Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus

 

 

 

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

 

 

 

 

5. Mai 1998

 

 

 

 

 


 

 

 

G e d e n k t a g

gegen Gewalt und Rassismus

 

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

 

5. Mai 1998

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Nationalrat und Bundesrat haben am 11. beziehungsweise 20. November 1997 gleichlautende Entschließungen betreffend Schaffung eines Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus (NS-Opfer-Gedenktag) gefaßt. Der 5. Mai, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen im Jahre 1945, wird in Österreich im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus hinkünftig als Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus begangen werden.

Am 5. Mai 1998, dem ersten Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus, fand – Beginn: 11 Uhr – im großen Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses eine Gedenkveranstaltung statt, an der der Bundespräsident, die Mitglieder der Bundesregierung, die Abgeordneten zum Nationalrat, die Bundesräte, Vertreter des Diplomatischen Corps, Repräsentanten der Religionsgemeinschaften, Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen sowie weitere Überlebende des NS-Regimes teilnahmen.

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Nationalratspräsident Dr. Heinz Fischer

ergriff vor Beginn der österreichischen Erstaufführung der Oper „Anne Frank“ von Grigori Frid im Reichsratssaal des Parlaments das Wort und führte aus:

Hochgeschätzte Versammlung!

Nationalrat und Bundesrat haben im vergangenen Jahr übereinstimmend und einstimmig eine Entschließung betreffend die Schaffung eines Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gefaßt, in der es unter anderem heißt:

„Der 5. Mai, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, möge in Österreich im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus als Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus begangen werden.“

Dieser Entschließung wollen wir heuer zum ersten Mal gemeinsam und in würdiger Form Rechnung tragen.

Ich danke daher allen, die unserer Einladung Folge geleistet haben und an dieser Gedenkveranstaltung im österreichischen Parlament, also am zentralen Ort unserer Demokratie teilnehmen.

Ich begrüße mit besonderem Respekt unser Staatsoberhaupt, Herrn Bundespräsidenten Dr. Klestil. (Beifall.)

Ich begrüße sehr herzlich den Herrn Bundeskanzler, den Herrn Vizekanzler, die anwesenden Mitglieder der Bundesregierung und zahlreiche Vertreter der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit. (Beifall.)

Ich begrüße in kollegialer Verbundenheit alle Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sowie zahlreiche ehemalige Mitglieder der Bundesregierung und der gesetzgebenden Körperschaften.

Ich begrüße aufrichtig die Angehörigen des Diplomatischen Corps, die eingeladen sind, in ihren Heimatländern zu berichten, in welchem Geist und in welcher Gesinnung das heutige Österreich der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt.

Ich begrüße Herrn Grigori Frid, den Komponisten der Oper „Anne Frank“, der heute unter uns weilt. (Beifall.)

Und ganz besonders respektvoll und mit besonderer Wärme möchte ich Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen sowie eine Reihe von überlebenden Opfern des Nationalsozialismus begrüßen, die trotz ihres hohen Alters unserer Einladung Folge leisten konnten! (Langanhaltender Beifall.)

Nicht verabsäumen möchte ich es, die Vertreter der Religionsgemeinschaften, die Vertreter der Jugend, die Vertreter der Exekutive und des Bundesheeres, alle hier im Hause Anwesenden und nicht zuletzt Sie alle, meine Damen und Herren, die Sie diese Veranstaltung im Fernsehen verfolgen, zu begrüßen.

Meine Damen und Herren! Wir haben nach sorgfältiger Überlegung den 5. Mai als Datum für unseren österreichischen Gedenktag gewählt.

An diesem Tag wurde, wie schon erwähnt, das Konzentrationslager Mauthausen befreit, ein Konzentrationslager im Herzen Österreichs, nahe der Donau, mit zahlreichen Außenlagern.

Meine Damen und Herren! Der Gedenktag, den wir heute begehen, enthält zwei Elemente:

Einerseits das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, das lebendig bleiben muß und nicht in Vergessenheit geraten darf – und andererseits die Botschaft für Gegenwart und Zukunft, nämlich die Absage an Gewalt und Rassismus.

