen, frage ich mich: Warum gestattet man nicht die abweichende Meinung ohne Namensnennung? – Das wurde meiner Erinnerung nach auch schon einmal als Möglichkeit erwähnt. Damit nimmt man – zumindest zum Teil – die Profi­lierungsmöglichkeit und diesen schwerwiegenden Vorwurf aus dem Ganzen heraus.

Wir haben hier ein sehr hochrangiges Gremium sitzen, das auch heute nachmittag noch intensiv diskutieren wird. Aber ich kann mir doch eine Feststellung nicht ganz verkneifen, um auf die poli­tische Wirklichkeit in Österreich hinzuweisen. Wir diskutieren hier heftig und mit sehr interessan­ten Argumenten, aber de facto scheint mir die Entscheidung schon längst gefallen zu sein. Die Interviews wurden bereits zu Mittag von den entscheidenden Leuten gegeben, und wir diskutie­ren hier auch jetzt noch. Das kommt mir ein bißchen vor wie bei des Kaisers neuen Kleidern.

Meine Damen und Herren! Wir sind hier nackt, denn eigentlich ist die Entscheidung schon ge­fallen. Das ist die österreichische Realität!

15.10


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Vielen Dank.

Zu Wort gemeldet ist weiters Frau Dr. Barbara Helige für die Vereinigung Österreichischer Richter.

15.10


Vizepräsidentin Dr. Barbara Helige (Vereinigung Österreichischer Richter): Stellvertretend für die Vereinigung Österreichischer Richter als Vertreter der ordentlichen Gerichtsbarkeit möchte ich darauf hinweisen, daß ich es sehr ablehnen würde, die gesamte Gerichtsbarkeit – und hier den Verfassungsgerichtshof mit den ordentlichen Gerichten – ohne weiteres in einen Topf zu werfen. Wenn diese Diskussion geführt wird, dann muß sie sehr differenziert geführt werden. Das ist heute größtenteils auch der Fall gewesen.

Ich denke, daß die Voraussetzungen bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit ganz andere sind, als sie beim Verfassungsgerichtshof vorliegen. Trotzdem möchte ich noch einige wenige Gedanken in die Diskussion einbringen, die wahrscheinlich im wesentlichen für alle Fälle gelten und die ich aus der Erfahrung der Richterschaft nennen möchte.

Es ist meiner Ansicht nach von wesentlicher Bedeutung, das Ergebnis in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen, nämlich die richtige Entscheidung. Wenn mir die Möglichkeit der “dissenting opinion” eine bessere Entscheidung – vielleicht eine andere Entscheidung oder eine Entscheidung, die besser begründet ist – ermöglicht, dann muß ich das Verfahren darauf abstel­len. Wesentlich ist sicherlich auch die Akzeptanz einer Entscheidung. Diese ist aber nicht unbe­dingt davon abhängig – jetzt aus Sicht der Richter gesprochen –, ob es die Möglichkeit einer “dissenting opinion” gibt, sondern diese liegt allein in der Qualität des Urteils begründet.

Ich habe aus der heutigen Diskussion herausgehört, daß es so etwas wie eine Urteilskritik in dem Sinn gibt, daß man sich manche Entscheidungen noch deutlicher und noch umfassender begründet wünscht. Auch dann ist die Frage, ob die “dissenting opinion” der richtige Weg ist, dort­hin zu gelangen. Gute Urteile zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich mit allen Überlegungen auseinandergesetzt haben. Ich möchte sagen, daß das in weiten Bereichen – und insbesondere im Verfassungsgerichtshof – in jenen Entscheidungen, die in der Öffentlichkeit stark diskutiert werden und eine wesentliche Rolle spielen, sehr wohl getan wird.

Es ist meistens so, daß die juristischen Argumente schon auf dem Tisch liegen. Ich glaube nicht, daß es sehr häufig vorkommt, daß von einem Mitglied des Verfassungsgerichtshofes eine völlig neue Meinung eingebracht wird, die noch von keiner Seite diskutiert worden ist. Daher sind meist – so ist es zumindest auch beim Obersten Gerichtshof – von vornherein die wesentlichen Argumente schon dargelegt und, wenn sie nicht zur Mehrheit geführt haben, widerlegt worden.

Die Offenlegung der Person des entscheidenden Richters, die mit der “dissenting opinion” immer verbunden wird, ist nicht zwingend ein Ausfluß des Ganzen. Man kann – das wurde schon ein­mal angesprochen – prinzipiell auch das Offenlegen einer anderen juristischen Meinung als ge­setzliche Möglichkeit einräumen, ohne die Persönlichkeit preiszugeben. Ich bin es als Einzel­richter gewöhnt, das zu tun, fürchte mich nicht davor und weiß auch, daß das kein Problem ist. Es ändert aber nichts daran, daß ich ein bißchen an der Lauterkeit zweifle, wenn es darum geht, zu wissen, wer entschieden hat. Denn das hat letztlich – im Gegensatz zum parlamentarischen Demokratieverständnis – überhaupt keine Konsequenzen. Der Umstand, daß ich weiß, wer hier entschieden hat, hat für die Partei keinerlei Konsequenzen; allenfalls vielleicht für den Rechts­vertreter, der das nächste Mal seine Argumentation etwas besser wird aufbauen oder abstim­men können.

Es ist auch schon gesagt worden, daß in weiten Bereichen nur eine Meinung genannt wird, ob­wohl die anderen Mitglieder unter Umständen verschiedene Meinungen haben, vielleicht andere “dissenting opinions”. Das heißt, daß auch das Stimmenverhältnis nicht zwingend in einen Zu­sammenhang mit der “dissenting opinion” zu setzen ist, weil “drei Gegenstimmen” nicht heißt, daß diese drei Gegenstimmen dieselbe Gegenmeinung vertreten haben. Das heißt nur, daß drei Richter anderer Meinung waren, und das kann in den verschiedensten Ausprägungen eine Rolle spielen.

Vielleicht noch ein Gedanke: Es ist bezüglich des EGMR die Möglichkeit angeklungen, daß man dazu übergeht, auch Beweiswürdigungs- und Sachverhaltsfragen in einer “dissenting opinion” in Frage zu stellen. Das halte ich für einen jener Fälle, in denen die Autorität des Gerichtes lang­sam gefährdet wird. Ich schließe mich dem nicht in allen Punkten an, aber auch der Verfas­sungsgerichtshof ist nicht davor gefeit, in Sachverhaltsfragen angerufen zu werden. (Vorsitzen­der Präsident Dr. Brauneder gibt das Glockenzeichen.) Da aber wird es, so glaube ich, heikel. Diese Überlegung sollte man sich bei der Frage nach der Autorität eines Gerichtes dann noch gesondert anschauen.

15.16


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Weiters zu Wort gemeldet ist Herr Uni­versitätsprofessor Dr. Rotter, der vom SPÖ-Klub nominiert wurde. – Bitte.

15.16


Univ.-Prof. Dr. Manfred Rotter (Institut für Europarecht, Universität Linz): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, eines sollte die “dissenting opinion” auf gar keinen Fall sein: ein Mittel – wie Kollege Machacek geschrieben hat –, um Richter oder Richterinnen an die Kandare zu nehmen. Ich bin einer Meinung mit Herrn Sektionschef Fessler, daß sie das eigentlich auch nicht wirklich kann.

Aus meiner Sicht kommt auch ein wenig ein sonderbares Menschenbild der Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofes zum Ausdruck, wenn einer der ersten Reflexe die Angst ist, daß ihnen dadurch, daß ihnen das Recht eingeräumt wird, eine “dissenting opinion” zu ver­öffentlichen, Schmach angetan oder Druck auf sie ausgeübt werde. Ich habe einige gute Be­kannte unter den Richtern des Verfassungsgerichtshofes und kann mir bei keinem von ihnen vorstellen, daß sie in sinnvoller Weise in ihrer rechtlichen Tätigkeit unter Druck gesetzt werden könnten. In der Tat aber trete ich diesem Argument insofern bei, als jeder sehr schlecht beraten wäre, der tatsächlich diesen Hintergedanken hätte. Es wäre ein absolut ungeeignetes Instru­ment, um irgend jemanden zu disziplinieren, daß man ihm das Recht einräumt, seine Argu­mente darzulegen, mit denen er sich vielleicht nicht durchgesetzt hat.

Der Kollegin von der Richtervereinigung darf ich aber sagen: Mehrheit bedeutet nicht Wahrheit, sondern Mehrheit bedeutet Mehrheit. Das heißt, die Qualität eines Argumentes, das bei einer Mehrheitsentscheidung untergeht, ist damit in keiner Weise verifiziert oder falsifiziert. Das sollten wir auch einmal lernen, denn auch das gehört zum Verständnis von Demokratie, daß Mehrheit nicht Wahrheit, sondern daß Mehrheit Mehrheit ist. Wir haben die Konvention, daß wir mit der Mehrheitsentscheidung beim Gestalten gesellschaftlicher Wirklichkeit der Mehrheit zum Durchbruch verhelfen. Darum bin ich in dieser Hinsicht ein bißchen anderer Meinung, meine Dame!

Ich darf darauf hinweisen, daß wir es aus der internationalen Praxis durchaus gewohnt sind, zu einem Erkenntnis mehrere “dissenting opinions” zu hören, auch zum Beispiel beim Euro­päischen Menschenrechtsgerichtshof und auch zu Entscheidungen, an denen Kollege Ma­chacek mitge­wirkt hat. Es gibt eben die unterschiedlichsten Gründe, aus denen sich jemand nicht in der Lage sieht, dem Mehrheitsvotum beizutreten. Da wir jetzt bei der internationalen Erfahrung sind: Es gibt in der Tat – das wurde mehrfach gesagt – nur begrenzte Möglichkeiten, daraus zu lernen.

Ich darf Herrn Jann in nur einem Punkt ergänzen – vielleicht habe ich es überhört, vielleicht haben Sie es gesagt –: Die Publizität der Entscheidungen des EuGH ist dadurch schon verbes­sert worden, daß auch der Schlußantrag des Generalanwaltes veröffentlicht wird. Dadurch wird den Streitparteien – aber selbstverständlich auch dem Publikum – sehr oft Einblick in die Ab­läufe der Entscheidung gewährt. Denn nicht immer deckt sich – wenn auch weitgehend – das Judikat mit den Vorstellungen des Generalanwaltes. Dadurch hat man ein bißchen mehr Ein­blick in die Argumentation des Verfassungsgerichtshofes als durch die Veröffentlichung seiner Judikate.

Ein weiterer Punkt ist meiner Erinnerung nach bei Herrn Professor Korinek angeklungen: daß dies sozusagen auf der internationalen Ebene nicht ganz so komplex wie im Verfassungsge­richtshof sei. Ich darf dazu sagen: Auch wenn wir uns die Judikatur des Internationalen Gerichts­hofes ansehen, erkennen wir, daß in einzelnen Blöcken vorgegangen wird. In der Argumentation folgt Schritt auf Schritt, und man findet das dann auch in den “dissenting opinions”, die sich natür­lich in der Verlegenheit sehen, die Komplexität der Hauptentscheidung in der “dissenting opinion” nachzuzeichnen.

Ich denke, wir kommen um die Tatsache nicht herum, daß der Verfassungsgerichtshof etwas mehr ist als nur der Entscheider in konkreten Rechtsstreitigkeiten, die allein die Parteien ange­hen. Ich darf darauf hinweisen, daß der Verfassungsgerichtshof auch durch seine Vertreter immer wieder sehr intensiv an seinem eigenen Denkmal gebaut hat, daß eben der Verfassungs­gerichtshof die Verfassung hütet und auch weitertreibt. Dabei wird er auch durch die Verweige­rung des Gesetzgebers in heiklen Fragen unterstützt, da dieser es vorzieht, gewisse Materien einem Judikat des Verfassungsgerichtshofes zu überlassen, da er lieber nicht selbst ent­scheidet.

Auch ohne “dissenting opinions” ist – wenn ich das so sagen darf – durchaus vorhersehbar, wie ein vom Gesetzgeber nicht gelöstes Problem später einmal vom Verfassungsgerichtshof gelöst werden wird. Es gibt also auch ohne “dissenting opinions” Möglichkeiten, das eine oder andere seherisch, esoterisch oder wie auch immer vorherzusehen. (Vorsitzender Präsident Dr. Braun­eder gibt das Glockenzeichen.) – Ich komme sogleich zum Ende.

Eines ist mir klar – und diesbezügliche Argumente halte ich für wichtig –: Eine Änderung wird unter Umständen gewisse organisatorische Veränderungen mit sich bringen. Ich möchte Herrn Abgeordneten Jung beitreten und sagen, daß er recht hat. Es geht um eine politische Entschei­dung, die der Gesetzgeber zu treffen hat. Es ist wirklich die Person des Präsidenten des Verfas­sungsgerichtshofes, die Mißverständnisse ausschließt. Aber ich möchte mich doch ein wenig von diesem einen Satz seiner Ausführungen distanzieren, in dem er gesagt hat, man möge doch bitte nicht gegen den Willen des Verfassungsgerichtshofes an eine solche Möglichkeit, nämlich die Einführung des “votum separatum”, denken. – Ich bedanke mich.

15.22


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Die nächste Wortmeldung kommt von Herrn Univ.-Prof. Thienel, Universität Wien. – Bitte, Herr Kollege Thienel.

15.22


Univ.-Prof. Dr. Rudolf Thienel (Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien): Herr Präsident! Mir ist natürlich klar, daß angesichts der nahezu geschlossen demonstrierten Ablehnung des Minderheitsvotums durch die anwesenden Mitglieder des Verfassungsgerichts­hofes die Einführung eines solchen Institutes sehr schwierig sein wird. Ich denke dennoch, daß bei Abwägung aller heute hier vorgetragenen Argumente gute Gründe dafür sprechen. Davon werde ich vor allen Dingen durch ein pragmatisches Argument überzeugt und weniger durch demokratietheoretische Erwägungen.

