844/AB XXII. GP

Eingelangt am 24.11.2003
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

BM für Wirtschaft und Arbeit

 

Anfragebeantwortung

 

In Beantwortung der schriftlichen parlamentarischen Anfrage Nr. 839/J betreffend
"100 Stunden gratis Arbeiten für Hettlage", welche die Abgeordneten Mag. Johann
Maier, Kolleginnen und Kollegen am 24. September 2003 an mich richteten, stelle
ich fest:

Antwort zu den Punkten 1 bis 7 der Anfrage:

Vorweg ist festzustellen, dass es im folgenden nur um die Darstellung der geltenden
Rechtslage im Zuständigkeitsbereich des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit
gehen kann, nicht jedoch um die Lösung von Rechtsfragen in einer allfälligen ar-
beitsrechtlichen Streitigkeit, da diese Aufgabe letztlich den unabhängigen Gerichten
obläge.

Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist zu der in der parlamentarischen Anfrage geschilder-
ten Vorgangsweise der Firma Hettlage - wie auch immer der von der Firma allenfalls
angestrebte "Verzicht" arbeitsvertragsrechtlich konkret umgesetzt wird - grundsätz-
lich Folgendes festzuhalten:

Unabdingbare Ansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind grund-
sätzlich unverzichtbar, solange das Arbeitsverhältnis aufrecht ist, gleichgültig, ob es
sich um bereits fällige oder zukünftige unabdingbare Ansprüche handelt.


Auch die Phase der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist in den Zeitraum ein-
zubeziehen, in dem Unverzichtbarkeit gegeben ist. Ein Verzicht in dieser Phase soll
nur dann zulässig sein, wenn einerseits die Ansprüche des Arbeitnehmers bzw. der
Arbeitnehmerin im Wesentlichen befriedigt sind, andererseits die vom Verzicht
betroffenen Forderungen im Vergleich zu den bereits befriedigten Forderungen des
Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin nicht erheblich sind.

Bei der Frage der Zulässigkeit eines Verzichts nach der Beendigung des Arbeits-
verhältnisses ist zu prüfen, ob noch ein die Drucksituation indizierendes Ab-
hängigkeitsverhältnis vorliegt (etwa eine Konkurrenzklausel).

Im Einzelnen ist ausgehend von diesen rechtlichen Grundsätzen zum Inhalt des
Schreibens der Firma Hettlage Folgendes auszuführen:

Auf Entgeltansprüche als unabdingbare Ansprüche, die auf Gesetz oder Normen der
kollektiven Rechtsgestaltung beruhen, kann jedenfalls während des aufrechten Ar-
beitsverhältnisses rechtswirksam nicht verzichtet werden, gleichgültig, ob diese An-
sprüche bereits entstanden und auch fällig geworden sind, oder ob sie für zukünftig
zu erbringende Arbeitsleistungen gebühren.

Im Arbeitsrecht selbst findet sich zum Thema „Verzichtbarkeit von Ansprüchen"
keine ausdrückliche gesetzliche Regelung.

Die Regelungen des § 40 Angestelltengesetz (AngG), des § 1164 Abs. 1 Allge-
meines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) und § 3 Abs. 1 Arbeitsverfassungsgesetz
(ArbVG) normieren, dass bestimmte Rechte durch den Arbeitsvertrag weder aufge-
hoben noch beschränkt werden können; diese Bestimmungen sagen aber nichts
über die Zulässigkeit eines Verzichtes auf derartige Rechte aus.

Judikatur und Lehre haben zu dieser Themenstellung folgende Grundsätze ent-
wickelt:


Bereits im Judikat Nr.26 (OGH vom 8.6.1927, Arb 3725) ging der OGH davon aus,
dass ein Verzicht während der Dauer des Arbeitsverhältnisses unwirksam ist, weil
angenommen werden muss, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmer
in diesen
Verzicht nicht frei, sondern unter wirtschaftlichem Druck abgibt, etwa weil er bzw. sie
sonst den Verlust des Arbeitsplatzes befürchten muss.

Diese Rechtsmeinung wurde von der späteren Judikatur anerkannt (vgl. Arb 7588;
Arb 9160; Arb 9314; RdW 1996, 128).

