2510/AB XXI.GP
Eingelangt am:27.07.2001
DER BUNDESMINISTER
FÜR JUSTIZ
Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Terezija Stoisits, Freundinnen und Freunde
haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „die noch nicht erfolgte Rehabili -
tierung des letzten bekannten Opfers einer Verurteilung auf Grund behaupteten
Ritualmords in Österreich, Leopold Hilsner“ gerichtet.
Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:
Zum Ablauf des gegen Leopold Hilsner geführten Strafverfahrens halte ich zunächst
fest, dass nach den mir vorliegenden Informationen das am 16. September 1899
vom Schwurgerichtshof in Kuttenberg gefällte Todesurteil vom Obersten Gerichts -
und Kassationshof nicht bestätigt, sondern mit Beschluss vom 25. April 1900 aufge -
hoben und die Strafsache zur neuerlichen Verhandlung vor das Schwurgericht in
Pisek verwiesen worden ist. In der Folge wurde zwar der Vorwurf des Ritualmordes
fallen gelassen, das Schwurgericht in Pisek fällte jedoch am 14. November 1900
nach siebzehntägiger Hauptverhandlung neuerlich ein Todesurteil, das mit
Entscheidung des Obersten Gerichts- und Kassationshofes vom 23. April 1901 in
Rechtskraft erwuchs.
Eine Befassung mit dieser Strafsache anhand einschlägiger Akten ist aus folgenden
Gründen schwierig:
Die ursprünglich sehr zahlreichen Akten des k.k. Justizministeriums betreffend
Leopold Hilsner wurden im Zuge der Aktenliquidierung nach dem Ersten Weltkrieg
an die Tschechoslowakische Republik abgetreten. Zurückgeblieben ist nur ein 45
Folien umfassender Akt, der aus dem Vortrag des Justizministers an Kaiser Franz
Joseph besteht und eine ausführliche Schilderung der Strafsache sowie den
Vorschlag, das Todesurteil gnadenweise in eine
Gefängnisstrafe umzuwandeln,
enthält. Des Weiteren findet sich in diesem Akt die von Kaiser Franz Joseph unter -
zeichnete allerhöchste Entschließung vom 11. Juni 1901 mit der vorgeschlagenen
Begnadigung.
In die in Frage kommenden Bände der Entscheidungssammlung des k.k. Obersten
Gerichts - und Kassationshofes wurden die Leopold Hilsner betreffenden
Entscheidungen nicht aufgenommen. Vermutlich in den Jahren 1938 oder 1939
wurden die damals im Aktenlager des Obersten Gerichtshofs noch vorhandenen
Zivil - , Straf - und Disziplinarakten zum Reichsgericht nach Leipzig verlagert. Diese
Akten sind im Zuge der Kriegshandlungen im Jahre 1945 vernichtet worden.
Im Vertrag von Saint Germain wurde zwar im Verhältnis zur Tschechoslowakischen
Republik das Schicksal vor allem anhängiger Verfahren, die das Gebiet dieses
Staates tangiert haben und vor österreichischen Gerichten geführt wurden, nicht
ausdrücklich geregelt, auf das bereits vorhandene Archivmaterial war jedoch jeden -
falls das Übereinkommen zwischen der Republik Österreich und der Tschechoslo -
wakischen Republik, betreffend die Durchführung einzelner Bestimmungen des
Staatsvertrages von Samt Germain - en - Laye, StGBI 1920/479, anzuwenden. Ob
nach Ende des Ersten Weltkriegs ein beim Obersten Gerichtshof vorhandener Akt
auf Grund dieses Vertrages an die Tschechoslowakische Republik übergeben
wurde, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, weil Akten aus dieser Zeit jedenfalls
nicht mehr vorhanden sind.