Es ist jetzt bereits die zweite Generation seit den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts, die zum Teil mit ihren Eltern und Großeltern, zum Teil auch untereinander, die immer wieder bohrenden schmerzlichen, schwierigen Fragen diskutiert, die da lauten:

Wie konnte das alles geschehen? Wer war dafür verantwortlich? Haben wir uns nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft richtig verhalten?

Warum ist manches so spät und anderes überhaupt nicht geschehen?

Und vor allem: Was können wir für die Zukunft daraus lernen?

Niemand kann behaupten, daß auf all diese Fragen klare, umfassende, befriedigende und allgemein akzeptierte Antworten gegeben werden können – und das womöglich in wenigen Sätzen.

Aber ich denke doch, daß wir uns heute diesen Fragen offener, selbstkritischer, sensibler und mit mehr Verständnis stellen können, als dies vielleicht noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten der Fall war.

Ich habe manchmal den Eindruck, daß in den ersten Jahren nach dem Krieg viele Opfer noch stumm vor Schmerz waren, viele Täter noch stumm aus Angst oder Selbstgerechtigkeit waren und viele Mitläufer und Mitwisser primär bemüht waren, zu verdrängen und zu vergessen.

Es waren dann zum Teil einfach die größer werdende zeitliche Distanz, zum Teil vielleicht auch manche Ereignisse der achtziger Jahre, die bewirkt haben, daß zuletzt doch häufiger ein Dialog möglich wurde, daß Fragen mit größerer Unbefangenheit gestellt und Antworten mit größerer Sensibilität gegeben wurden.

Und wenn dazwischen immer die Frage auftaucht: Warum erst jetzt?, dann können wir vielleicht keine zufriedenstellende Antwort darauf geben, wohl aber die Feststellung wagen: Besser spät, als gar nicht!

Es ist wahr, daß der Nationalsozialismus nicht plötzlich vom Himmel gefallen ist und auch nicht plötzlich dem Kopfe eines einzelnen Mannes aus Braunau entsprungen ist, sondern daß es viele Ursachen dafür gegeben hat.

Es ist wahr, daß auch die politischen und ökonomischen Verhältnisse der dreißiger Jahre dazu beigetragen haben, daß Männer und Frauen aus Deutschland und Österreich in großer Zahl für die Verheißungen und Versprechungen der Nationalsozialisten anfällig wurden.

Es ist wahr, daß in den sich zuspitzenden Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre die Sprache brutaler, die Toleranz geringer wurde, die Feindseligkeit gegen Andersdenkende zugenommen hat, die Fähigkeit zum Dialog erschüttert wurde, Rassismus und Antisemitismus geschürt wurden, was dann in Summe den Weg in Verblendung, Gewalt, Rassismus, Haß und in den Untergang geebnet hat.

Es ist auch wahr, daß Hitler und seine Truppen im März 1938 in Österreich in einer Art und Weise willkommen geheißen wurden, für die wir uns heute zutiefst schämen, aber es ist nicht wahr, daß die gesamte österreichische Bevölkerung Hitler zugejubelt hat.

Nur waren diejenigen, die damals entsetzt waren, die um ihr Leben fürchteten und ihre Flucht vorbereiten mußten, oder die als überzeugte Gegner des Nationalsozialismus den „Führer“-Staat auch 1938 entschieden ablehnten, damals leider eine Minderheit, die auf den Jubelbühnen nicht sichtbar war.

Daraus ergibt sich auch die nächste Feststellung:

Die Österreicher und Österreicherinnen waren zwischen 1938 und 1945 nicht gesamthaft schuldig und nicht gesamthaft unschuldig, sondern es gab Millionen unterschiedlicher Biographien mit Heldentaten und Übeltaten, mit Zustimmung und Ablehnung, mit Mut und Feigheit. Es gab das gesamte Spannungsfeld zwischen Adolf Eichmann und Schwester Restituta, zwischen jenem österreichischen SS-Mann, der Anne Frank verhaftet hat und jenen Widerstandskämpfern, die ihre Gegnerschaft zu Hitler mit dem Leben bezahlten.