Basierend auf der Drucktheorie ist ein Verzicht auf unabdingbare Ansprüche des
Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin nur dann zulässig, wenn diese Ansprüche
bereits entstanden sind und das Arbeitsverhältnis beendet ist oder anlässlich der
Lösung kein wirtschaftlicher Druck mehr auf den Arbeitnehmer bzw. die Arbeit-
nehmerin ausgeübt werden kann.

Die Entscheidung des OGH vom 16.10.1973, Arb 9160, worin er die widerlegbare
Vermutung aufstellt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin unter Druck
steht, wurde in der Lehre vielfach kritisiert. Auch wenn der OGH hier einen strengen
Maßstab anlegt, führe diese Rechtansicht zu Rechtsunsicherheit und stelle den
Schutzgedanken des Arbeitsrechts in Frage.

In der Entscheidung vom 5.3.1997, 9 Ob A 36/97b, Arb 11.577, vertrat der OGH
hingegen die Ansicht, dass ein Verzicht auf Entgelt- und Urlaubsansprüche, sohin
auf unabdingbare Ansprüche während des aufrechten Arbeitsverhältnisses, wenn
sich dieses auch in der Auflösungsphase befindet, oder aus Anlass der Beendigung
des Arbeitsverhältnisses vor Fälligkeit der Ansprüche, ungeachtet einer Druck-
situation unwirksam ist.

Auch in der Lehre wird allgemein vertreten, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeit-
nehmerin bei aufrechtem Arbeitsverhältnis auf erworbene Ansprüche nicht wirksam
verzichten kann (siehe etwa Schrank, Zur Zulässigkeit von „Verschlechterungsver-
einbarungen" bei aufrechtem Arbeitsverhältnis, RdW 1983, 12ff; Eypeltauer, DRdA
1985, 406ff; Schwarz/Löschnigg, Arbeitsrecht9, 2001, 78ff).


Anders stellt sich allerdings die Rechtslage dar, wenn es um die Beurteilung des
Verzichts auf abdingbare künftige Rechte geht. Ein solcher Verzicht wird grund-
sätzlich als zulässig angesehen.

So stellt der OGH in seiner Entscheidung vom 18.10.1983, 4 Ob 105/82, Arb 10.303,
fest, dass die Drucktheorie dort keine Anwendung findet, wo es nicht um einen
Verzicht auf bereits erworbene, durch keine Gegenleistung mehr bedingte An-
sprüche des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin geht, sondern um eine aus-
drücklich erklärte, die Rechstellung für die Zukunft teilweise verschlechternde Ver-
tragsänderung.

Eine solche „Verschlechterungsvereinbarung" ist allerdings nur innerhalb der von
Gesetz, Kollektivvertrag und Betriebsvereinbarung vorgegebenen Grenzen zulässig
(zuletzt Kuras, Möglichkeiten und Grenzen einzelvertraglicher Gestaltungen im
aufrechten Arbeitsverhältnis, ZAS 2003, 19ff). Eine einvernehmliche Entgeltreduktion
findet daher ihre Untergrenze im gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Entgelt.

Ob eine Verschlechterungsvereinbarung nach § 870 ABGB wegen rechtswidrigen
Zwangs oder List angefochten werden kann, ist im Einzelfall zu prüfen. Eine Kündi-
gungsandrohung bedeutet idR keine Ausübung rechtswidrigen Zwanges (siehe Arb
10.303). Fraglich ist, ob nicht im Einzelfall ein besonderer, auf dem Arbeitnehmer
bzw. der Arbeitnehmerin zum Zeitpunkt des Abschlusses der „Verschlechterungs-
vereinbarung" lastender Druck ausnahmsweise die Unzulässigkeit auch eines Ver-
zichts auf abdingbare Ansprüche bewirken kann.

Mit einem derartigen Fall wie in der parlamentarischen Anfrage geschildert, wurde
das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit bisher noch nicht konfrontiert.

Abschließend ist darauf zu verweisen, dass Entgeltansprüche grundsätzlich binnen
drei Jahren verjähren (siehe § 1486 Z 5 ABGB), sofern in Kollektivverträgen keine
Verfallsfristen vorgesehen sind.