Davon ausgehend beantworte ich diese Fragen wie folgt:
Zu 1:
Der Fall Leopold Hilsner wurde dem Bundesministerium für Justiz durch eine von
Dr. Peter Vasicek verfasste, an den Herrn Bundespräsidenten gerichtete und mit
1. Mai 1999 datierte Eingabe bekannt, die im Bundesministerium für Justiz am
17. Mai 1999 einlangte. Die daraufhin durch die zuständige Fachabteilung vorge -
nommene Prüfung des Ersuchens des Einschreiters um Rehabilitierung von Leopold
Hilsner führte zu dem in meiner Antwort zu den Fragen 2. bis 4. dargestellten Ergeb -
nis.
Zu 2 bis 4:
Dieses Gutachten des Tschechischen Justizministeriums ist mir nicht bekannt. Ich
kann daher zu dort vertretenen Ansichten nicht
Stellung nehmen.
Ausgehend von den dem Bundesministerium für Justiz zur Verfügung stehenden
Informationen über die Strafsache gegen Leopold Hilsner stellt sich die Rechtslage
folgendermaßen dar:
Auf Grund des § 1 des Gesetzes vom 25. Jänner 1919 betreffend die Errichtung
eines Obersten Gerichtshofes, Staatsgesetzblatt Nr.41, ist dieser Gerichtshof an die
Stelle des ehemaligen österreichischen Obersten Gerichts - und Kassationshofes
getreten und hat dessen Aufgaben übernommen. Der Oberste Gerichtshof ist somit
eine neue Staatseinrichtung und keine von der Republik Österreich übernommene
Behörde der früheren Monarchie. Deshalb kann aus der Befassung des Obersten
Gerichts- und Kassationshofes mit der Strafsache gegen Leopold Hilsner eine
(weitere) Zuständigkeit der österreichischen Justizbehörden nicht abgeleitet werden.
Lediglich der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass sonst allenfalls denkbare
strafprozessuale Instrumente, Urteilen des Obersten Gerichts - und Kassationshofes
formell die Grundlage zu entziehen, im vorliegenden Fall nicht zur Verfügung
stehen:
Eine Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten ist zwar auch nach dessen Tod
zulässig (§ 354 StPO), wäre jedoch gegebenenfalls beim Gericht I. Instanz zu
beantragen. Insoweit liegt die Zuständigkeit im Bereich der tschechischen Justizbe -
hörden. Auch eine außerordentliche Wiederaufnahme nach § 362 StPO ist schon
deshalb nicht möglich, weil dem Urteil des Obersten Gerichts - und Kassationshofes
vom 23. April 1901 kein inländisches Strafverfahren mehr zugrunde liegt.
Eine Zuständigkeit der österreichischen Justiz für die angestrebte Rehabilitierung
von Leopold Hilsner ist auf Grund der österreichischen Rechtslage somit nicht
gegeben.
Zu 5:
Sollte es zutreffen, dass die erstinstanzlichen Urteile gegen Leopold Hilsner in der
Tschechischen Republik aufgehoben worden sind, so könnte den Bemühungen um
die Rehabilitierung von Leopold Hilsner von österreichischer Seite insoferne
Rechnung getragen werden, als eine solche Annullierung nach österreichischem
Recht als Wiederaufnahme (und nachfolgende Einstellung) des Verfahrens gegen
Leopold Hilsner gewertet werden könnte, wodurch die Entscheidung des Obersten
Gerichts - und Kassationshofes vom 23. April
1901 gegenstandslos wäre.
Ich habe daher mit Schreiben vom 5. Juni dieses Jahres meinen
tschechischen Amtskollegen ersucht, mir die in diesem Zusammenhang relevanten
Akten bzw. Aktenteile zukommen zu lassen bzw. sonstige ihm geeignet erschei -
nende Veranlassungen zu treffen, um mir die Überprüfung dieses auch an mich
herangetragenen Vorbringens zu ermöglichen.
Sollte die Aufhebung der erstinstanzlichen Urteile anhand amtlicher
tschechischer Unterlagen verifiziert werden können, nehme ich die Abgabe einer
formellen Erklärung im oben dargestellten Sinn in Aussicht.