Solschenizyn hat es in einem seiner Bücher so wunderbar beschrieben, daß die Menschen nicht einfach nur gut oder böse sind, sondern daß die Grenze zwischen gut und böse oft mitten durch ein und dasselbe Herz eines Menschen und erst recht mitten durch das Herz eines Volkes verläuft.

Das Resümee lautet daher:

Es kann keine Pauschalverurteilung, aber auch keinen Pauschalfreispruch geben. Wir müssen uns zu dem viel mühevolleren Weg des Differenzierens bekennen, dem Weg der individuellen Verantwortung, dem Weg des Um-Verzeihung-Bittens und des Verzeihens – und vor allem auch zum Weg des Lernens für die Zukunft.

Gegen Gewalt und Rassismus lautet daher die zweite Botschaft in der Entschließung des Nationalrates und des Bundesrates. Das heißt, alle Menschen, ohne Ansehen des Geschlechtes, der Rasse, der Abstammung et cetera als gleichwertig anzunehmen, Fremdenhaß zu bekämpfen und um Toleranz bemüht zu sein. Und dies darf keine leere Formel sein, sondern muß Eingang in die konkrete Politik finden. Die Zukunft Europas, das Zusammenleben der Völker ist nach diesen Prinzipien zu gestalten. Ich denke, daß ein friedliches und schrittweises Näherrücken und Zusammenwachsen der Völker Europas im Rahmen der Europäischen Integration eine der wirksamsten Konzeptionen gegen Gewalt und Rassismus ist.

Herr Bundeskanzler! Meine Damen und Herren!

Ich möchte die Gelegenheit des heutigen Gedenktages benutzen, darauf hinzuweisen, daß sich nicht nur in bezug auf Worte, sondern auch auf Taten manches verändert hat.

Im Zusammenhang mit dem 50. Geburtstag der Zweiten Republik ist der einstimmige Beschluß gefaßt worden, den österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus zu gründen.

Dieser Nationalfonds ist in den 32 Monaten seit seinem praktischen Wirksamwerden mit fast 27 000 Opfern des Nationalsozialismus in Verbindung getreten und hat bis heute an 20 934 Personen ein persönliches Schreiben gerichtet und dieses Schreiben in Verbindung mit einem einvernehmlich festgelegten Geldbetrag als symbolische Geste der Republik Österreich übermittelt.

Wir haben als Antwort auf diese Geste, auf diese persönliche Zuwendung, eine Vielzahl von Briefen bekommen, und ich möchte Ihnen nur wenige Sätze aus solchen Briefen vorlesen:

Kurt H. hat uns am 24. März 1998 aus den USA folgendes geschrieben:

„Vor sechs Wochen waren 60 Jahre vergangen, seit ich mit meinen Eltern meine Geburtsstadt Wien verlassen mußte, um einer Verhaftung zuvorzukommen und den Versuch einer illegalen Einreise in die Schweiz zu wagen. Nur dank glücklicher Umstände gelang diese und gelang – nach übergroßen Schwierigkeiten – der Erhalt einer Aufenthaltsbewilligung.

In den all den vergangen Jahren wartete ich, um ehrlich zu sein, auf ein Zeichen des persönlichen Verständnisses und Mitgefühls aus Österreich. Wenn es nun nach langen Jahren kommt, so nehme ich es dankbar an: nicht so sehr des materiellen Wertes wegen, sondern als Zeichen der Hoffnung, daß mindestens der Großteil des österreichischen Volkes – und, wie ich hoffe, vor allem der Jugend – sich seiner Vergangenheit stellt und bereit ist, dafür zu sorgen, daß sich 1938 bis 1945 niemals wiederholt.“

Ein weiterer Brief aus Lateinamerika:

„Ich stimme mit Ihnen überein, daß nichts die Verbrechen des Nationalsozialismus ungeschehen machen kann, aber die Tatsache, daß eine neue Generation von Österreichern sich von den Greueln dieser Zeit losgelöst hat und dies durch Taten beweist, erfüllt mich heute mit tiefer Genugtuung. Ich möchte betonen, von welch großem Wert es für mich ist, daß mir im vergangenen Jahr meine österreichische Staatsbürgerschaft zurückgegeben wurde und daß ich nun ein weiteres Zeichen erhalten habe, daß der österreichische Staat seine verstoßenen Bürger nicht vergessen hat.

