3345/J XXI.GP

Eingelangt am: 31.01.2002

DRINGLICHE ANFRAGE

gemäß § 93 Abs. 1 GOG


der Abgeordneten Dr. Gusenbauer

und GenossInnen

an den Bundeskanzler

betreffend die Regierungskrise zum Schaden Österreichs

Die Bundesregierung hat den ÖsterreicherInnen in den letzten Tagen und Wochen ein
unglaubliches Bild der Uneinigkeit, Zerstrittenheit und der Handlungsunfähigkeit geboten. In
einer zentralen Frage des Regierungsübereinkommens - der Erweiterung der Europäischen
Union - zeigt sich ein unlösbar scheinender Konflikt zwischen beiden Regierungsparteien. In
der Frage der nuklearen Sicherheit, insbesondere im Fall des AKW Temelin, gibt es keine
gemeinsame Vorgangsweise der Bundesregierung. Tatsächlich ist es ein einmaliger Vorgang
in der Geschichte der Zweiten Republik, dass eine Koalitionspartei ein Volksbegehren
initiiert, das gegen die Politik der Bundesregierung gerichtet ist, um sich damit gegen den
anderen Teil der Koalitionsregierung durchzusetzen.

Das Ergebnis des Volksbegehrens zeigt die große Angst, die es in der Bevölkerung vor der
Risikotechnologie Atomenergie gibt, zugleich ist es Ausdruck des Misstrauens in den von
Ministerpräsident Zeman und Bundeskanzler Schüssel in Brüssel ausverhandelten Vertrag.
Die Bundesregierung war bis heute nicht in der Lage, der Bevölkerung Aufschluss darüber zu
geben, welche Schritte sie nun setzen wird, um ein Mehr an Sicherheit für die österreichische
Bevölkerung zu erzielen bzw. einen Durchbruch in Richtung Stilllegung des AKW Temelin
zu erreichen. Selbst innerhalb der Regierungsparteien, die “Europapartei" ÖVP ist davon
nicht ausgenommen, gibt es völlig unterschiedliche Auffassungen über die weitere
Vorgangsweise.

Innen- und außenpolitisch betrachtet kann man die Ereignisse der letzten Wochen nur als
Fiasko bezeichnen. Der Rückfall in alte Denk- und Konfliktmuster ist unübersehbar. Der
Ortstafel streit belastet nicht nur das Verhältnis zur österreichischen Volksgruppe der
Slowenen sondern auch zur Republik Slowenien. Zwischen der Tschechischen Republik und


Österreich eskaliert ein Krieg der Worte, alte Feindbilder werden wieder zum Leben erweckt,
Emotionen und Vorurteile werden geschürt. Das Verhältnis, so das Resümee von Andreas
Unterberger in der “Presse", zu einem wichtigen Nachbarland ist auf lange Zeit gestört, mit
noch unabsehbaren Folgen (Die Presse, 24. Jänner 2002). Von einer “Strategischen
Partnerschaft" mit Österreichs mittel- und osteuropäischen Nachbarländern, die im letzten
Jahr noch vollmundig von Außenministerin Ferrero-Waldner verkündet wurde, hat man
bezeichnenderweise nie wieder etwas gehört. Dass die Regierung diese Sprechblase von
Anfang an nicht wirklich ernst genommen hat, hat sie - etwa mit dem Verbot von
Stromimporten - bereits in der Vergangenheit bewiesen. Ein weiteres Konfliktfeld, das nun
gegenüber der Tschechischen Republik aufgebaut wird, ist das der Benes-Dekrete. Für die
FPÖ sind die Benes-Dekrete ein weiterer Grund für ein Veto gegen den Beitritt der
Tschechischen Republik (News, 24. Jänner 2002), die ÖVP sendet dazu - wie schon im Fall
Temelin - widersprüchliche Signale. Zu befürchten ist, dass durch die verbalen Drohungen
gegenüber der Tschechischen Republik eine Lösung der Frage, um die sich Diplomaten und
Historiker im Hintergrund bemühten, scheitern könnte.