Das pragmatische Argument besteht darin, daß durch ein Minderheitsvotum – worunter ich nicht nur die “dissenting”, sondern vor allem auch die “concurring opinion” verstehen möchte – die Quali­tät der Entscheidungsbegründungen erhöht werden kann. Warum ist das notwendig? – Ent­gegen einzelnen Meinungen denke ich, daß die Parteien eines Verfahrens nicht nur am Ergeb­nis, sondern auch an den Gründen des Ergebnisses Interesse haben können, und dies beson­ders beim Verfassungsgerichtshof. Warum ist das so? – Der Verfassungsgerichtshof hat – nicht immer, aber oft – die Aufgabe, “wertausfüllungsbedürftige” Begriffe zu konkretisieren oder – ebenfalls sehr häufig – komplexe Rechtsfragen zu lösen, auf welche es a priori keine eindeutige Antwort gibt und die dann in einem komplizierten Denkprozeß, in einer von mehreren Möglich­keiten, irgendwie gelöst werden müssen.

Die Entscheidung, die der Verfassungsgerichtshof in diesen Fällen trifft, hat nicht nur für die Par­teien des konkreten Streites Bedeutung, sondern sie hat darüber hinausgehende Bedeutung für den Gesetzgeber, da sich in Hinkunft die Legisten und das Parlament an den “rationes deci­dendi” des Verfassungsgerichtshofes werden orientieren müssen, wollen sie nicht riskieren, daß ihre künftigen Gesetze aufgehoben werden. Somit muß man der Begründung entnehmen kön­nen, warum der Verfassungsgerichtshof in einem bestimmten Fall ein Gesetz als gleich­heits­widrig oder ein komplexes rechtliches Problem als nur in einem bestimmten Sinne auslegbar ange­sehen hat.

Betrachtet man die derzeitige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, so stellt man – selten, aber manchmal doch – fest, daß sich die Begründungen in größter Kryptik ergehen. Man liest dann kurze Ausführungen; es kommt auf 30 Seiten eine Wiedergabe der Stellungnahmen diverser Gebietskörperschaften und dann zwei Seiten Begründung, die man als gelernter Ver­fassungsrechtler, der ich bin, nur mit Staunen lesen kann, wobei man nicht recht versteht, was da wirklich herausgekommen ist. Man sagt dann: Gut, das hat er eben jetzt so entschieden.

Spricht man dann mit Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofes, wird einem klarge­macht – man kennt das natürlich –, daß die Beratung ein gruppendynamischer Prozeß ist und daß man durch den Ablauf der Beratungen und der Abstimmungen über einzelne Fragen irgend­wann zu einem Ergebnis kommt. Am Schluß muß man eine Begründung finden, über die man irgendwie einen Konsens finden kann, und dabei wird sehr viel von den verschiedenen Meinun­gen weggestrichen. Sosehr ich das als Entscheidungsprozeß verstehe, ist es allerdings für die betroffenen Legisten und Gesetzgeber weniger angenehm, weil man große Schwierigkeiten hat, sich an dem zu orientieren, was der Verfassungsgerichtshof eigentlich meint.

Ich denke, daß ein “votum separatum” gerade in Form der “concurring opinion” die Möglichkeit böte, zu stringenteren Begründungen zu kommen – in der einen oder anderen Richtung, das ist vollkommen gleichgültig, aber so, daß jemand dadurch sagen kann: Ich bin zwar der Meinung der Mehrheit, aber aus anderen Gründen. Man muß dann auf seinen Begründungsweg nicht mehr Rücksicht nehmen, wenn man die Mehrheitsmeinung begründet. Daran kann der Leser sehen, daß zehn von zwölf Richtern so gestimmt haben und sich die Minderheitsmeinung nicht durchgesetzt hat, sodaß dies jetzt offensichtlich die Meinung ist, die in der nächsten Zeit judiziert werden will. Das ist ein großer Gewinn.

Betrachtet man etwa die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, so er­kennt man sehr oft erst an den Separatvoten, welche Argumente sich nicht durchgesetzt haben und daß der Gerichtshof bestimmte Argumente sehr wohl gesehen hat, sie nicht übersehen hat und sich darüber hinweggesetzt hat. Ich nenne aus jüngster Zeit den Fall Oliveira, betreffend das Doppelbestrafungsverbot in Artikel 4 des 7. Zusatzprotokolls, wodurch der Gerichtshof mit einem Federstrich die Judikatur um 180 Grad gewandt hat. Erst aus der abweichenden Meinung des Richters Pekkanen wird erkennbar: Sie haben das ganz bewußt gemacht, denn er hat ihnen das gesagt.

Ich denke daher, daß die “dissenting opinion” beziehungsweise die “concurring opinion” eine gute Lösung wäre. Ich glaube auch nicht, daß die Diskussion der Judikatur – wie Herr Professor Korinek gemeint hat – durch die Lehre ersetzt werden kann. Denn selbstverständlich ist es für die Angehörigen der rechtswissenschaftlichen Berufe sehr reizvoll, anschließend Exegese der Judikatur zu betreiben; darüber kann man viele Dissertationen schreiben. Für den Anwender, der mit diesem Judikat konfrontiert ist und entscheiden muß, bringt das weniger.

Gar kein Verständnis habe ich für die vereinzelt aufgetretene Meinung, man könne eine “dissenting opinion” in Form von Aufsätzen publizieren. Das schiene mir im derzeitigen System keine faire Vorgangsweise zu sein. (Vorsitzender Präsident Dr. Brauneder gibt das Glocken­zeichen.) Wenn schon die “dissenting opinion” nicht gewünscht wird, dann auch nicht in dieser Form.

Ich denke, man sollte sie einführen. – Danke schön.

15.27


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist Herr Abgeordneter Feurstein. – Bitte, Herr Abgeordneter.

15.27


Abgeordneter Dr. Gottfried Feurstein (ÖVP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war eine sehr interessante Diskussion und ein wirklich wertvoller Austausch von Meinungen. Was mich betrifft, kann ich das auf jeden Fall feststellen. Denn sämtliche Überlegungen, Gedan­ken und Argumente sind wirklich sehr sachlich vorgetragen worden.

Ich habe Verständnis dafür, daß es Mitglieder eines Höchstgerichtes gibt, die – wenn sie mit ihrer Rechtsmeinung nicht durchgekommen sind – sagen: Ich möchte diese Rechtsmeinung dokumentieren. – Ich habe auch Verständnis dafür, daß die Wissenschaft appelliert: Wir möchten mehr Transparenz, wir möchten genauer wissen, wie es zu Entscheidungen kommt und wie die Mehrheitsverhältnisse sind. – Ich habe außerdem Verständnis dafür, daß Rechts­anwälte darauf pochen, mehr Informationen zu bekommen.

Aber ich frage mich: Ist der Oberste Gerichtshof nicht doch ein Kollegialorgan? Ist dann, wenn er ein Kollegialorgan ist, nicht die Entscheidung dieses Organs wesentlich, und könnte das Ganze nicht mehr sein als eine Summe von Einzelmeinungen? – Ich möchte auch fragen, ob es nicht so ist, daß hinter einem Urteil oder einem Erkenntnis eine sehr große Autorität stehen sollte. Einer der Redner hat es heute gesagt: Wir brauchen eine Autorität hinter dem Urteil. Ist diese Autorität nicht dann gegeben und ist die öffentliche Akzeptanz nicht dann größer, wenn der Gerichtshof mit einer Stimme auftritt und das Erkenntnis mit einer Stimme vertritt?

Ich möchte auch fragen: Ist es nicht so, daß es eigentlich nicht ganz verständlich ist, daß jemand, der an einer Entscheidung unmittelbar mitgewirkt hat und diese Entscheidung mit seinen – oder ihren – Argumenten mit bestimmt und mit beeinflußt hat, dann als erster Kritiker dieser Entscheidung auftritt? Ist das richtig? Wollen wir das? Ist das der richtige Weg? Will der Bürger – ich habe von den Wissenschaftern sowie von den Rechtsanwälten gesprochen, ich habe von der unmittelbaren Betroffenheit gesprochen – nicht eine ganz klare Entscheidung?

Jemand hat vorhin gesagt, daß es auch eine ständige Rechtsprechung gibt. Wie ist es denn mit einer ständigen Rechtsprechung für die Mitglieder eines Gerichtshofes? Müssen sie sich nicht irgendwie zu dieser ständigen Rechtsprechung bekennen? Oder sollten sie sich nicht dazu be­kennen?

Wenn man diese Argumente abwägt, so sprechen sicherlich manche dafür, daß man ein sepa­rates Votum zuläßt. Aber ich glaube nicht, daß es für den einzelnen, der sich orientieren soll, im Sinne der Rechtssicherheit ist. Ich glaube auch nicht, daß es im Sinne der Bürger ist, die ja nicht dasselbe Rechtsverständnis wie viele andere haben, die sich mit dieser Materie ständig befas­sen. Ich kann mir also nicht vorstellen, daß es dazu kommen sollte, wenngleich mir die Argu­mente von seiten Deutschlands sehr imponiert haben, daß es praktisch sowieso nicht gehand­habt wird. Aber es ist ein meiner Ansicht nach nicht ausreichendes Argument, Frau Präsidentin, zu sagen, es werde sowieso nicht gehandhabt. Es sind sehr wenige Fälle, es ist ein ganz kleiner, schmaler Streifen von separaten Voten. Dieses Argument – zu sagen, daß es ohnehin nur wenige gibt – ist mir zuwenig, um hier zuzustimmen.

Da war meiner Ansicht nach das, was uns von seiten der Schweiz gesagt worden ist, wichtiger: daß das Kollegialorgan – und es ist ein Kollegialorgan – gesamthaft auftreten sollte. Diese Chance, diese große Chance, die wir haben, sollten wir jetzt aufgrund der anderen Überlegun­gen, die hier zu beachten sind, nicht ganz aufgeben. Darum denke ich, daß jene Argumente zählen. Einer meiner Vorredner hat richtig gesagt, daß die überwiegende Zahl der Redner heute der Meinung gewesen ist, es sollte in Österreich bei der heutigen Praxis bleiben. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir das tun.

15.32


Vorsitzender Präsident Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist nun ein Mitglied des Ver­fassungsgerichtshofes, nämlich Herr Hofrat Dr. Müller. – Bitte, Herr Hofrat.

15.32


Hofrat Hon.-Prof. Dr. Rudolf Müller (Verfassungsgerichtshof): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zwar keinen Redebeitrag vorbereitet, aber der Vorlauf der Diskussion veranlaßt mich doch zu einigen Bemerkungen.

Meine Position zur “dissenting opinion” entspricht im wesentlichen jener des Kollegen Heller: Ich bin kein militanter Gegner der “dissenting opinion”, aber ich bin auch weit davon entfernt, sie an­zustreben. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die derzeitige Arbeitssituation. Ich bin auch für Beiträge der Befürworter, wie jene des Kollegen Noll, dankbar. Er tritt so wie ich dafür ein, daß man den an seiner Arbeitssituation deutlich krankenden Gerichtshof zunächst einmal von seinem Leiden heilen sollte, ehe man versucht, ihm weitere Kunststücke beizubringen.

Es fällt mir aber auch schwer, euphemistische Argumente der Befürworter der “dissenting opinion” zu den meinen zu machen. Wenn ich mich völlig auf den Standpunkt der Befürworter stelle, wenn ich ihre Erwartungen und Argumente voll übernehme und all dem die Erfahrungen mit der “dissenting opinion” – also mit dem Sondervotum – beim Bundesverfassungsgericht ent­gegenhalte, so komme ich zu dem Schluß, daß all diese Erwartungen offenkundig nicht einge­troffen sind – wenn man vielleicht von einem einzigen Argument absieht, nämlich von der Quali­tät der Entscheidungen. Aber ich gehe davon aus, daß die Qualität der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes bereits vor 1968 vom Niveau her beachtlich war, und sie ist meiner Ansicht nach durch die Einführung des “votum separatum” nicht sonderlich gesteigert worden.

Sowohl die geringe Zahl des Gebrauchs als auch die offenbar sehr geringe öffentliche Wirksam­keit der Sondervoten lassen daran zweifeln, daß der 47. Deutsche Juristentag, könnte er sich im Lichte dieser Erfahrung neuerlich ein Urteil bilden, auch heute wieder so votieren würde wie im Jahre 1968. – Das ist das eine.

Das zweite Argument, das ich vorbringen möchte, ist ein politisches, wie Herr Abgeordneter Kier es vorhin eingefordert hat. Ich möchte es in bezug auf das Spannungsfeld der Gesetzgebung mit der Verfassungsgerichtsbarkeit vorbringen, die ja im Wege der Normenkontrolle die Gesetz­gebung kontrolliert. Über dieses Spannungsfeld brauche ich hier nicht eigens zu sprechen.

Aber ich denke, daß vor diesem Hintergrund jede Initiative des Gesetzgebers, die das sehr heikle Verhältnis zum Verfassungsgericht betrifft, auch mit besonderer Sorgfalt vorbereitet und überlegt werden sollte. Soweit eine solche Initiative überwiegend aus der Gesetzgebung selbst hervorgeht und sich nicht auch auf breiteste Zustimmung aus den Rechtsberufen stützen kann, fürchte ich folgendes: Sollte eine solche Maßnahme dennoch umgesetzt werden und im wesent­lichen auf einer entsprechenden Initiative der Gesetzgebung beruhen, würde sie gewisser­maßen an einem politischen Geburtsfehler leiden, der dieses Rechtsinstitut weitgehend seiner Effektivität berauben würde.