Ich danke Gott, daß es mir vergönnt war, dies noch zu erleben.“

Und ein letztes Schreiben an den Nationalfonds, in dem es heißt:

„Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Präsident, und bei den Vertretern des österreichischen Volkes im Parlament für diese großherzige Geste bedanken.

Ich möchte hervorheben, daß auch in den Stunden der Verbitterung Österreich meine Heimat geblieben ist, da ich während der Zeit meiner Entwicklung in Wien gelebt habe.

Ich fasse die Errichtung des Nationalfonds als Geste der Versöhnung auf und hoffe, daß sie dazu beiträgt, daß das Österreich der Klimts, Schieles und Wagner-Jaureggs wieder mit dem Österreich der Mahlers, Schnitzlers und Freuds vereinigt wird. Im Sinne dieses Geistes der Versöhnung verbleibe ich ...“

Meine Damen und Herren!

Das Wort „Versöhnung“ aus dem Mund der Vertriebenen und Gequälten ist etwas unendlich Kostbares. Ich behaupte, daß auch nur ein einziger solcher Brief von einem Menschen, der unschuldigerweise aus der Heimat verjagt wurde und in den meisten Fällen obendrein Schreckliches erleben mußte, daß auch nur ein einziger solcher Brief die größten Anstrengungen rechtfertigen würde. Wir haben aber viele Hunderte solcher Briefe erhalten und vielen Tausenden Menschen eine Versöhnung mit ihrer Heimat ermöglicht oder zumindest einer Versöhnung nähergebracht. Daher möchte ich mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die zum Zustandekommen dieses Nationalfonds beigetragen haben und auch bei allen jenen, die die tägliche Arbeit des Nationalfonds mit Leben erfüllen.

Herr Präsident des Bundesrates! Meine Damen und Herren! Die Opfer des Nationalsozialismus in ihrer Gesamtheit in unserem Bewußtsein zu erfassen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Diese Zahlen, dieses Unheil, dieses Unglück kann man sich nicht wirklich vorstellen. Wir können uns aber vielleicht eher einen Menschen vorstellen, wie zum Beispiel auch das Mädchen Anne Frank, das zu seinem 13. Geburtstag im Jahre 1942 ein Tagebuch geschenkt bekommen und dieses dann bis zur Verhaftung der Familie am 4. August 1944 geführt hat.

Das Tagebuch der Anne Frank ist deshalb so erschütternd und deshalb so berühmt, weil es so alltäglich ist, weil es so konkret ist, weil es so voll der Hoffnungen und voll des Zweifels ist, wiewohl auch andere Menschen damals voller Hoffnungen und voller Zweifel und Verzweiflung waren, weil es – mit einem Wort – so menschlich ist.

Daher war auch die Zerstörung dieses einen Menschenlebens so unmenschlich, weil wir uns diesen Menschen so konkret und menschlich vorstellen können.

Wir haben uns daher in Zusammenarbeit mit der Wiener Staatsoper entschlossen, in den Mittelpunkt dieser heutigen Gedenkveranstaltung die österreichische Erstaufführung der Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ zu stellen.

Diese Oper – ich sage das auch für die Zuseher im Fernsehen – ist ein Werk des russischen Komponisten Grigori Frid, dessen Aufführung in der Sowjetunion zunächst verboten wurde und erst später möglich war. Die deutsche Erstaufführung fand im März 1993 in Nürnberg statt und die österreichische Erstaufführung wurde dank der Bereitschaft von Staatsoperndirektor Ioan Holender in Kooperation zwischen Oper und Parlament für den heutigen Gedenktag in Aussicht genommen. Ich möchte mich ausdrücklich bei Herrn Direktor Holender und der Wiener Staatsoper dafür bedanken.