Innerhalb der Europäischen Union gerät die Regierung mit diesem Schlingerkurs zunehmend
in Isolation. Die Unberechenbarkeit der österreichischen Regierungspolitik verunsichert die
EU-Partner. Für die österreichische Bundesregierung wird es dadurch noch schwieriger,
Unterstützung seitens der EU-Partner zu bekommen. Wichtige österreichische Interessen
bleiben auf der Strecke, weil es der Bundesregierung nicht gelingt, Bündnispartner zu finden.
De facto war die Erfindung der “Strategischen Partnerschaft" mit den mittel- und
osteuropäischen Nachbarn von der Absicht getragen, den unterkühlten Kontakten der
Bundesregierung mit einigen EU-Partnern künftig ein anderes Bündnissystem
entgegenzustellen. In nostalgischer Reminiszenz wünschte sich die Bundesregierung eine
Führungsrolle Österreichs in Mitteleuropa. Dieser Versuch ist gründlich gescheitert.

Die Politik der schwarz-blauen Koalition läuft darauf hinaus, das Image Österreichs im
Ausland zu schädigen. Lösungen wichtiger Fragen im Interesse Österreichs werden dadurch
schwieriger. Die Koalition nimmt das nach wie vor in Kauf. Eine Politik, die in alte Freund-
Feind-Schablonen verfällt, die Beziehungen zu den Nachbarstaaten und den EU-Partnern
leichtfertig und permanent aufs Spiel setzt und die Erweiterung der Europäischen Union in
Frage stellt, richtet sich letztlich gegen die Interessen Österreichs. Schließlich sollte die
Regierung wissen, dass Österreich zu jenen Ländern gehört, die bisher wirtschaftlich am
meisten von der Ostöffnung profitiert haben.


Die regierungsinternen Turbulenzen der letzten Wochen um die zweisprachigen Ortstafeln in
Kärnten, die von einem Teil der Koalition geführten Angriffe gegen den
Verfassungsgerichtshof als Garanten der Verfassung und der Grundrechte, die
Vorgangsweise in Bezug auf das AKW Temelin, die Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten
und die Position zur Erweiterung der EU, haben - ungeachtet des politischen Schadens, der
für Österreich entstanden ist - für die Regierung doch den Vorteil, von der wirtschaftlichen
und sozialen Schadensbilanz abzulenken, die das “Neu Regieren" von ÖVP und FPÖ den
Österreicherinnen gebracht hat. Österreich, das sich zwischen 1970 und 1999 auf der
europäischen Überholspur befunden hat, ist seit dem Amtsantritt der schwarz-blauen
Regierung auf eine Kriechspur zurückgefallen.

Nach dem Bundesministeriengesetz 1986 i.d.g.F., Anlage zu § 2, Teil 2 ist der Bundeskanzler
insbesondere auch für die wirtschaftliche Koordination und die zusammenfassende
Behandlung der Strukturpolitik zuständig. Weiters ist er für “Angelegenheiten der staatlichen
Verfassung" zuständig. Politisch gesehen, trägt er die Gesamtverantwortung für das Handeln
der Bundesregierung. Daher stellen die unterzeichneten Abgeordneten an den Bundeskanzler
nachstehende

Dringliche Anfrage:

1.   Stimmt es, dass laut Statistiken des AMS der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Österreich
im Dezember 2001 gegenüber Dezember 2000 einen Rekordwert von 50 689
zusätzlichen Arbeitslosen erreicht hat?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

2.   Stimmt es, dass - wie ein Gutachten der Europäischen Kommission zeigt - Österreich
in der Europäischen Union Schlusslicht bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze und
Spitzenreiter beim Nettoverlust von Arbeitsplätzen ist?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

3.   Stimmt es, dass Österreich laut EU-Kommission mit seinem realen
Wirtschaftswachstum an vorletzter Stelle der Europäischen Union liegt?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?