Schließlich möchte ich auch etwas zum Qualitäts-Argument sagen, das vorhin auch von Profes­sor Thienel angesprochen worden ist. Glauben Sie jemandem – und ich glaube, das wird jeder bestätigen –, der die Gerichtsbarkeit von innen kennt: Die Qualität einer Entscheidung hängt erstens von der Qualität des Referenten – und zwar auch von seinen Fähigkeiten, gegenteilige Standpunkte begründen zu können – und zweitens von der Sorgfalt der Beratung ab. Wenn beides stimmt, wird man es durch Verfahrensreformen nicht kaputtmachen können, und wenn beides nicht stimmt, wird man dies auch durch Verfahrensreformen nicht ändern können. Das ist das eigentliche Problem.

Zu jenen Fällen, die Kollege Professor Thienel angeführt hat und in denen im Wege der Bera­tung gewissermaßen die Entscheidung bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wird – ich möchte jetzt nicht auf die Frage eingehen, ob es solche Fälle überhaupt gibt; gesetzt den Fall, es gibt sie –, kann ich Ihnen aus meiner Erfahrung sagen: Wenn im Gremium noch irgend jemandem eine gescheite Begründung zu dem Fall einfällt, dann muß er sie nicht als “concurring opinion” veröffentlichen, weil sie ihm in der Beratung aus der Hand gerissen und gesagt wird: Gott sei Dank hat einer die richtige Idee, wie man das begründen kann!

Ich denke, daß die Einführung eines solchen Rechtsinstituts auch in dieser Hinsicht keine wirk­lichen Fortschritte bringen würde. – Ich danke schön.

15.37


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist jetzt ein Vertreter der Universität Innsbruck, und zwar Herr Professor Dr. Weber. – Bitte, Herr Kollege Weber.

15.37


Univ.-Prof. Dr. Karl Weber (Institut für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Universität Inns­bruck): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wesentlichen Argumente wurden vorge­tragen, und wirklich neue Aspekte kann ich hier nicht einbringen. Mir ist aber in der Diskussion aufgefallen, daß keine wirklich neuen Aspekte – sieht man vielleicht vom letzten Redebeitrag ab – gekommen sind, sondern daß sich die Diskussion nach wie vor sehr stark am Stand der siebziger Jahre und an der Einführung der “dissenting opinion” in Deutschland orientiert.

Wenn man das Pro und Kontra gegeneinander abwägt, so scheinen mir die Befürworter der Ein­führung der Sondervoten ein bißchen mehr als die Gegner am Puls des Zeitgeistes zu sein. Da kann man durchaus auf die Erfahrungen, die in Deutschland gemacht wurden, hinweisen, die dem recht geben. Im Prinzip kann man sich meiner Ansicht nach den Argumenten, die vorge­bracht wurden, anschließen, weil sie alle durchaus vernünftig sind.

Bezieht man aber die österreichische Realverfassung und die Alltagswirklichkeit des politischen Systems in die Betrachtung ein, so kommt vielleicht ein bißchen Skepsis auf. Gegenüber der Argumentationslinie der siebziger Jahre hat sich diese Realität vielleicht um einiges verändert und insbesondere verschärft. Zunächst möchte ich das an einem Beispiel demonstrieren.

Die abweichende Meinung soll ja öffentlichkeitswirksam werden, das ist dem Konzept der “dissenting opinion” geradezu immanent; denn sonst könnte man es beim derzeitigen Zustand belas­sen. Das heißt, der “Dissenter” liefert sich ganz bewußt der öffentlichen Meinung aus. Mir scheint aber der heutige Zustand von Massenmedien, zumindest was einige Sparten betrifft, nicht unbedingt als Forum rationaler Diskurse beschreibbar zu sein. Vielmehr finden sich überall die populistischen und plakativen Verkürzungen, die dann in Lagerzuschreibungen, Freund-Feind-Positionierungen und Zeitgeistbewertungen enden. Da wird der “Dissenter” – das weiß er genau – bei solchen Fragen, insbesondere bei politisch brisanten Themen, nie und nimmer darauf vertrauen können, daß die unverzichtbaren Zwischentöne, die hier nötig sind, und viel­fach auch rechtswissenschaftlich begründete Positionen transportiert werden können. Das heißt, bei politisch brisanten Themen erwarte ich mir keine besondere Aktivität, was die “dissenting opinion” betrifft.

Anders ist es vielleicht bei politisch nicht so interessanten Schlüsselfragen. Da ist zu überlegen, ob die bestehende Form der Judikatur-Kritik, wie Professor Korinek sie angesprochen hat, dafür ausreicht oder ob uns in dieser Hinsicht wirklich die “dissenting opinion” weiterbringt. Ein Insider, Hofrat Müller, hat gemeint, man würde einem ja jedes vernünftige Argument aus der Hand reißen. Das ist von außen natürlich nicht sichtbar.

Es ist andererseits natürlich so, daß der Druck der Massenmedien gerade in der Form auf den einzelnen Richter einwirken kann, und zwar insoweit, als die Richter gedrängt werden, zeitgeist­widrige Judikatur im Wege der Sondervoten zu beeinflussen und auf Überwindung zu dringen. In dieser Hinsicht habe ich den offenen Einwand, ob die vielfach gerügte Zurückdrängung des “political self-restraint” der Justiz damit ausgebaut wird. Denn mit der Einführung des Sonder­votums öffnet man gerade solche Strahlungen und Strahlen. Ich denke, daß dadurch die mate­rielle und wertbetonte Rechtsprechung zunehmen wird, und das wird in Österreich vielleicht auch wieder nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen.

Mir scheint in dieser Hinsicht aber auch ein weiteres Problem ungelöst zu sein. Der Verfas­sungsgerichtshof läßt in vielen Bereichen Fragen offen. Er formuliert im Einleitungsbeschluß ein kompetenzrechtliches Problem und hebt dann eine Norm wegen eines Grundrechtsverstoßes auf. Das andere bleibt offen. Wird eine solche Lücke durch eine “dissenting opinion” geschlos­sen? – Ich glaube das nicht. Ich denke, da wird vielleicht die innere Beratung intensiviert werden müssen, und ich kann mir vorstellen, daß sich dabei wiederum das alte Zeit- und Ressourcen­problem zeigen wird.

Was die Frage des Drucks durch die entsendenden Stellen betrifft, wurde oft genug auf unser österreichisches System hingewiesen. Ich halte es für einigermaßen schwierig, darüber gesi­cherte Aussagen zu machen. Allerdings kann man es wahrscheinlich nicht ausschließen, daß bei der Auswahl neu zu bestellender Richter doch der eine oder andere sanfte Druck wirksam wird. Denn wir unterscheiden uns in der Bestellungspraxis erheblich von der deutschen Rechts­lage. Bei uns sind Bestellungsrecht und Bestellungswirklichkeit nicht immer ganz identisch.

Zusammenfassend: Die “dissenting opinion” hat sicherlich viele gute Argumente für sich, ich bin jedoch skeptisch, daß die hohen Erwartungen eingelöst werden. Ich bin aber auch zuversicht­lich, daß die schlimmen Befürchtungen wirklich alle eintreffen würden. – Danke.

15.43


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Ich darf aus Termingründen die Wortmel­dung der Frau Präsidentin Limbach vorziehen. – Bitte schön.

15.43


Referentin Dr. Jutta Limbach (Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichtes): Das ist sehr liebenswür­dig, Herr Präsident, daß ich jetzt noch einmal einige Dinge aufgreifen darf.

Ich hatte Ihnen, meine Damen und Herren, vorhin schon deutlich gemacht, daß ich Ihnen nicht nur die einschlägigen Gesetzestexte, sondern auch Statistiken vorgetragen habe, an denen man das Auf und Ab der “dissenting votes erkennen kann. Darum darf ich zuallererst zu Ihnen, Herr Abgeordneter Feurstein, etwas sagen: Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich habe gesagt, das Gericht hat von diesem Institut bisher sparsam Gebrauch gemacht, und das heißt: klug und weise.

Das wird von den nationalen wie internationalen Beobachtern des Bundesverfassungsgerichtes auch so betrachtet, daß man nämlich nicht einen Sport daraus macht, “dissenting votes” zu schreiben und seine Befindlichkeiten – wie hier jemand meinte – zum Ausdruck zu bringen, wenn man unterlegen ist. Das erleiden wir in Abstimmungen des Bundesverfassungsgerichts häufiger. Aber ob man ein Minderheitsvotum macht, das wird sehr gut überlegt und hängt von der Bedeutsamkeit des Gegenstandes ab.

Verehrter Herr Professor Korinek! Sie haben wie Herr Jann die Akzeptanz angerufen, und Sie beide haben mir Ausdrücke von einem Wissenschafter und einem Politiker entgegengehalten. Ich könnte das genauso konfrontieren. Die Zitate, die Sie aus dem einen “Dissent” gebracht haben, stammen von dem größten noch lebenden Staatsrechtslehrer und haben sehr zur Ent­lastung derjenigen beigetragen, die wenig Verständnis dafür hatten, daß Deutschland – jeden­falls das Parlament in seiner Mehrheit – den Artikel derart verändert hat.

Darum möchte ich eines sagen: Ich bin hier in einem Land, das sich zu Recht etwas auf seine Rechtssoziologie einbildet und in dem sehr wichtige Forschungen zur Akzeptanz gemacht worden sind, die deutlich gemacht haben, daß das eine soziologische Kategorie ist und daß man wissenschaftlich sehr gut untersuchen kann, ob ein Gericht Akzeptanz hat oder nicht. Ich würde das also nicht an den Stimmen des einen oder anderen Politikers oder Rechtswissen­schafters, sondern mehr daran ablesen, wie die Bevölkerung das Bundesverfassungsgericht be­trachtet. Und da haben wir die uns auch ernst machende Beobachtung anzustellen, daß das Bundesverfassungsgericht trotz öffentlich mitunter sehr kritisch aufgenommener Entscheidun­gen unter den zwölf Institutionen des öffentlichen Lebens Deutschlands immer noch an der Spitze steht. Dies war selbst in den Jahren 1995 und 1996 so, als Wellen der Kritik über das Gericht hereingebrochen sind. – Soviel dazu.

Liebe Kollegen! Manchmal – ich darf einfach so frech sein, das zu sagen – wundert mich doch der Kleinmut. Ich würde überhaupt keinem Kollegen unterstellen, daß irgend jemand von Ihnen aus Eitelkeit oder Profilierungssucht ein Sondervotum schreiben könnte. Gerade die Profes­soren in den Gerichten haben ganz andere Möglichkeiten, um ihrer Eitelkeit zu frönen. (Heiter­keit.) Das Minderheitsvotum ist davon die letzte, das macht nämlich wirklich geistige Arbeit.

Ich habe das noch nie so empfunden – insofern sprechen Sie wie der Blinde von der Farbe –, und ich habe doch wenigstens vier Jahre lang Erfahrungen in einem Senat gemacht, in dem häufig sehr streitig diskutiert wird. Ich habe es auch sehr oft erlebt, nicht in der Mehrheit zu sein. Das ist für eine Vorsitzende nicht ganz einfach, die ja immer den Wunsch hat, zu einem Kon­sens zu kommen, und nicht gerne ein Minderheitsvotum schreibt. Das sind bei uns unausge­sprochene Spielregeln, daß man sich noch so sehr in einer Sache streiten und ein noch so eindeutiges Minderheitsvotum formulieren kann: Jedes der acht Senatsmitglieder hat bis zum letzten Satz daran mitzuarbeiten, daß die Mehrheitsentscheidung auf das vorzüglichste begrün­det wird, und das macht dabei die Schwierigkeit und die Zeitintensität aus.

Das wollte ich noch einmal deutlich machen. Das waren im Grunde genommen die wesentlichen Gesichtspunkte, die es hier von meiner Seite aus nochmals zu sagen galt. – Ich danke Ihnen. (Allgemeiner Beifall.)

15.48


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Wenn ich Ihre Worte gebrauchen darf: Ich danke für das Frechsein. Ich meine das im durchaus positiven Sinn und beziehe es nicht nur auf die letzte Wortmeldung, sondern auch auf Ihr Referat. Vielen Dank für Ihre Denkanstöße. Sollten wir Ihren Rat wieder brauchen, wünschen wir uns, daß Sie wieder kommen. (Allgemeiner Beifall.)

Zu Wort gemeldet ist nun das Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Herr Univ.-Prof. Dr. Spiel­büchler.

15.48


o. Univ.-Prof. Dr. Karl Spielbüchler (Verfassungsgerichtshof): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte das Sondervotum nicht eingeführt haben. Nichts, was – auch in der heutigen Enquete – dafür ins Treffen geführt wurde, zeigt seine Notwendigkeit auf. Gegen jeden möglichen Vorteil kann auch ein möglicher Nachteil oder zumindest die Fragwür­digkeit des Vor­teils aufgezeigt werden. Ich möchte das nicht wiederholen. Die Zweckmäßigkeit ist zweifelhaft, aber das Entscheidende ist – ich möchte dort fortsetzen, wo Dr. Noll aufgehört hat – die Voll­beschäftigung des Verfassungsgerichtshofes. (Präsidentin des Bundesverfas­sungsgerichtes Dr. Limbach verläßt die Enquete.)