Die musikalische Leitung liegt bei Asher Fisch, die Inszenierung bei Erwin Piplits; Anne Frank wird von Anat Efraty gesungen, einer jungen Sängerin aus Israel, die seit der Saison 1996/97 Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper ist.

Ich danke allen, die bei den Vorbereitungen behilflich waren und heute mitwirken.

Herr Bundespräsident! „Nach Auschwitz kann man keine Gedichte mehr schreiben“ meinte bekanntlich Adorno in seiner Erschütterung über das, was sich in Auschwitz und in anderen Konzentrationslagern ereignet hat.

Mehr als 50 Jahre nach Auschwitz, nach Mauthausen, nach Bergen-Belsen und so weiter dürfen wir den Mut haben zu sagen:

Auch nach Auschwitz sind Männer und Frauen herangewachsen, die wieder Gedichte schreiben können, die musizieren und Bilder malen können.

Worauf es ankommt, ist, daß sich Auschwitz, Mauthausen, Bergen-Belsen und ähnliches niemals wiederholen darf, niemals wiederholen kann und niemals wiederholen wird. – Ich danke Ihnen. (Beifall.)

*****

Beginn der Mono-Oper „Anne Frank“

im Beisein des St. Petersburger Komponisten Grigori Frid; Asher Fisch dirigiert das Bühnenorchester der Österreichischen Bundestheater; Sopranistin: Anat Efraty; Bühnenbild und Regie: Erwin Piplits; Kostüme: Ulrike Kaufmann.

 

 

Am Ende der rund einstündigen Opernaufführung überreicht Nationalratspräsident Dr. Heinz Fischer Anat Efraty einen Blumenstrauß.


 

Bundesratspräsident Ludwig Bieringer

führte im Anschluß daran aus:

Herr Bundespräsident! Meine Damen und Herren!

Wir stehen alle noch unter dem unmittelbaren Eindruck des vorangegangenen Erlebnisses. Noch hallen die letzten Klänge der Musik in uns nach, noch klingen die Worte nach, die Anne Frank an jenem 23. Februar 1944 geschrieben hat.

Die Worte eines noch nicht 15jährigen Mädchens, das sich damals seit eineinhalb Jahren mit seiner Familie im Hinterhaus Prinsengracht 263 in Amsterdam in ständiger Angst vor den Nazi-Schergen versteckt hielt, diese Worte der Hoffnung und der Zuversicht dringen tief ins Herz jedes Menschen ein, der sie vernimmt. Sie legen Zeugnis ab von der dem Menschen innewohnenden Kraft, auch in der Erfahrung von Leid, Unterdrückung und Verfolgung Lebensmut und Hoffnung nicht aufzugeben.

Meine Damen und Herren!

Wenig mehr als ein Jahr, nachdem Anne Frank jene Gedanken ihrem Tagebuch anvertraut hatte, ist sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen umgekommen. Von den acht im Hinterhaus an der Prinsengracht Untergetauchten hat nur Annes Vater, Otto Frank, die Deportation ins Konzentrationslager überlebt. Als er 1945 nach längeren Nachforschungen schließlich die Nachricht vom Tod seiner beiden Töchter erhielt, muß für ihn noch einmal eine Welt zusammengebrochen sein. Dennoch hat auch ihn dieses vielleicht größte Leid, das ein Mensch erfahren kann, nämlich den Tod der eigenen Kinder erleben zu müssen, nicht gebrochen, hat auch er ein Zeichen des Lebensmutes gesetzt, indem er das Vermächtnis seiner Tochter Anne erfüllt und ihre Tagebuchaufzeichnungen, so wie sie dies geplant hatte, unter dem Titel „Das Hinterhaus“ in Buchform herausgegeben hat.