4.   Stimmt es, dass die Steuerquote in Österreich nach Berechnungen der EU-Kommission
den historischen Höchstwert von 47% des BIP erreicht hat?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

5.   Stimmt es, dass die Belastungsmaßnahmen der Bundesregierung, wie die Einführung
der Ambulanzgebühren, die Erhöhung der Energieabgabe, die Erhöhung des Preises der
Autobahnvignette, die Erhöhung der Gerichtsgebühren etc., untere und mittlere
Einkommensbezieher relativ stärker belasten als die Bezieher höherer Einkommen?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

6.   Stimmt es, dass Österreich im Jahr 2001 somit das Land mit den höchsten
Steuererhöhungen in der EU war?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

7.   Stimmt es, dass Österreich, was den Nettoeinkommenszuwachs betrifft, laut Daten der
EU an letzter Stelle in der Europäischen Union liegt?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

8.   Stimmt es, dass somit relevante österreichische Wirtschaftsdaten - wie
Wirtschaftswachstum, Anstieg der Arbeitslosigkeit und Entwicklung der
Nettoeinkommen - den Berechnungen der EU zufolge erstmals schlechter als im EU-
Durchschnitt sind?
Wenn ja, was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?

9.   Mit welchen Maßnahmen wird die Bundesregierung ihren Beitrag zur Umsetzung der
von der EU beschlossenen “Lissabonner-Strategie" leisten, die jährlich konkrete
Schritte zur Erreichung eines jährlichen Wirtschaftswachstums von 3% und die
Erhöhung der Gesamtbeschäftigungsquote auf 70% vorsieht?

10. Sehen Sie als Bundeskanzler eine Chance, mit der Tschechischen Republik rechtlich
verbindliche Sicherheitsmaßnahmen hinsichtlich des AKW Temelin zu vereinbaren,
die (im Gegensatz zu der von Ministerpräsident Zeman und Ihnen getroffenen
Vereinbarung) nicht ausschließlich vom Ermessen der tschechischen
Atomenergiebehörde abhängen?


11. Wird die österreichische Bundesregierung über die Stilllegung des AKW Temelin
verhandeln? Werden diese Verhandlungen wie von der FPÖ angekündigt von
Vizekanzlerin Riess-Passer geführt werden?

12. Stärkt es die Position der österreichischen Bundesregierung, dass ein Teil der Koalition
mit dem Veto gegen den Beitritt der Tschechischen Republik droht?

13. Gibt es einen Beschluss der Bundesregierung oder beabsichtigen Sie einen solchen
herbeizuführen, dass Außenministerin Ferrero-Waldner bei der nächsten Ratstagung
“Allgemeine Angelegenheiten" an die anderen Mitgliedstaaten der EU herantreten
wird, um die Verhandlungen über das Energiekapitel wieder aufzunehmen? Wenn ja,
welche Chancen sehen Sie, sich mit diesem Anliegen durchzusetzen? Wenn nein,
warum nicht?

14. Welche Schritte werden Sie setzen, um beim Europäischen Rat von Barcelona die
Frage des europaweiten Ausstiegs aus der Kernenergie zu thematisieren?

15. Wieso gibt es bis heute keinen Versuch der österreichischen Bundesregierung, jene
Mitgliedstaaten der EU, die bereits jetzt auf eine Kernenergienutzung verzichten oder
die einen Ausstieg aus der Atomenergie bereits beschlossen haben, für einen
europaweiten Ausstieg aus der Kernenergie zu gewinnen?

16. Wie beurteilen Sie als Vorsitzender dieser Bundesregierung die von Ihrem

Regierungspartner vorgebrachte Forderung, auch die Frage der Benes-Dekrete mit den
Erweiterungsverhandlungen zu verknüpfen und gegebenenfalls ein Veto gegen den
Beitritt der Tschechischen Republik zur EU einzulegen?

17. Welchen Stellenwert hat das in der Präambel zum Regierungsübereinkommen
gegebene Bekenntnis zur Erweiterung in der konkreten Politik Ihrer Koalition?