Ich denke, es wird hier heruntergespielt – und das darf man nicht –, was im ersten Redebeitrag von Dr. Heller deutlich gemacht wurde, nämlich daß wir mehr als 400 Fälle in einer Zeit ent­scheiden, in der das Bundesverfassungsgericht – der Senat – 48 entscheidet. Wenn ich 48 Fälle im Jahr zu entscheiden habe, schreibe ich vielleicht auch gelegentlich ein Sondervotum, aber nicht in einer Situation, in der jeder von uns nebenamtlichen – mit gutem Grund nebenamt­li­chen – Richtern nicht weiß, wie er überhaupt die Zeit aufbringen wird, die Mehrheitsentschei­dun­gen, die hinausgehen müssen, ordentlich zu entwerfen und zu begründen. Denn der Mangel, den man uns vorwirft, entsteht nicht daraus, daß wir nicht imstande wären, ohne Sondervotum sorgfältig zu beraten, da ohnedies alles, was das Sondervotum sagt, in die Beratung einge­bracht werden muß.

Von diesem Standpunkt aus ist es nicht möglich, ein Sondervotum zu schreiben. Es ist unver­antwortlich. Wir haben keinen Spielraum. Die Frage der Belastung des Gerichtshofes ist nicht irgendeine nebensächliche, bloß pragmatische, sondern ein System kann eben an seinem Plafond sein – und dieses System ist seit Jahren an seinem Plafond! Man muß nicht sagen, daß es überlastet ist. Es bewältigt Gott sei Dank seine Aufgaben, denn täte es das nicht, dann wäre nicht nur die Erledigungszeit länger, sondern es würden sich auch Stauungen bilden, die nicht abgebaut werden könnten.

Wenn man also davon ausgeht, so besteht praktisch keine Möglichkeit, ein Sondervotum zu machen. Das würde dazu führen – und das ist das einzige, was ziemlich außer Streit steht –, daß das Sondervotum die Zeit für die Entscheidungsfindung erheblich verlängert. Es wäre nicht möglich, und es würde eine Systemänderung erfordern. Da aber muß ich sagen: Nichts von dem, was gesagt wurde, rechtfertigt eine Systemänderung beim Verfassungsgerichtshof, etwa die Einführung der Hauptberuflichkeit oder von womöglich zwei Senaten, oder sonst irgend etwas.

Dann bleibt derjenige übrig, der – wie ich – kein Sondervotum schreiben würde. Aber was heißt das? – Dieser kommt in eine Lage, in der er bis jetzt nie gewesen ist. Er kann dann von allen mög­lichen Seiten angesprochen werden: Warum hast du kein Sondervotum gemacht? – Ich muß sagen, ich möchte das nicht. Ich habe das bei der Entscheidung über das UOG einmal erlebt, als ich von verschiedenen Seiten – natürlich vor allem von der Presse – massiv bedrängt wurde. Denn da rechnete sich die Presse aus, daß es entweder Spielbüchler oder Röger gewe­sen sein mußte, der letztlich die Entscheidung herbeigeführt hatte. Da muß ich sagen: Ich bin einfach nicht gerne in der Situation, unter diesen Druck gesetzt zu werden. Das wäre dann aber der Fall.

Wenn man weiters bedenkt, daß neuerdings für die Bestellung von Mitgliedern Hearings abge­halten werden, bei denen es nicht ausgeschlossen ist, daß es zu gewissen – natürlich völlig formlosen – Wahlkapitulationen kommen kann, deren Einlösung man später nachprüfen kann, indem man überprüft, ob das Mitglied dort sein Sondervotum einbringt, wo das erwartet wird – das wird in Deutschland eben nur in sehr wenigen Fällen erwartet, und da ist es dann auch immer geschehen –, dann muß ich sagen, daß ich das einfach nicht gerne habe, weil ich mich dadurch unter Druck gesetzt fühlen würde, wenngleich ich gegenwärtig sagen möchte, daß ich diesem Druck standhalte. Aber ein Vorteil ist das nicht.

Daher ist mein entscheidender Einwand gegen die Einführung des Sondervotums die totale Überlastung des Gerichtshofes, welche die eigentliche Ursache mancher schlechten oder schwachen Begründungen ist. Das ist freilich eine Ursache, die aus einer Balance zwischen der notwendigen Erledigung eines Pensums auf der einen Seite und der Notwendigkeit einer aus­führlichen Begründung auf der anderen Seite entsteht. Man kann verschiedener Meinung sein, ob diese Balance richtig gelöst wird. Ich denke, sie wird auf optimale Weise gelöst. Diese sieht eben nicht wunderbar aus, aber der Preis wäre der Stillstand oder das Stocken und Stauen der Rechtspflege.

Beim gegenwärtigen System ist das nicht zu bewältigen. Das gegenwärtige System läßt keine Verbesserung zu. Eine Erhöhung der Zahl der Mitarbeiter kann nicht das Hirn der Verfassungs­richter schneller laufen lassen. – Danke schön.

15.54


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist jetzt Herr Abgeord­neter Dr. Jarolim. – Bitte, Herr Abgeordneter.

15.54


Abgeordneter Dr. Johannes Jarolim (SPÖ): Nur einige wenige Sätze. Zum einen denke ich über die Frage der Legitimation – weil heute schon zweimal gefragt worden ist, warum gerade jetzt diese Diskussion geführt wird –, daß diese gestattet sein muß, weil es letztlich legitim ist, daß sich der Gesetzgeber – da der Vorwurf lautet, es komme eher aus dem Parlament – mit den Gründen dafür auseinandersetzt, daß der Verfassungsgerichtshof in dem einen oder ande­ren Fall Gesetze, die er selbst erläßt, in die eine oder andere Richtung deutet. Ich denke, es muß legitim sein, daß das hier diskutiert wird. Ich bezweifle, daß es nur seitens des Parlaments und seitens des Nationalrates ein Interesse an dieser Diskussion gibt.

Was die Frage eines Votums über die Gründe für ein Ja oder Nein anlangt, hätte ich es sehr be­fürwortet, daß man die Frage mitgenommen hätte, ob die schweizerische Lösung eine Alterna­tive wäre – denn ich denke, daß diese Frage auch in Alternativen zu klären ist –, ob also das schweizerische Modell, das wesentlich größere Transparenz bietet, auch eine intellektuelle Her­ausforderung darstellt und sicherlich lehrreich für alle Teilnehmer ist, ein Modell wäre.

Der zweite Punkt ist letztlich die Frage der Rahmenbedingungen: ob sich der Verfassungsge­richtshof derzeit in der Lage sieht, Separatvoten tatsächlich zu judizieren oder zuzulassen, daß man das etwas reduziert. Denn diese Frage kann letztlich nicht die ausschlaggebende sein. Ich anerkenne es als ein Faktum, daß eine Überlastung besteht, und das kann auch ein Anlaß sein, sich künftig mit dieser Frage auseinanderzusetzen, um eine Verbesserung herbeizuführen. Es wäre aber zu fragen, ob nach einer solchen Verbesserung ein Votum möglich sein soll.

Ich denke, es ist relativ klar, daß eine Qualitätssteigerung in der Argumentation dann eintritt, wenn mehrere Argumente offenbart werden können. Ich sehe durchaus ein, daß es im Rahmen der Diskussion im Verfassungsgerichtshof zu einer Meinung kommt, die sich letztlich in einem guten Urteil manifestiert, von dem alle Beteiligten sagen: Das ist es, was wir hier gemeinsam er­arbeitet haben, und ich sehe darin auch meinen eigenen Standpunkt widergespiegelt. – Dann wird es nicht zu diesem Votum kommen. Es ist auch nur als ein entsprechendes Recht kon­zipiert.

Ich meine, es kann nicht – das wurde heute mehrfach angesprochen – eine Autorität des Ver­fassungsgerichtshofes dadurch manifestiert sein, daß es einzelnen Mitgliedern in dem Fall, daß sie bei einer qualitativ sehr hochstehenden Entscheidung glauben, ihren eigenen Standpunkt nochmals nachweisen zu müssen, nicht möglich ist, dies zu tun. Das ist der offene Punkt.

Was über die Konsequenzen der Einflüsse von außen argumentativ vorgebracht wurde, ist letztlich auch eine gruppendynamische Frage. Ich wehre mich dagegen, zu sagen, daß im Ver­fassungsgerichtshof Personen sitzen – ich bin auch gerne bereit, darüber zu reden, wie man die Situation unter Umständen noch verbessern könnte, bin aber der Meinung, daß es bereits einen sehr umfangreichen Schutz gibt –, die möglicherweise durch das öffentliche Interesse oder die öffentliche Einflußnahme beeinflußt werden. Es ist jedem gruppendynamischen Prozeß anheim­gestellt, daß die Qualität einer Argumentation verbessert wird, sodaß die aktive und passive Kritikfähigkeit eindeutig Vorteile in der Argumentation bringt.

Zu dem Standpunkt, es könnte unter Umständen den einen oder anderen Druck geben: Meiner Ansicht nach müßte die Autorität der einzelnen Personen, die sich permanent auch in diversen Publikationen äußern und es gewohnt sind, Auseinandersetzungen zu führen, so beschaffen sein, daß dieser Druck keine Argumentation rechtfertigt, die es mit sich bringt, dem einzelnen dann, wenn er es für notwendig erachtet, nicht das Recht einzuräumen, seinen eigenen Stand­punkt nochmals wiederzugeben.

In der heutigen Diskussion ist auch das Wort “Egotrip” gefallen, und es wurde gesagt, daß man sich sorgen muß, daß einzelne Personen die Gruppendynamik durch das Bedürfnis, sich selbst darzustellen, gefährden könnten. Dem möchte ich entgegenhalten, daß die Intellektualität und die Qualität der Personen, die am Verfassungsgerichtshof tätig sind, solche Dinge ausschließen lassen.

Meiner Ansicht nach wäre die Einführung ein Schritt in die richtige Richtung. Das hat selbstver­ständlich auch – das wurde heute ebenfalls gesagt – gewisse Konsequenzen, aber diese können im Sinn einer Weiterentwicklung der Demokratie – es kann letztlich nur eine Frage der Demokratie sein, darüber eine offene Diskussion zu führen und die Qualität der Argumente dar­zulegen – nicht nur für die Parteien, sondern auch für die Bevölkerung ein Fortschritt sein. – Danke.

15.59


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist jetzt der Präsident des Obersten Gerichtshofes, Herr Dr. Steininger. – Bitte, Herr Präsident.

15.59


Hon.-Prof. Dr. Herbert Steininger (Präsident des Obersten Gerichtshofes): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion hat sich bisher schwergewichtig – und das mit gutem Grund – auf die Einführung eines Sondervotums beim Verfassungsgerichtshof bezogen. Eher am Rande sind die beiden anderen Höchstgerichte – und da wieder zusätzlich am Rande der Oberste Gerichtshof – angesprochen worden.

Für den Obersten Gerichtshof möchte ich feststellen, daß er sich formal sowohl von seiner Funktion als auch von der Art der Bestellung und der Stellung der Mitglieder her sehr wesentlich vom Verfassungsgerichtshof unterscheidet. Dadurch ist es gerechtfertigt, auch die Frage des Sondervotums beim Obersten Gerichtshof sehr differenziert und unter einem anderen Aspekt als beim Verfassungsgerichtshof zu sehen. Die meiner Meinung nach entscheidenden Argu­mente gegen die Einführung eines Sondervotums beim Verfassungsgerichtshof hat Herr Abge­ordneter Feurstein bereits angedeutet.

Traditionell – daran sollten wir, so glaube ich, im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit fest­halten – ist der Oberste Gerichtshof ein Kollegium, das als Kollegium entscheidet, das mit dem “Imperium” des Kollegiums Oberster Gerichtshof in seinen Entscheidungen nach außen in Er­scheinung tritt. Daß dies so ist, stärkt einerseits das Vertrauen in die Rechtsprechung dieses Obersten Gerichtshofs, und andererseits dient es auch der Autorität der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, wenn dieser als Ganzes nach außen in Erscheinung tritt, wenngleich er im Innenverhältnis natürlich auch Entscheidungen zu verkünden und zu fällen hat, die nur durch Mehrheitsabstimmung zustande kommen.

Es schiene mir bedenklich, dieses Vertrauen und diese Autorität auch nur dadurch in Frage zu stellen, daß man die Personifizierung durch die Ermöglichung von Sondervoten für den Bereich des Obersten Gerichtshofs in Erwägung zieht. Daher vertrete ich jedenfalls aus der Sicht des Obersten Gerichtshofs für den Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine ablehnende Stel­lung zum Sondervotum. Ganz abgesehen davon: Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit haben wir auch noch andere letztinstanzliche Gerichte, und es müßte dann natürlich konsequent für alle letztinstanzlichen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine solche Möglichkeit ein­geführt werden. Gerade da erscheint es mir aber noch weniger vertretbar als in bezug auf den Obersten Gerichtshof. – Danke schön.

16.04


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Als nächster zu Wort gemeldet ist Herr Abgeordneter Dr. Krüger. – Bitte, Herr Abgeordneter.

16.04


Abgeordneter Dr. Michael Krüger (Freiheitliche): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche hier sowohl als Anwalt als auch als Abgeordneter, und ich darf Ihnen aus den in beiden Professionen gewonnenen Erfahrungen sagen, daß ich ein Gegner dieses “votum sepa­ratum" bin.

Aus der Sicht des Anwaltes: Es bringt der Partei, die den Verfassungsgerichtshof anruft bezie­hungsweise die eine mitbeteiligte Partei ist, in einem Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nichts, wenn eine “dissenting opinion” abgegeben wird. Es trübt nicht die Freude einer erfolgrei­chen Beschwerde, es schmälert auch nicht das Leid einer erfolglosen Beschwerde. Ich bin aber als Anwalt sehr daran interessiert, daß der Verfassungsgerichtshof weiterhin ein so gut funktio­nierender Gerichtshof ist, wie er es jetzt ist. Wenn ich dem nun die persönlichen Erfahrungen des Herrn Professor Spielbüchler zugrunde lege, bleibt mir als Anwalt – unabhängig von allen Zeitgeistdiskussionen, Transparenz: ja oder nein – nichts anderes übrig, als zu sagen: Ich bin dagegen, denn ich will Entscheidungen der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und keine Entscheidungen der Referenten des Verfassungsgerichtshofes.