Während Annes Vater zunächst Schwierigkeiten hatte, einen Verleger zu finden, und das Buch schließlich 1947 in einer Erstauflage von nur 1 500 Exemplaren herauskam, hat es seither, im vergangenen halben Jahrhundert, viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt in seinen Bann gezogen; die Gesamtauflage dürfte bei etwa 16 Millionen Exemplaren liegen. Ein auf dem Buch fußendes Theaterstück und die Mono-Oper von Grigori Frid, deren österreichische Erstaufführung wir erleben durften, haben Anne Franks Gedanken ebenso verbreiten geholfen wie Ausstellungen, die in vielen Ländern der Erde gezeigt worden sind, und die Umwandlung des Amsterdamer Hinterhauses in eine Gedenkstätte.

Es ist die Authentizität des Erlebens, die sich in Anne Franks Tagebüchern niederschlägt, es ist aber auch die individuelle Erfahrbarkeit von Leid und Verfolgung, die uns Anne Franks Aufzeichnungen so nahegehen läßt. Am Schicksal dieses Mädchens wird das Leid, das die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über eine ganze Generation von Kindern und Erwachsenen gebracht hat, viel unmittelbarer begreifbar als in den Untersuchungen der Historiker, so umfassend sie auch quellenmäßig belegt sein mögen. Die Ermordung von 6 Millionen Juden, darunter 1 Million Kindern, ist eine Tatsache, die in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit zu erfassen der menschliche Verstand und das menschliche Empfinden gar nicht fähig sind. Zumindest ansatzweise erfahrbar ist dieses Grauen im Grunde nur dann, wenn wir uns die Perspektive Abel Herzbergs zu eigen machen, der geschrieben hat: „Nicht 6 Millionen Juden wurden ermordet. Ein Jude wurde ermordet, und das ist 6 Millionen Mal geschehen.“

So betrachtet, ist auch jenes Leid im buchstäblichen Sinn des Wortes unermeßlich, das sich hinter der zahlenmäßigen Opferbilanz der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Österreich verbirgt:

Über 65 000 österreichische Juden sind in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Hitlerdeutschlands ermordet worden.

2 700 österreichische Antifaschisten sind als Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.

Jeweils mehr als 16 000 Österreicher sind in GESTAPO-Haft sowie als Häftlinge in Konzentrationslagern ums Leben gekommen.

380 000 zur Deutschen Wehrmacht eingezogene Österreicher – das sind etwa 10 Prozent der männlichen Bevölkerung – sind aus dem Krieg nicht zurückgekehrt.

Über 24 000 österreichische Zivilisten sind bei Luftangriffen und Kriegshandlungen umgekommen.

Gestatten Sie mir daher, meine Damen und Herren, an dieser Stelle etwas zu tun, was in Gedenkreden ungewöhnlich sein mag, deren Aussagen üblicherweise ein möglichst allgemeiner und dadurch allgemeingültiger Charakter verliehen wird: Gestatten Sie mir, dem Schicksal der Anne Frank einige österreichische Schicksale zur Seite zu stellen, in denen sich exemplarisch – und, wie ich meine, gerade dadurch nicht minder allgemeingültig – das Grauen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft widerspiegelt; das Grauen einer Herrschaft, unter der es genügte, drei jüdische Großeltern zu haben, um zunächst aller staatsbürgerlichen Rechte und wenig später auch des Lebens beraubt zu werden; einer Herrschaft, unter der Menschlichkeit ein Verbrechen war, unter der jeder, der einem Juden half, selbst sein Leben in Gefahr brachte; einer Herrschaft, unter der das Äußern einer eigenen, von jener des Regimes abweichenden politischen Meinung den Tod bringen konnte; einer Herrschaft, unter der diejenigen, die ihr Widerstand leisteten, nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um das ihrer Familienangehörigen und Freunde fürchten mußten.

Die Auswahl solcher Schicksale ist selbstverständlich eine völlig willkürliche. Als Salzburger und Salzburger Bundesrat habe ich Schicksale aus dem Bundesland Salzburg ausgewählt; aus jedem anderen österreichischen Bundesland würden sich zahllose nicht minder tragische und nicht minder grausame Schicksale nennen lassen.