18. Teilen Sie als zuständiges Mitglied der Bundesregierung für “Angelegenheiten der
Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit" die Auffassung des Kärntner
Landeshauptmannes und Mitunterzeichners des Koalitionspaktes Dr. Jörg Haider, der
Verfassungsgerichtshof sei “politisch korrumpiert", und halten Sie solche Äußerungen
für eine bloße Stilfrage?


19. Meinen Sie, die Verfassungsrichter hätten es sich mit ihren Bezügen “gerichtet", und
werden Sie daher als zuständiges Mitglied der Bundesregierung eine Änderung bei den
Bezügen der Verfassungsrichter initiieren?

20. “Früher haben wir Kollegen in den Oststaaten getröstet", sagt laut Kurier vom
29.1.2002 ein Mitglied des Verfassungsgerichtshofes. Am 9.1.2002 schickte die
Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichtes Jutta Limbach ein
Solidaritätsschreiben an den österreichischen Verfassungsgerichtshof, in dem es hieß:
“Mit großer Anteilnahme verfolgen wir Ihren unbeirrten Einsatz für die Minderheiten-
Rechte und die richterliche Unabhängigkeit. Unser Kompliment! Im Geiste scharen wir
uns um Sie und Ihren Präsidenten."

Was werden Sie als das für “Angelegenheiten der Verfassungs- und
Verwaltungsgerichtsbarkeit" zuständige Mitglied der Bundesregierung unternehmen,
um das Ansehen dieses österreichischen Höchstgerichtes vor ungerechtfertigten
Angriffen, die den Rechtsstaat insgesamt in Frage stellen, zu schützen?

21. Wie reagieren Sie als das für “Angelegenheiten der Verfassungs- und

Verwaltungsgerichtsbarkeit" zuständige Mitglied der Bundesregierung auf das absurde
Vorhaben von Seiten Kärntner Freiheitlicher, das Verfassungsgerichtshoferkenntnis
betreffend die Ortstafel frage “auf Nichtigkeit" überprüfen zu lassen?

22. Teilen Sie die Auffassung der Presse-Journalistin Anneliese Rohrer, die vor einigen
Tagen die Bilanz der Bundesregierung in der Außenpolitik folgendermaßen
zusammenfasste: “Bei den EU-Partnern herrscht Misstrauen und Herablassung, bei den
Nachbarn konnte man weder Vertrauen noch Respekt festigen. Die außenpolitischen
Konsequenzen der innenpolitischen Turbulenzen kann man nicht verhindern. Der
ständige Wechsel der Persönlichkeit von Schlitzohr zu Kraftmeier hat Konsequenzen.
Schaden hat das Land" (Die Presse, 8. Jänner 2002)?

23. Wie stehen Sie zu den Schlussfolgerungen, die in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung
über die Bilanz der Bundesregierung gezogen wurde: “Die schwarz-blaue Koalition, die
uns für die vielen Entbehrungen auf dem Weg zum Nulldefizit eines Tages mit einer
Steuerreform belohnen will, hat die höchste Belastungsquote aller Zeiten zu
verantworten. (...) Auf der ganzen Welt gibt es nur vier Staaten, die bei Unternehmen
und Bürgern noch ungenierter abkassieren - ein trauriger Spitzenplatz von geradezu
konkurrenzschädigender Signalwirkung für den Wirtschaftstandort, ganz zu schweigen
von der Frustration, die eine solche Schröpfung bei den Verdienern hervorruft. (...) Das


Inkassobüro Schüssel & Co. nimmt uns aus wie die Weihnachtsgänse. Bloß dass dieses
Weihnachten schon fast bis Schulschluss dauert. Von wegen ,Österreich neu regieren':
Diese Regierung schaut ganz schön alt aus." (Neue Vorarlberger Tageszeitung, 19.
Jänner 2002)?

In formeller Hinsicht wird verlangt, diese Anfrage gem. § 93 Abs. 1 GOG dringlich zu
behandeln.