Nun zum politischen Teil: Die Diskussion über die Einführung der “dissenting opinion” ist ja nicht unabhängig von der Bedrohung der Unabhängigkeit der betroffenen Richter zu führen. Der Prä­sident des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften meint ja auch, daß nicht geleugnet werden kann, daß in Ausnahmefällen der Druck der öffentlichen Meinung wegen der Bedeutung eines Verfahrens zu einer Bedrohung der Unabhängigkeit des betreffenden Richters führen könnte, wenn die Voten öffentlich wären.

Es wurde bereits angesprochen, daß es die Funktion des Generalanwaltes beim Europäischen Gerichtshof gibt, der seine Meinung transparent kundtut. Auch wenn sich in der Praxis der Euro­päische Gerichtshof in den überwiegenden Fällen der Meinung des Generalanwaltes anschließt, so ist doch auf der einen Seite ein Generalanwalt und auf der anderen Seite ein Gericht, das entscheidet; und beides ist nicht gleichzusetzen.

Ich bin auch deshalb für die Beibehaltung der derzeitigen Rechtslage, weil mir sonst die Unab­hängigkeit des Verfassungsgerichtshofes beeinträchtigt scheint. Ich glaube, bei jeder Diskussion müßte die Forderung der größtmöglichen Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofes als oberstes beizubehaltendes Ziel sein.

Wir kennen die Bestellungsvorgänge. Es wurde heute in akademischer Form Kritik daran geübt. Erlauben Sie mir doch aus den Erfahrungen der Hearings dazu etwas zu sagen. Diese Hearings sind ja sozusagen auch ein Akt der Transparenz. Aber was bewirken sie denn? – Es braucht doch bitte niemand zu glauben, daß derjenige als Verfassungsrichter bestellt wird, der die beste Performance – um auch ein Wort des Zeitgeistes zu verwenden – bietet. Das haben wir ja erlebt: Da gibt es Vorabsprachen, das sind parteipolitische Absprachen, und anhand dieser wird entschieden, und nicht aufgrund der Qualität, aufgrund der Brillanz der Darstellung und aufgrund des persönlichen juristischen und wissenschaftlichen Lebenslaufes.

Einmal hat es ja ein Präsident gewagt, gegen die Realverfassung aufzumucken – Frau Kollegin Dr. Lass ist hier –, und ist vom Dreiervorschlag abgewichen. Was war die Konsequenz? – Das Gesetz wurde geändert. Ich sehe da also schon den Wunsch der derzeitigen Regierungspar­teien, einen möglichst großen Einfluß nicht nur auf die Bestellungsvorgänge, sondern auch auf die Meinungen und auf die Urteile des Verfassungsgerichtshofes zu haben. Herr Professor Bar­fuß hat auch die Loyalitäten angesprochen, die dann unter Umständen eingefordert würden.

Abschließend darf ich noch einmal sagen: Ich bin für eine Beibehaltung der derzeitigen Rechts­lage – als Anwalt, aber auch als Abgeordneter. Wir brauchen einen starken Verfassungsge­richtshof. Der Verfassungsgerichtshof ist trotz dieser Bestellungsvorgänge und der Realverfas­sung bei den Bestellungsvorgängen gewissermaßen ein mündiger, ein selbständiger, ein von der Politik emanzipierter Verfassungsgerichtshof. Jede Kleinigkeit – auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist –, die eine Bedrohung der Unabhängigkeit der betreffenden Richter mit sich brin­gen könnte, die einen öffentlichen Druck auf einzelne Richter, einen durch die Medien erzeugten Druck bringen könnte, ist von mir abzulehnen.

16.08


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Als nächster zu Wort gemeldet ist Herr Universitätsprofessor Dr. Haller, der vom Parlamentsklub der Freiheitlichen nominiert wurde. – Bitte.

16.08


Univ.-Prof. Dr. Herbert Haller (Institut für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Wirtschaftsuni­versität Wien): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu drei Punkten kurze Bemerkungen: Dr. Fialka und Dr. Noll haben den Be­schwerdeführer, den Antragsteller, der ja auch eine Lan­desregierung sein kann, einige andere haben die Republik in den Mittelpunkt gerückt: Was kann eine “dissenting opinion” nützen?

Wenn der Unterlegene dadurch, daß er nicht allein bleibt, sondern eine “dissenting opinion” ihm vielleicht zum Teil recht gibt, oder zwei oder drei Richter zeigen, daß sie mit seiner Argumenta­tion eine gewisse Freude hatten, zu seiner Befriedung findet und dazu, daß er die Entscheidung leichter akzeptieren kann, dann kann das auch zu einer Verstärkung der Autorität des Gerichtes führen. Ich glaube also, daß nicht immer nur die Zerrissenheit des einheitlichen Spruchkörpers, die dann vielleicht gezeigt wird, sondern auch diese Fiktion der Einheitlichkeit, von der Dr. Rotter gesprochen hat, zerstört wird, die Autorität damit jedoch gestärkt werden kann.

Weiters möchte ich darauf hinweisen, daß eine “dissenting opinion” zur Arbeitsentlastung führen kann. Wenn man sieht, daß eine bestimmte Argumentation, die vielleicht opulentest vorgetragen wird, ohne eine “dissenting opinion” verblieben und untergegangen ist, dann wird es eine Viel­zahl von anderen Antragstellern, Beschwerdeführern geben, die darauf verzichten, den Ge­richtshof in dieser aussichtslosen Sache noch zu belangen. Ich meine, daß diese Arbeits­ent­lastung und die Freiräume, die, wie ich hoffe, dadurch entstehen, zu der von Kollegen Thienel angesproche­nen Qualitätsanhebung führen sollten.

In Anbetracht dessen, daß beim deutschen Bundesverfassungsgericht die Senate den komplet­ten Text von dem bekommen, was hinausgeht, und daß dieser nicht nur vom Referenten, dem Präsidenten und dem Schriftführer gesehen wird, könnte ich mir vorstellen – in Erweiterung des Vorschlages von Fessler –, daß eine Frist nicht nur für denjenigen, der die “dissenting opinion” verfaßt, gegeben wird, sondern auch für den, der die Entscheidung für die Mehrheit ausfertigt, daß beides dem Gericht so vorgelegt wird – noch einmal ein kurzer Blick auf die Qualitäten – und daß es unter Umständen dann zu Reassumierungen oder Veränderungen dieser Mehrheits­entscheidung im Sinne einer verbesserten Begründung kommen könnte, vielleicht auch zu einem Zurückziehen der “dissenting opinion”.

Letzter Gesichtspunkt: Es wurde von den Möglichkeiten der Erpressung, der Beeinflussung ge­sprochen; wir sind ja alle miteinander per du, wir kennen einander alle. Bei heiklen Entscheidun­gen sickern doch die Abstimmungsverhältnisse und auch die Namen durch; sollte es Zentren der Macht in Österreich geben, wissen sie ja, wer wie gestimmt hat. Diesbezüglich können wir mit einer “dissenting opinion” keine neuen Offenbarungen bringen. Ich glaube, jeder ist Manns genug, in ein Taxi zu steigen und zu sagen: Ich habe die Erwerbsfreiheit durchgesetzt, leider Gottes verdienst du etwas weniger. – Danke schön.

16.12


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist Herr Vizepräsident Dr. Piska. – Bitte.

16.12


Dr. Karl Piska (Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes): Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Nur einige Bemerkungen, die wegen der vorgerückten Zeit sehr kurz sein müs­sen.

Die juristischen Argumente gegen eine Einführung des veröffentlichten Minderheitsvotums, wie sie heute eindrucksvoll vorgetragen wurden, treffen, wie ich meine, im wesentlichen auf traditio­nelle Gerichtsverfahren zu, wohl auch auf Beschwerdeverfahren vor den beiden Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts. Für das Normenkontrollverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof gel­ten sie aber nur sehr bedingt beziehungsweise verlieren sie doch zumindest erheblich an Gewicht.

Vor allem ist zu berücksichtigen, daß die Willensbildung im Gesetzgebungsprozeß in weiten Be­reichen öffentlich vor sich geht. Das allein schon spricht für ein höheres Maß an Öffentlichkeit im späteren gerichtlichen Normenkontrollverfahren. In diesem eingeschränkten Umfang wäre die Einräumung des Rechts zur Abgabe eines Minderheitsvotums durchaus vorstellbar. Der für diesen Bereich befürchtete Autoritätsverlust der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bevölkerung ist bisher in keinem der Länder festzustellen, die das Sondervotum zugelassen haben.

Eine Druckausübung auf Richter, deren Stimmverhalten einmal dieser, einmal jener politischen Gruppierung nicht genehm sein mag, ist ernstlich nicht in Betracht zu ziehen. Sie würde jeden­falls erfolglos bleiben, zumal die Unabhängigkeit der Verfassungsrichter in Österreich optimal, geradezu vorbildlich, gesichert ist. Es gibt – es wurde ja schon gesagt – keine Amtsperioden, keine Wiederbestellung. Die Amtszeit dauert länger als bei Berufsrichtern, nämlich bis zum Ende jenes Jahres, in dem der Verfassungsrichter das 70. Lebensjahr vollendet. – Danke.

16.14


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Weiters zu Wort gemeldet ist Herr Uni­versitätsprofessor Pesendorfer. – Bitte.

16.14


a.o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Pesendorfer (Vizepräsident des Verwaltungsgerichtshofes): Meine Damen und Herren! Ich bin Vizepräsident des Verwaltungsgerichtshofes und möchte mich noch kurz zu Wort melden, auch aus der Sicht dieses Gerichtshofes, wenngleich ich natür­lich primär nur für meine Person reden kann. Ich hatte jedoch Kontakt mit sehr vielen Kollegen unseres Hauses, die ebenfalls diese Meinung vertreten.

Erstens: Es ist in bezug auf die Situation des Verwaltungsgerichtshofes erstaunlich, daß die Re­form, die überfällige Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht stattfindet, wohl aber daran gedacht ist, eine “dissenting opinion” einzuführen. Ich sehe da eine Frage der Wertigkeit: Die überfällige Reform des Verwaltungsgerichtshofes führt dazu, daß das einzige Argument, das mir wirklich plausibel erschiene – die Frage der Qualität der Begründungen –, ja nicht daran scheitert, daß es kein entsprechendes Minderheitsvotum oder eine Möglichkeit dieser Art gibt, sondern ganz einfach daran, daß wir zum Teil bereits “zusammengebrochen” und einfach nicht mehr in der Lage sind, die Beschwerden auch wirklich abzuvotieren und eine entsprechende zeitgerechte Entscheidung zu treffen.

Weiters möchte ich darauf hinweisen, daß die Mehrzahl der Argumente, die gegen dieses Min­derheitsvotum sprechen, ja aus der Sicht des Verfassungsgerichtshofes formuliert wurden, ob­wohl dort ein gewisser Ansatz in diesem Zusammenhang gegeben sein könnte, weil es dort wesentlich mehr Wertungsspielräume gibt als beim Verwaltungsgerichtshof. Wenn also so vieles gegen ein Minderheitsvotum beim Verfassungsgerichtshof spricht, dann gilt das um so mehr für den Verwaltungsgerichtshof, der im wesentlichen an das Gesetz gebunden die Verwal­tung kontrolliert und selbst kaum Wertentscheidungen zu treffen hat.

Vor diesem Hintergrund ist weiters zu bedenken: Anders als beim Verfassungsgerichtshof ist die Binnenstruktur beim Verwaltungsgerichtshof eben so, daß es 21 “kleine” Verwaltungsgerichts­höfe gibt. Es ist schon von vornherein sehr prekär, der Frage der Akzeptanz und der Autorität des Gerichtshofes entsprechende Bedeutung zuzumessen, weil es immer wieder auftritt, daß die einzelnen Senate unterschiedliche Entscheidungen treffen. Der zusätzliche Autoritätsverlust durch die Einführung eines entsprechenden Votums, das heute diskutiert wird, würde aus meiner Sicht von vornherein und absolut dagegen sprechen, diese Möglichkeit im Verwaltungs­gerichtshof zu eröffnen, weil da ohnedies der Starke, der auch in der Lage wäre, ein solches zusätzliches Votum einem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes anzufügen, im Fünfersenat, der regelmäßig tätig wird, von vornherein die Chance hat, sich bereits intern entsprechend durchzusetzen.

Es spricht daher aus der Sicht des Verwaltungsgerichtshofes tatsächlich nichts dafür, eine ent­sprechende Möglichkeit des Minderheitsvotums vorzusehen, es spricht aber alles dafür, um die Qualität der Begründungen der Erkenntnisse weiter aufrechterhalten zu können, endlich die überfällige Verwaltungsgerichtshofreform durch Schaffung von Landesverwaltungsgerichten her­beizuführen. – Danke schön.

16.17


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist nun Herr Staats­sekretär Dr. Wittmann. – Bitte, Herr Staatssekretär.

16.17


Staatssekretär im Bundeskanzleramt Dr. Peter Wittmann: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als im Bundeskanzleramt zuständiger Staatssekretär für An­gelegenheiten der Bundesverfassung habe ich heute diese interessante Diskussion verfolgt, und ich gehe davon aus, daß ein sehr wesentlicher Schritt zur Meinungsbildung stattgefunden hat.

In meinen Augen überwiegen die Gründe dafür, das Instrument der “dissenting opinion” einzufüh­ren. Ich kann mich daher den Argumenten, die gefallen sind, anschließen, ohne sie wiederholen zu müssen. Sie sind sehr umfangreich und ausführlich dargelegt worden.