Bereits am Tag des deutschen Einmarsches in Österreich, am 12. März 1938, wurden die Kaufleute Paul und Max Schwarz, die Eigentümer des am Alten Markt gelegenen bedeutendsten jüdischen Geschäfts der Stadt Salzburg, verhaftet, ihr Vermögen wenig später beschlagnahmt, ihr Geschäft „arisiert“.

14 Salzburger Priester wurden ins Konzentrationslager gebracht, vier von ihnen sind dort gestorben. Einer, der überlebt hat, war der Kooperator von Dorfgastein, Kaplan Andreas Rieser, der die Jahre von 1938 bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern zubringen mußte. Über die Repression, der er in Dachau ausgesetzt war, berichtet ein anderer Häftling in seinen Erinnerungen:

„Eines Tages gab ihm“, nämlich Kaplan Rieser, „ein SS-Mann den Befehl, aus ganz verrostetem Stacheldraht eine Art Diadem zu machen. Dann setzte er es ihm brutal auf den Kopf, rief einige Juden, die in der Nähe arbeiteten, herbei und zwang sie, die Dornenkrönungsszene zu spielen. Sie mußten grinsend um den dornengekrönten Priester herumtanzen, ihn schlagen, verhöhnen, anspeien ... Als er des Vergnügens überdrüssig wurde, ließ er sein Opfer, das noch immer den schrecklichen Stirnreif trug, schwere Schubkarren volladen, die es von dem einen Ende des Lagers zum anderen schieben mußte.“

Der Ortspfarrer meiner Heimatgemeinde Wals, Anton Raudaschl, nach Aussage eines Gendarmerieberichts „ein erbitterter Gegner der NSDAP“, erhielt zunächst Schulverbot und wurde unter dem Vorwurf, er habe auf Kinder, deren Eltern aus der Kirche ausgetreten waren, einzuwirken versucht, von der GESTAPO aus Salzburg verwiesen.

Meine Damen und Herren! Jedes dieser Einzelschicksale läßt sich durch Quellen belegen, die zwar nicht die gleiche Dichte wie die Tagebücher der Anne Frank haben mögen, aber uns, denen die „Gnade der späten Geburt“ zuteil wurde, eindringlich das Leid, welches das nationalsozialistische Terrorregime über so viele Menschen gebracht hat, erfahrbar machen.

Daß dies heute nicht weniger wichtig ist als in den vergangenen Jahrzehnten, diese Überzeugung bildet den Hintergrund, vor welchem der Nationalrat und der Bundesrat im November vergangenen Jahres in inhaltlich übereinstimmenden Entschließungen die Einführung des Gedenktages, den wir heute begehen, beschlossen haben.

Diesen Entschließungen zufolge wird dieser Tag als „Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ begangen. Schon in dieser Bezeichnung kommt die nicht bloß rückwärts gewandte, sondern auch auf die Gegenwart bezogene und in die Zukunft gerichtete Orientierung dieses Gedenktages zum Ausdruck.

Wir gedenken am heutigen Tag der Opfer, die der Nationalsozialismus gefordert hat: der Todesopfer ebenso wie jener, die unter ihm gelitten, diese Zeit des Leidens aber überlebt haben und von denen so viele ihr weiteres Leben in den Dienst des Aufbaus einer demokratisch-rechtsstaatlich strukturierten politischen Gemeinschaft gestellt und uns als ihr Vermächtnis hinterlassen haben. Ganz bewußt ist daher der 5. Mai als Termin für diesen Gedenktag gewählt worden, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, des grausamsten Zeichens der Schreckensherrschaft, das die nationalsozialistischen Machthaber auf österreichischem Boden errichtet haben, jenes Konzentrationslagers Mauthausen, in dem mehr als 100 000 unschuldige Menschen den Tod gefunden haben.