Ich möchte nur eine Bemerkung hinzufügen: Der Präsident des Verfassungsgerichtshofes hat gesagt, daß der Verfassungsgerichtshof an der Schnittstelle zwischen juridischer Auslegung und Wertung tätig sei, und diese Wertung beinhalte natürlich auch ein sehr hohes Maß an politischer Wertung – nicht im Sinne von Parteipolitik.

Wenn es jetzt zu einer Mehrheitsentscheidung kommt, dann ist diese Wertung keine einheit­liche, sondern eine mehrheitliche Wertung, und es ist für die Betroffenen sehr wohl interessant, wie die Wertung des anderen Teils eines sehr hochqualifizierten Organs aussieht, wo auch diese Argumentation in der Bewertung und Überprüfung dieser Entscheidung beziehungsweise das Nachvollziehen der Entscheidung für den Betroffenen eine sehr wesentliche Rolle spielt. Insbesondere deshalb, da es sich ja im Bereich der Betroffenen um die Gesetzgebung handelt.

Das heißt, es ist sehr wohl interessant zu erfahren, welcher Argumentation sich jener Teil, der nicht mehrheitlich ist, in der Beurteilung dieser Wertungsfrage unterzogen hat. Ich glaube, das ist ein hochinteressanter gesellschaftspolitischer Ansatz. Es wäre sehr wichtig für den Gesetz­geber, diese verschiedenen Meinungen in seinen Entscheidungsprozeß für weitere Schritte mit einfließen zu lassen. Daher sollte man diesem hochqualifizierten Teil des Verfassungsgerichts­hofes die Möglichkeit geben, diese anderslautende Wertung auch zu veröffentlichen. Deswegen, so glaube ich, sollten wir für dieses Instrument ein offenes Ohr haben. – Danke.

16.20


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Wir setzen jetzt die schon begonnene Runde mit den Referenten fort, und dann kommt die Schlußrunde mit Vertretern der politischen Parteien. – Präsident Dr. Müller, bitte.

16.20


Referent Dr. Peter Alexander Müller (Präsident des Schweizer Bundesgerichtes): Herr Präsi­dent! Meine Damen und Herren! Damit ich es nicht vergesse, schicke ich es voraus: Es war für mich nicht nur eine große Ehre und Freude, sondern ein echtes Vergnügen, dieser Enquete bei­wohnen zu dürfen.

Ich möchte nur kurz noch einige Sätze anführen. Sie haben es sicher gespürt: Ich bin kein Freund der “dissenting opinion”. Ich bin aber ein überzeugter Anhänger der öffentlichen Bera­tung, wobei “dissenting opinion” meiner Meinung nach nicht das Minus der öffentlichen Beratung ist.

Diese seit 150 Jahren, besser gesagt, seit dem Jahre 1850 im Bundesgericht geübte Praxis, mit unterschiedlicher Intensität geführte Praxis, läßt sich – und dessen bin ich mir bewußt – tale e quale so wenig auf Österreich, Frankreich, Italien oder anderswo übertragen, wie Ihr Verfahren, höchste Richter zu wählen, sich auf unser Verfahren, höchste Richter zu wählen, übertragen ließe.

Was ich als ehemaliger und vielleicht auch im Herzen lange gebliebener Gerichtsschreiber am Schluß dieser heutigen Beratung Österreich von Herzen wünsche – ich wünsche es Ihnen: dem Parlament, dem Volk und den Richtern –, ist, daß die Urteile so abgefaßt werden, daß sie für den interessierten Empfänger und nötigenfalls auch für die Richter, die an der Urteilsberatung teilgenommen haben, unmißverständlich erkennen lassen, mit welchen Argumenten und unter Rücksichtnahme auf welche Gegenargumente, Kritiken und Lehrmeinungen der Urteilsspruch zustande gekommen ist.

Das bedeutet wirklich volle Transparenz in der Urteilsbegründung und dann volle Solidarität mit dem Urteil, sobald es getroffen ist. Dann dürfte sich, so meine ich ganz bescheiden und wirklich “sans connaissance de la chose politique”, wie sie hier vorherrscht, das heute wiederholt an die Wand projizierte Gespenst vom Richter an der Kandare doch gänzlich in nichts auflösen. – Ich danke Ihnen. (Allgemeiner Beifall.)

16.24


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Vielen Dank, Herr Präsident Müller, auch für Ihr Referat. – Bitte, Herr Dr. Jann.

16.24


Referent Dr. Peter Jann (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einen einzigen Aspekt am Schluß dieser Debatte noch einmal heraus­greifen. Der Sinn einer solchen Enquete kann ja nur darin liegen, Ihnen, meine Damen und Herren Abgeordneten, ein möglichst abgerundetes Bild aller Probleme für die Gesamtentschei­dung, die Sie bei der Einführung eines solchen Sondervotums zu treffen haben, zu vermitteln.

Ich möchte daher noch einmal einen Aspekt herausgreifen, der schon verschiedentlich ange­klungen ist. Man kann sicherlich, Herr Staatssekretär Dr. Wittmann – und auch Herr Abgeordne­ter Dr. Kier hat sich sehr stark darauf bezogen –, von gesellschaftspolitischen Ansätzen aus­gehen. Das ist sicher eine Wertungsfrage, und da gibt es Für und Gegen. Sie müssen nur, wenn Sie als Gesetzgeber tätig werden, das Problem gesamthaft sehen. Ich kann Ihnen sozusagen als Insider, der damit arbeiten müßte oder der weiß, wie jetzt gearbeitet wird, nur folgendes pro­phezeien – und hier nähere ich mich sehr Herrn Prof. Spielbüchler an –: Wir haben in ganz Europa nicht nur eine Überlastung der Gerichte, sondern vor allem den Zustand einer Über­lastung der Höchstinstanzen, deren Ursache einfach in dem Umstand liegt, daß einerseits die Rechtsmittel eine immer stärkere Durchlässigkeit aufweisen und daß andererseits die Belastbar­keit und die menschlichen Ressourcen der Gerichte ihre Grenzen haben.

Wenn Sie meinen, daß man die “dissenting opinion” einführen soll, auch, wie vielfach gesagt wurde, um in Form einer erhöhten Transparenz die Qualität zu verbessern, so haben Sie nur fol­gende Möglichkeiten: Sie schaffen ein System so ähnlich wie in Deutschland, wo viel weniger Entscheidungen des Höchstgerichts verlangt werden als nach dem derzeitigen System, samt der Ablehnungsmöglichkeit, oder Sie gehen davon aus, daß relativ wenig oder noch weniger als in Deutschland davon Gebrauch gemacht wird; dann haben Sie aber Ihr Ziel eigentlich nicht erreicht.

Wollen Sie Ihr Ziel erreichen, dann bedingt das zwangsläufig eine höhere Mehrarbeit der Ge­richte und eine längere Erledigungsdauer. Sie landen dann vermutlich bei dem System, das in Straßburg jetzt zu einer grundlegenden Novellierung führen mußte, weil dort die Akten jahrelang liegengeblieben sind.

Noch einmal – ich habe das schon einleitend gesagt –: Die wirklich praktische Schwierigkeit für jeden in diesem Bereich Tätigen – und das werden mir alle meine Kollegen hier bestätigen – be­steht ja darin, daß man immer weiß, man kann es noch besser machen, daß aber ein gewisser Zeitaufwand dafür erforderlich ist, der für den nächsten Fall abgeht. Diese Abwägung, wie und mit welchen Mitteln man das regeln will, muß man als Gesetzgeber treffen. Ich wollte Ihnen das nur für die Gesamtentscheidung mitgeben. – Danke. (Allgemeiner Beifall.)

16.27


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Vielen Dank auch Ihnen für Ihr Referat. – Herr Universitätsprofessor Dr. Schäffer, bitte.

16.27


Referent Univ.-Prof. Dr. Heinz Schäffer (Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Salz­burg): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der vielen Meinungsäußerungen, die schon abgegeben worden sind, kann ein Schlußwort zwangsläufig nicht auf alles reagieren. Ich möchte nur drei schlaglichtartige Bemerkungen machen.

Zum ersten: Ich glaube – ich habe das auch schon in meinem Referat am Schluß angedeutet –, das Wesen und die Substanz der Verfassungsgerichtsbarkeit würden nicht verändert oder tan­giert, ob man jetzt die “dissenting opinion” einführt oder nicht, oder, wie es einer der Diskutanten gesagt hat, das Wohl und Wehe des Verfassungsgerichtshofes hängt letzten Endes nicht davon ab. Diese Grundentscheidung, so glaube ich, muß man im Auge behalten.

Aber lenken wir doch noch einen Blick auf den Vergleich mit dem deutschen Bundesverfas­sungsgericht, das uns in der Person der Frau Präsidentin mit ihren Erfahrungen zur Verfügung gestanden ist. Als Lehrende dieses Gebietes haben wir natürlich auch große Kenntnis vom Out­put dieses Gerichtes, und wir können die Systeme vergleichen. Hier fällt ins Auge, daß die Rolle des deutschen Bundesverfassungsgerichtes im politischen Gefüge eine ganz andere ist als die des österreichischen Verfassungsgerichtes. Hat das deutsche Bundesverfassungsgericht ge­sprochen, dann ist eine Verfassungsfrage wirklich endgültig entschieden, so wie das berühmte “Roma locuta, causa finita”. In einem solchen System, das auch bewußt für die Verfassungs­konkretisierung durch das Verfassungsgericht offen ist, macht es natürlich auch Sinn und ist es verständlich, daß die Pluralität von Wertungsstandpunkten nochmals deutlich sichtbar gemacht wird, auch durch Minderheitsvoten.

Wenn wir damit den österreichischen Verfassungsgerichtshof vergleichen, in einem Verfas­sungssystem, in dem die Verfassungsinhalte durch den Verfassungsgesetzgeber weitestgehend festgelegt sind und in dem das Parlament es auch in der Hand hat, die Interpretation des Ver­fassungsgerichtshofes politisch nachzubessern oder zu konkretisieren, dann sehen wir, daß es vergleichs­weise wichtiger ist, daß dieses Verfassungsgericht die Einheit der Verfassung auch in seiner Rechtsprechung sicherstellt und optisch darstellt.

Der dritte Punkt, den ich auch unterstreichen möchte, ist etwas, was mich aus den Diskussions­bemerkungen sehr beeindruckt hat: Besonders beeindruckt haben mich die Voten der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes Heller, Müller und Spielbüchler. Die Arbeitsbedingungen sind offenbar – und selbst ein Kenner der Materie hat sich das nicht so dramatisch vorgestellt – so, daß der Zwang, Minderheitsvoten zu schreiben, wirklich das System an den Rand der Lei­stungsfähigkeit brächte. – Danke. (Allgemeiner Beifall.)

16.29


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Danke schön.

Wir kommen jetzt sozusagen zur Politikerrunde. Ich werde in der Reihenfolge SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grüne und Liberale aufrufen.

Bitte, Herr Klubobmann Dr. Kostelka.

16.30


Abgeordneter Dr. Peter Kostelka (SPÖ): Herr Präsident! Es wird wahrschein­lich nicht nur an mir liegen, sondern auch an meinen Nachrednern, zuerst einmal festzustellen, daß es eine vielfältige, eine sehr interessante und dieses Problem ausleuchtende Diskussion war, für die wir danken.

Ich kündige in diesem Zusammenhang gemeinsam mit Herrn Kollegen Feurstein an, daß wir da­her auch den Antrag stellen werden, das Protokoll dieser Enquete dem Plenum des National­rates vorzulegen, um auf diese Art und Weise auch im Plenum des Nationalrates einen Be­schluß zu fassen und eine Debatte herbeizuführen.

Es wäre sehr verlockend – ich habe diesen Gedanken bei den Ausführungen des Herrn Prä­siden­ten Müller gehabt –, die Frage zu stellen, ob das, was heute hier diskutiert wird, nicht letzt­endlich eine Kulturfrage ist, eine Frage der gesellschaftlichen Kultur. Denn es kann doch kein Zufall sein, daß gerade die protestantischen Länder von Skandinavien über den angelsäch­si­schen Raum mit ihrer Offenheit der Gesellschaft, mit der Selbstverantwortung jedes in der Ge­sellschaft Handelnden gegenüber dieser Gesellschaft die Frage in der Regel anders beant­worten als Kulturen wie die unsere, wo die Gerichtsbarkeit im Grunde genommen noch immer die Öffent­lichkeit ein bißchen scheut und eine kontroversielle Diskussion in der Öffentlichkeit mit viel be­sorgterer Miene verfolgt wird, als das in anderen Ländern der Fall ist.

Für mich sind die Argumente zusammengefaßt letztendlich auf der einen Seite die der vollen Transparenz und des Anspruches der Öffentlichkeit auf diese volle Transparenz und auf der anderen Seite die Fragen – und das möchte ich jetzt gar nicht negligieren – des Beratungs­komforts und der Kollegialität in dieser Gemeinschaft und der Leistungsfähigkeit des Apparates.

Ich sehe, daß das ein großes Problem ist. Mir ist auch bewußt, daß man, wenn man eine solche “dissenting opinion” schafft – und ich habe eingangs in meinem ersten Statement bereits erklärt, daß ich der Meinung bin, daß man das tun sollte –, wohl auch die notwendigen Konsequenzen in der Gerichtsorganisation ziehen müßte. Man müßte die Kapazitäten schaffen, obwohl es in diesem Zusammenhang wohl nur darum geht, vorzusorgen, daß die in der Diskussion artikulier­ten Argumente letztendlich auch – und darauf lege ich großen Wert! – kurz zusammengefaßt dem Erkenntnis beigefügt werden, wobei dieser Zwang zur Kürze sowohl in der zulässigen Zahl der Zeilen als auch in der Zeit, die dafür zur Verfügung steht, zum Ausdruck kommen müßte. Denn das kann es wohl nicht sein, daß die Minderheit eine viel ausführlichere Rechtsbegrün­dung schreibt, als sie die Mehrheit in ihrem eigentlichen Erkenntnis zum Ausdruck bringt. Es sollen abweichende Meinungen sein, es soll aber nicht sozusagen der Schwanz mit dem Hund zu wedeln beginnen. Das Erkenntnis hat der Monolith zu sein, und davon abweichende Meinun­gen könnten dem Ganzen nur beigefügt werden.

Ich glaube, daß es unter diesen Auspizien durchaus ein sinnvolles Instrumentarium wäre, das letztendlich der Beratungskultur nicht allzu abträglich sein sollte. Ich bin davon überzeugt, soweit ich Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes kenne – und ich kenne einige –, daß das nicht einen Sprengstoff in diese Gemeinschaft hineintransportieren würde, wenngleich zweifellos eine gewisse zusätzliche Arbeitsbelastung und in diesem Zusammenhang sicherlich ein gewisser Gewöhnungseffekt notwendig wären. Wenn dieser eingetreten ist, dann würde unser Bundes­verfassungsgerichtshof in der Alltagspraxis wahrscheinlich nicht anders reagieren als der Bun­desverfassungsgerichtshof in Karlsruhe, und dort zieht die “dissenting opinion”, wie wir ja gehört haben, keine besonderen Probleme nach sich.

Daher noch einmal herzlichen Dank für die Ausführungen, für die abwägenden Argumente, die jetzt auch noch von unserer Seite zu würdigen sein werden. Ich bin froh darüber, daß es eine Nachdebatte im Plenum des Nationalrates geben wird, und darf, wie angekündigt, nach § 98a Abs. 5 GOG diesen Antrag stellen, das Protokoll dem Nationalrat zur Tagesordnungserstellung zuzuleiten.

16.35


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Es ist also hiermit ein Geschäftsord­nungsantrag Dr. Kostelka und Dr. Feurstein gestellt worden, wie ja gerade von Ihnen ausgeführt worden ist.

Ich bringe diesen Geschäftsordnungsantrag sogleich zur Abstimmung.

Wer dafür ist, gemäß § 98a Abs. 5 der Geschäftsordnung das Stenographische Protokoll dem Plenum des Nationalrates als Verhandlungsgegenstand zuzuleiten, den bitte ich um ein entspre­chendes Zeichen.

Zur Gegenprobe: Wer ist gegen diesen Antrag? – Damit ist der Antrag einstimmig ange­nommen.

Zu Wort gelangt nun Herr Abgeordneter Dr. Feurstein. – Bitte.

16.36


Abgeordneter Dr. Gottfried Feurstein (ÖVP): Herr Präsident! Ich habe bereits in meinem früheren Redebeitrag darauf hingewiesen, daß dies heute wirklich eine sehr informative und sehr wertvolle Diskussion und Veranstaltung war, und ich möchte mich den Dankesworten des Herrn Klubobmannes Dr. Kostelka an die Referenten, aber vor allem auch an alle Teilnehmer dieser Enquete anschließen. Ihre Beiträge waren informativ, sie haben das Pro und Kontra sehr eingehend und sehr umfassend dargestellt.

Ich möchte auch das noch einmal wiederholen, was einer der Befürworter der gesonderten Stel­lungnahme zum Ausdruck gebracht hat, nämlich, daß eigentlich in der Mehrheit der Wortmel­dungen Bedenken zum Ausdruck gebracht wurden. Wir sollten die Bedenken, die hier geäußert worden sind, wirklich sehr eingehend prüfen und analysieren.

Ich glaube, daß das, was der Staatssekretär gesagt hat – wir brauchen mehr Transparenz –, zu prüfen ist. Die Frage ist, ob die Urteile in ihrer Begründung nicht heute schon die verschiedenen Standpunkte nachvollziehen lassen, die von denjenigen, die Beschwerde geführt haben, aber natürlich auch von jenen Stellen, die zu einer Stellungnahme eingeladen worden sind, vorge­bracht worden sind. Ich meine, daß diese Transparenz heute im wesentlichen gegeben ist. Wenn sie nicht gegeben ist, dann sollte man dem nachgehen und aufzeigen, wo die Begründun­gen verfeinert werden können. Diese Transparenz zur Urteilsfindung halte ich für ganz entschei­dend und für ganz wichtig; und das gilt auch für meine Fraktion.

Ein zweiter Punkt ist aber noch wichtiger, und – Präsident Dr. Müller hat das jetzt im Schlußwort noch einmal betont – das ist die Solidarität, die in einem Urteil verankert sein sollte.

Ich war nie Richter, aber ich kann mir vorstellen, daß die Entscheidungsfindung nicht immer leicht ist, sondern daß sie sehr schwierig ist und daß hier auch ein Eingehen auf Argumente eines anderen Richters notwendig sein wird. Wenn diese Solidarität geübt werden sollte, so halte ich es auch für richtig, daß diese Solidarität im Urteil, in der Urteilsverkündung beachtet wird.

Ich weiß, daß es für jemanden, der überstimmt worden ist, mitunter schwierig sein mag, sich zu dieser Solidarität zu bekennen. Aber er ist Mitglied eines Gerichtshofes, er hat eine höhere Auf­gabe zu erfüllen, und ich meine, daß diese Aufgabe, zu der er ja berufen worden ist und um die er sich zum Teil auch beworben hat, ihn auch verpflichtet.

Ich möchte hierzu noch ein Argument anführen, und das ist das Argument der ständigen Rechtsprechung, das heute auch schon angesprochen worden ist. Diese ständige Rechtspre­chung kann und darf einfach durch separate Voten nicht ausgehöhlt werden.

Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen, der heute auch bereits erwähnt wurde. Ich meine, für den Bürger, für denjenigen, der nicht recht bekommen hat, dessen Beschwerde ab­gewiesen worden ist, mag es vielleicht ein Trost sein, wenn sich einer der Richter zu ihm be­kennt. Aber was hilft es? Brauchen wir diesen Trost? Kann man diesen Trost nicht anders spen­den? – Auch von dieser Warte aus halte ich es nicht für angebracht, diesen Weg zu gehen.

Meiner Meinung nach erzeugt dieser Weg, den wir hier gehen würden, eine gewisse Rechtsun­sicherheit in der breiten Öffentlichkeit. Ich meine, wir tun nicht gut daran, wenn wir unterschied­liche Standpunkte der Richter in die Öffentlichkeit hineintragen. Wir erweisen niemandem einen Dienst, wenn wir unterschiedliche Standpunkte in der breiten Öffentlichkeit diskutieren lassen. Die Frage, wem ein solcher Vorgang nützen würde, möge sich jeder selber beantworten. Ich glaube nicht, daß er der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit in unserer staatlichen Ge­meinschaft nützen würde. Ich hätte größte Bedenken, wenn wir den Weg, der vorhin vom Klub­obmann der SPÖ vorgeschlagen worden ist, gingen. Ich bin aber dafür, daß wir diese Frage objektiv, sachlich weiterdiskutieren. In der Demokratie müssen Pro und Kontras immer wieder neu zur Diskussion gestellt werden können. Deshalb ist es auch richtig, daß wir diesen Weg, diesen Entscheidungsprozeß, als Parlamentarier weiterverfolgen.

Wir sollten aber den Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofes eine gewisse Klarheit unserer Standpunkte vermitteln, damit sie wissen, was sie von uns zu erwarten haben. Ich meine daher, das Thema sollte sehr rasch im Rahmen des Nationalrates oder des Verfassungsausschusses behandelt werden. Ich möchte es offenlassen, Herr Klubobmann, ob die Diskussion im Verfas­sungsausschuß oder im Plenum des Nationalrates weitergeführt wird. Das sollten wir, so glaube ich, im Rahmen der Präsidiale weiterdiskutieren. Es könnte auch vernünftig sein, diese Diskus­sion im Verfassungsausschuß zu führen und dann zu einer gemeinsamen Haltung gegenüber dem Plenum des Nationalrates zu kommen. Das möchte ich noch offenlassen.

Grundsätzlich sollten wir jedoch sehr bald zu einer klaren Positionierung kommen, damit einer­seits die Betroffenen, andererseits aber auch die breite Öffentlichkeit hier Klarheit bekommen. Ich sage nicht, daß wir ausländische Beispiele einfach kopieren können – das Beispiel der Schweiz nicht, das Beispiel von Deutschland nicht –, aber unsere Position aufgrund der heutigen Diskussion lehnt sich daran an, daß wir sagen: Ein Urteil, ein Erkenntnis eines Höchstgerichtes hat eine sehr hohe Autorität, und die Autorität eines solchen Urteiles, eines solchen Erkenntnis­ses sollten wir durch nichts, aber auch durch gar nichts in Frage stellen oder gefährden.

16.43


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Vielen Dank. – Zu Wort gelangt nun Herr Bundesrat Dr. Böhm. – Bitte.

16.43


Bundesrat Dr. Peter Böhm (Freiheitliche): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mich dem Dank meiner Vorredner anschließen, sowohl an die Initiatoren dieser sehr qualifizierten Veranstaltung, nicht zuletzt aber auch an die Referenten für die äußerst instruktiven Beiträge, aber auch für diese sehr hochstehende Diskussion, bei der ich selbst durchaus viel gelernt habe.

In der Sache werde ich mich relativ kurz halten. Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, jetzt eine politische Linie zu vertreten – das ergibt sich eher formell nach der Methode “Den letzten beißen die Hunde” –, sondern ich möchte weithin meine persönliche Meinung sowie meine Eindrücke aus dieser Diskussion, die auf diese Meinung, die ich schon hatte, eingewirkt haben, präsentie­ren.

Ich teile die Auffassung all derer, die gemeint haben, die Einführung dieses Sondervotums würde den Verfassungsgerichtshof und die Qualität seiner Rechtsprechung nicht retten, die Ein­führung dieses Instituts wäre aber auch nicht der Untergang des Abendlandes. Ich möchte aber kein Hehl daraus machen, daß mich von der Sache her – rein von der Konzeption her betrachtet und unter vorläufiger Außerachtlassung der nicht außer acht zu lassenden Arbeitssituation – eigentlich die Mehrheit der Fachvertreter davon überzeugt hat, daß für den Verfassungsgerichts­hof doch sehr vieles für die Einführung dieses Sondervotums spräche.

Ich möchte als zweite Vorbemerkung klarstellen, daß ich ein Gleiches für den Verwaltungsge­richtshof und den Obersten Gerichtshof in dieser Form nicht so sehe.

Aber es läßt sich nicht leugnen, daß der Verfassungsgerichtshof zwar zweifellos ein Höchstge­richt ist, gerichtsförmig entscheidet, daß er allerdings, wenngleich nicht ausschließlich, so doch immerhin auch – und statistisch signifikanterweise – über Parteibeschwerden – aber eben nicht nur – entscheidet und daß die politische Dimension der Materie der Thematik dieses Gerichts­hofes außer Frage steht. Daß sich daher hier die Anforderung an die Transparenz der Entschei­dungen und der dahinterstehenden Argumentationen in noch ganz anderer Weise stellt, scheint mir evident zu sein.

Von den grundsätzlichen Einwänden haben mich zwei nicht überzeugt: einerseits das Argu­ment – nämlich insofern, als es hier erst einsetzt –, daß durch eine Etablierung des Sonder­votums die politische Einflußnahme auf den Gerichtshof oder die Politisierung des Gerichtshofes und seiner Rechtsprechung verschärft würde. Ich stimme meinem Kollegen Dr. Krüger zwar insoweit zu, daß solche Versuche durchaus vorstellbar sind – um es sehr zurückhaltend zu formulieren. Ich stimme ihm auch in der Feststellung zu, daß die Höchstrichter kraft Ihrer Per­sönlichkeit und Qualifikation diesem Druck stets standgehalten haben und es auch weiterhin tun würden.

Wenn man schon Politisierung beklagt, dann sollte man doch, bitte, das Pferd nicht beim Schwanz aufzäumen. Viel problematischer – und das sollte man viel stärker problematisieren – ist die Art des Bestellungsmodus. Ich weiß, es wäre realpolitisch vielleicht naiv zu meinen, daß hier grundlegende Veränderungen möglich wären. Ich meine aber schon, daß hier die Kritik ansetzen müßte, wenn man eine zu starke Politisierung fürchtet. Diese kann man nicht dadurch verhindern, daß man das Minderheitsvotum nicht einführt.

Daß das Bestellungsverfahren nicht wirklich im demokratischen Sinne verläuft, sieht man auch daran, daß es hier ja nicht allein um Mehrheitsbildung gehen dürfte, denn wenn die Vorgehens­weise wirklich proportional wäre, dann dürfte das Vorschlagsrecht auch nicht nur bei den beiden Regierungsparteien liegen. – Aber das ist hier nicht das Thema.

Ein zweites Argument gegen das Sondervotum hat mich auch nicht überzeugt: Gerade das deutsche Beispiel – und insoweit ist es sehr gut heranziehbar, bei allen sonstigen intersystema­tischen Unterschieden – zeigt, daß sich das Argument einer reduzierten Akzeptanz, deren Ur­sache allein darin liegt, daß man weiß, ein bestimmtes Erkenntnis ist nur in Mehrheitsbildung, vielleicht in knapper Mehrheitsbildung, zustande gekommen oder hier sind sehr gravierende und fundamentale argumentative Einwände in einem Sondervotum erhoben worden, nicht belegen läßt. Das wurde sehr überzeugend von Frau Präsidenten Limbach dargestellt und war, obwohl ich es nur als Theoretiker beurteilen kann, bei Betrachtung der Judikatur des Bundesverfas­sungsgerichtes stets mein Eindruck.