Über das Gedenken und die Erinnerung hinaus, die wir den Opfern des NS-Regimes schulden, soll uns dieser Tag von nun an alljährlich aufs neue mahnend daran erinnern, daß auch unsere heutige Gesellschaft vor den Gefahren vor Gewalt und Rassismus keineswegs gefeit ist; daß es gilt, diesen Gefahren auch dort, wo sie latent wirksam sind, stets aufs neue entgegenzutreten, Gefahren, wie sie sich beispielsweise manifestieren in Fremdenfeindlichkeit und Chauvinismus, in strukturellem Rassismus und Antisemitismus beispielsweise in der Alltagssprache, in der Neigung zur Verteufelung des politischen Gegners im eigenen Land und in der Bereitschaft zur Verharmlosung gewaltsamer Formen der politischen Konfliktaustragung, die wir jenseits unserer Grenzen beobachten müssen, die uns aber allzu oft nur schwache verbale Proteste abnötigen.

Meine Damen und Herren! Die Menschenrechte, denen wir uns verpflichtet fühlen, sind unteilbar und haben umfassende Geltung. Weder zum Teil noch zur Gänze dürfen sie irgendeinem Menschen wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner politischen Überzeugung, seiner Religion oder aus welchem Grund auch immer entzogen werden. Wo dies dennoch geschieht oder versucht wird, sind wir zur Solidarität aufgerufen: zu einer Solidarität, die im internationalen Rahmen nur dann effektiv sein kann, wenn sie sich im Kontext einer neuen, erst im Aufbau begriffenen Architektur sicherheitspolitischer Kooperation vollzieht.

Wir haben die Verpflichtung zur Solidarität mit all jenen, die in eine Rand- oder Außenseiterposition gedrängt zu werden drohen: sei dies nun aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation, ihres sozialen Status, ihrer ethnischen Herkunft und sprachlichen Zugehörigkeit, ihrer politischen Gesinnung oder aus welchem Grund auch immer. Die große Aufgabe der im Parlament repräsentierten politischen Gemeinschaft besteht in der politischen und sozialen Integration; nur sie erlaubt es, das Entstehen durch die Gesellschaft verlaufender Trenn- und Bruchlinien zu vermeiden, wie sie mehr als einmal schon in der Geschichte, wohl am unvergleichlich grausamsten aber in der Zeit des Nationalsozialismus, Anknüpfungspunkt für Unterdrückung und Verfolgung und Ausgangspunkt für unsägliches menschliches Leid gewesen sind.

Das Erinnern an diese Phasen der Geschichte hilft uns, dieser großen Aufgabe, die sich jeder Generation immer wieder aufs neue stellt, gerecht zu werden, im Sinne der Worte des leider allzu früh verstorbenen Salzburger Rechtsphilosophen René Marcic, der gemeint hat, dies sei notwendig „nicht um der Rache, vielmehr um der Wiedererrichtung der verlorenen Maße willen“, und der der Überzeugung war, „daß das Vergessen die Humanisierung aufhielte, zu deren Fortschreiten negative Anthropologie, der Abgrund, genausoviel beisteuert wie der Blick zur Höhe, deren der Mensch fähig ist“.

Diese Aufgabe der politischen und sozialen Integration und damit der Humanisierung, die sich unserer politischen Gemeinschaft, der Republik Österreich, stellt, mögen wir daher im Sinn tragen, wenn wir nunmehr zum Ausklang dieser Gedenkstunde gemeinsam die erste Strophe unserer Bundeshymne anstimmen.

Abschließend sei es mir gestattet, den Mitwirkenden an der heutigen Veranstaltung im Namen der Präsidien der beiden Organe der Bundesgesetzgebung meinen herzlichen Dank für ihren Einsatz auszusprechen. Alle Versammelten darf ich, um ihnen im Anschluß an die Gedenkfeier Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch zu geben, in die Säulenhalle des Parlaments einladen, wo gleichzeitig auch die Ausstellung des Gemäldezyklus „Neue apokalyptische Reiter“ von Karl Brandstätter besichtigt werden kann. – Ich danke Ihnen. (Beifall.)

*****

Die Teilnehmer erheben sich von ihren Plätzen und singen zum Abschluß der Gedenkveranstaltung die vom Bühnenorchester der Österreichischen Bundestheater intonierte österreichische Bundeshymne.

Nationalratspräsident Dr. Heinz Fischer erklärt die Gedenkveranstaltung um 12.45 Uhr für beendet.