Den Einwand der reduzierten Autorität oder das Argument, daß gar die interne Solidarität oder Harmonie unter den Höchstrichtern darunter leiden würde, teile ich in keiner Weise.

Das einzige – und das ist natürlich jetzt das große Aber –, was hier absolut ernst zu nehmen und sicher ganz entscheidend ist, ist die angesprochene Frage der arbeitsmäßigen Rahmenbedin­gungen. Die anwesenden Herren Präsidenten werden es mir ja bestätigen, daß ich in diesem Hause, nämlich im Bundesrat, nach Vorlage der Berichte der beiden Höchstgerichte in größter Deutlichkeit und Schärfe, um nicht zu sagen, Dramatik – aber die mußte ich nicht erzeugen, die sprach aus der Sache von selbst –, sehr, sehr kritisch auf diesen Punkt hingewiesen habe und sehr deutliche Kritik – wenn Sie wollen: Selbstkritik – am Gesetzgeber dahin gehend geübt habe, daß hier nichts oder nichts Ausreichendes unternommen wird. Ich meine auch, die Ein­führung des Sondervotums, die ich persönlich befürworte, setzt voraus, daß die Rahmenbedin­gungen geändert und die Arbeitsbelastung in ganz elementarer Weise reduziert wird.

In diesem Sinne hoffe ich, daß diese hochqualifizierte Veranstaltung nicht nur ein interessantes akademisches Seminar war – und politisch damit folgenlos bleibt –, weder in der Frage des weiteren Denkprozesses in Richtung der Einführung eines Sondervotums beim Verfassungsge­richtshof noch – und dies nicht zuletzt – in dem Bemühen, die Rahmen- und Arbeitsbedingun­gen aller Höchstgerichte – ich habe auch den Obersten Gerichtshof nicht vergessen, aber insbe­sondere geht es hier um die beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes – ganz radikal zu verbessern. Nur in diesem Zusammenhang kann ich mir die Einführung eines Sondervotums vorstellen. – Ich danke.

16.50


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Eine weitere Wortmeldung liegt von Frau Abgeordneter Mag. Stoisits vor. – Bitte, Frau Abgeordnete.

16.50


Abgeordnete Mag. Terezija Stoisits (Grüne): Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Da­men und Herren! Ich möchte mich ganz herzlich für diese Enquete bedanken. Ich bedanke mich auch bei den Klubobmännern der beiden Regierungsfraktionen, die nicht unmaßgeblich daran beteiligt waren, daß das Präsidium des Nationalrates die Idee, diese heutige Enquete durch­zuführen, auch tat­sächlich realisiert hat – eine Enquete, die aus meiner Sicht, entgegen dem Eindruck, den Herr Dr. Feurstein hier vermittelt hat, offensichtlich nun doch andere Ergeb­nisse gezeigt hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe es sehr geschätzt, heute quasi in einem Raum, um nicht fast zu sagen, an einem Tisch, sowohl die Betroffenen dieser Regelung im eigentlichen Sinne, nämlich die Damen und Herren des Verfassungsgerichtshofes, als auch jene, die in direkter Folge Zweitbetroffene sind, nämlich die Rechtswissenschafter, aber auch der rechtsuchende Bürger und die rechtsuchende Bürgerin, versammelt zu haben und die Er­gebnisse dieser Diskussion zu sehen. Die Grünen als Partei sind ja vorweg schon sehr dafür eingetreten, die “dissenting opinion” in Österreich möglich zu machen. Ich persönlich bin – das ist das Resultat des heutigen Tages – in dieser meiner Meinung bestärkt worden, und zwar des­halb, weil vor allem die Argumente, die die Herren Verfassungsrichter und der Herr Präsident des Verfas­sungsgerichtshofes heute gebracht haben, für mich keine Argumente waren, aufgrund derer die Frage: Wäre die Rechtsprechung oder die Qualität der Rechtsprechung des Verfassungsge­richtshofes irgendwie gefährdet oder dadurch beeinträchtigt, wenn es die “dissenting opinion” in Österreich gäbe? – um die hier zur Diskussion stehende Frage darauf zu reduzieren – mit Ja zu beantworten wäre; immer aus dem Blickwinkel des rechtsuchenden Bürgers.

Ich wurde besonders deshalb in meiner Meinung bestärkt, weil uns vor allem Herr Dr. Heller hier sehr eindrucksvoll vermittelt hat – ich hätte sonst keine Kenntnis von dieser Situation –, wie die arbeitsmäßigen Rahmenbedingungen aussehen und was die Voraussetzung für die Einführung eines Sondervotums wäre. Damit sind Sie ja beim Nationalrat an der richtigen Adresse, denn das Budget für den Verfassungsgerichtshof wird hier gemacht. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, ich halte nichts von dieser Attitüde, die hier aufgekommen ist: Wir sind so sparsam, wir sind so billig, und wir sind trotzdem gut. – Mir sind die Rechtsprechung und damit auch der Zu­gang zum Recht etwas wert, und dies auch im monetären, im eigentlichen Sinne. Darum kann dies kein Argument sein, um gegen das Minderheitsvotum aufzutreten.

Was den Eindruck betrifft – und nun komme ich auf die Ausführungen von Herrn Dr. Feurstein zurück –, daß die Mehr­heit derjenigen, die heute das Wort ergriffen haben, gegen dieses neue Instrument wäre, so war doch, ganz im Gegenteil, meine sehr verehrten Damen und Herren, die große Mehrheit dafür! Wenn ich nur die Vertreter der Rechtswissenschaft betrachte, so habe ich heute hier eigentlich nur zwei Professoren gehört, die dezidiert dagegen wären. Ich nehme jetzt Herrn Professor Schäffer, weil er hier als Referent gesprochen hat, um ihn nicht in eine wissen­schaftliche Verlegenheit zu bringen, aus, aber alle anderen haben sich massiv dafür ausgespro­chen. Dies gilt selbst für Professor Jabloner und selbst für Professor Adamovich – mit beson­derer Betonung auf Professor Adamovich, der hier klar und deutlich gesagt hat, er sei für die “dis­senting opinion” – als Präsident des Verfassungsgerichtshofes! – Dies sei gesagt, um den Ein­druck von Herrn Dr. Feurstein ein wenig zu relativieren.

Frau Präsidentin Limbach hat aus meiner Sicht mit zwei Bemerkungen das Wesentliche, was auf unsere Situation zutrifft, zum Ausdruck gebracht:

“Mit besonderer Sorgfalt” wird in den Gremien diskutiert, in denen quasi das Minderheitsvotum als Rute im Fenster verstanden wird. – Es kann doch die Vorbereitung für eine Entscheidung nicht davon abhängen, ob jemand ein Minderheitsvotum abgibt oder nicht! Es ist für mich auch von der Logik her nicht verständlich, warum das auch möglicherweise als Argument – nicht von den Herren Verfassungsrichtern, sondern von seiten anderer – gebracht wird.

Zweitens hat sie auch noch gesagt – ich zitiere –: Die Gefolgschaft über Mehrheitsmeinungen wird eher gestärkt als gemindert. – Aus meiner Sicht ist das, was den Korpsgeist des Verfas­sungsgerichtshofes anlangt, auch ganz wesentlich. Ich möchte das als ein sehr wichtiges Argument betonen.

Ich teile überhaupt nicht den Eindruck von Herrn Dr. Jann, daß hier auch nur irgend jemand von jenen, die sich von seiten der Politik für die Diskussion um diese Möglichkeit aussprechen, vom Zwang eines Minderheitsvotums gesprochen hat. Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil! Wenn das auch nur intendiert wäre, dann wäre es ja genau der Schuß nach hinten, den hier niemand will.

Meine sehr geehrten Damen und Herren – und das ist meine letzte Bemerkung –: Wäre ich Ver­fassungsrichterin – eine “Verlegenheit”, in die ich niemals kommen könnte –, empfände ich es geradezu als eine Beleidigung, wenn das Argument eines möglicherweise stärkeren parteipoli­tischen Drucks hier tatsächlich als ein wesentliches aufgefaßt würde. Für mich wäre es ein Zeichen von wenig Vertrauen in die eigene Fähigkeit unbeeinflußten und sachlichen Handelns.

Deshalb, meine Damen und Herren des Verfassungsgerichtshofes, obwohl sich heute, stati­stisch gesehen, eine Mehrheit von Ihnen gegen ein Minderheitsvotum ausspricht – es haben ja nicht alle von Ihnen das Wort ergriffen –, meine ich, daß die Diskussion weitergehen sollte.

Als Resümee sage ich: Ich habe nichts gehört, was dagegen spricht, dieses Wagnis – untech­nisch und unjuristisch gesprochen – einzugehen; Wagnis auch im Sinne des rechtsuchenden Bürgers und der rechtsuchenden Bürgerin und im Sinne der Qualität der Rechtsprechung.

16.57


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Vielen Dank. – Die letzte Wortmeldung liegt von Herrn Abgeordneten Dr. Kier vor. – Bitte.

16.57


Abgeordneter Dr. Volker Kier (Liberales Forum): Auch ich möchte am Ende dieser Enquete meinen Erkenntnisgewinn nicht bestreiten – das ist eine Art, mich zu bedanken – und Ihnen sa­gen, daß ich ein paar Zusatzprobleme erkannt habe. Ich habe vor allem erkannt, daß die durch­aus – ich meine das jetzt positiv – standespolitisch ge­leitete Argumentationsweise der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes Gründe hat, die ernst zu nehmen sind, die teilweise in Organi­sations­verbesserungsmöglichkeiten, in Ressourcenver­besserungsmöglichkeiten liegen. Beim Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichtshofes war das überdeutlich. Das sind Dinge, die sozu­sagen Nebenbeierkenntnisse sind, für die ich dankbar bin, weil ich der Meinung bin, man darf sich nicht auf Einzelziele wie die Verwirklichung der “dissenting opinion” – die ja, wie allen hier im Raum bekannt ist, ein zentrales Anliegen der liberalen Fraktion ist – so sehr fixieren, daß man blind dafür wird, daß man unterwegs gleich ein paar Probleme mitlösen sollte. Daher ist dies sicher wertvoll.

Ich hatte den Eindruck, das war insbesondere dem Redebeitrag des Präsidenten Adamovich deutlich zu entnehmen, daß er eine rechtspolitische Position sehr elegant und als ein wirklicher Präsident seines Hauses mit einer standespolitischen Argumentation verknüpft hat und dadurch eine sehr plastische Meinung zum Ausdruck gebracht hat. Das war letztlich eine Form einer in seinem Redebeitrag verpackten “dissenting opinion”. Wenn Sie sich das bewußt machen, dann sehen Sie, wie wertvoll so ein Instrument sein kann. Es macht deutlich, daß es möglich ist, ganz seriös zu argumentieren und zwei in sich an sich widersprüchliche Meinungen vorzutragen. Wenn der Präsident des Verfassungsgerichtshofes das kann, dann traue ich das auch den anderen Mitgliedern des Hauses zu. – Das soll vielleicht Anlaß zu Optimismus geben.

Besonders beeindruckt – das möchte ich zum Schluß sagen – hat mich Herr Präsident Dr. Mül­ler. Er hat uns deutlich gemacht, daß es die Rechtskultur der Schweiz ist – mit ihrer schon seit dem Jahre 1850 existierenden demokratischen Grundlage –, die eine ganz andere Form der Öffentlichkeit entwickelt hat. Diese Entwicklung können wir jedoch in Österreich nicht imple­mentieren, denn wir können nicht sagen, wir machen jetzt einen Bypass und bauen diese Form der Öffentlichkeit ein in unserer Rechtskultur. – Das hat Präsident Dr. Müller mit anderen Wor­ten, aber aus meiner Sicht expressis verbis gesagt. Andererseits hat er sich voll zur Trans­parenz bekannt.

Daher ist unsere Aufgabe – und das ist aus meiner Sicht eine Erkenntnis des heutigen Tages – die politische Lösung der Frage: Wie erfüllen wir den Anspruch der Transparenz unter Wahrung der bedenkenswerten standespolitischen Argumente der Richterschaft, unter Wahrung des rechtspolitischen Zieles eines geordneten Zusammenspiels der obersten Organe einschließlich der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes untereinander und im Sinne einer Verbesserung un­serer Rechtskultur? – Wenn wir über die Ergebnisse der heutigen Enquete im Verfassungs­aus­schuß oder wo auch immer weiterdiskutieren können, dann, glaube ich, könnten wir auf einen ganz guten Weg geraten. Gerade für Minderheitsfraktionen sind Enqueten beson­ders wichtig, weil in solchen Enqueten doch noch wesentlich angenehmer diskutiert wird als dort, wo es schon um die finalen Abstimmungen geht. – Ich bedanke mich.

17.00


Vorsitzender Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Die Rednerliste ist damit erschöpft.

Ich bitte um einen Vorschlag für einen Berichterstatter zu dieser Vorlage im Plenum – selbstver­ständlich unbeschadet einer eventuellen Vorbehandlung im Verfassungsausschuß.

Herr Abgeordneter Dr. Jarolim ist vorgeschlagen worden. Ich bringe diesen Vorschlag zur Ab­stimmung.

Der Vorschlag, Herrn Abgeordneten Dr. Jarolim zum Berichterstatter zu ernennen, ist einhellig angenommen worden.

Ihnen allen darf ich sehr herzlich danken. Ich denke, diese Veranstaltung war sozusagen dem Raume gemäß: ein traditioneller Rahmen, jedoch angefüllt mit modernem Mobiliar und sehr viel Geist. – Danke schön. (Allgemeiner Beifall.)

Die Enquete ist geschlossen.

                                        Österreichische Staatsdruckerei: 85 1681                                       


Schluß der Enquete: 17.02 Uhr