3079/AB XXII. GP

Eingelangt am 08.08.2005
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

 

 

DIE  BUNDESMINISTERIN

           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0056-Pr 1/2005

 

An den

                                      Herrn Präsidenten des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 3161/J-NR/2005

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Gisela Wurm, Kolleginnen und Kollegen  haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern des menschenrechtswidrigen § 209 StGB“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 bis 5:

Das hier in Rede stehende Gnadenverfahren wurde auf Grund einer Gnadenbitte eingeleitet, die an den Herrn Bundespräsidenten gerichtet und an das Bundesministerium für Justiz zur Berichterstattung übermittelt worden war. Nach den Ausführungen des erkennenden Gerichtes und den vom späteren Gnadenwerber nicht bestrittenen Angaben des betroffenen Jugendlichen musste von folgendem Sachverhalt ausgegangen werden:

Der betroffene Jugendliche, geboren am 18. Oktober 1981, wurde im Sommer 1996 von dem am 27. Dezember 1968 geborenen Gnadenwerber auf der Straße ausgesprochen. Dieser stellte sich als Reporter vor und wollte von ihm Fotos machen. Dafür sollte er Geld bekommen. Es entwickelte sich eine Bekanntschaft ohne Sexualkontakt. Der Jugendliche erhielt für die von ihm gemachten Aufnahmen allerdings nichts. Vielmehr kam es dazu, dass er dem späteren Gnadenwerber Geld schuldete.

Im Jänner 1997 erlitt der Jugendliche einen Unfall. Mitte Februar besuchte ihn der spätere Gnadenwerber abends im Spital und forderte Geld. Der Jugendliche konnte nicht zahlen. Der spätere Gnadenwerber bedrängte ihn und verlangte geschlechtliche Handlungen. Unter dem Eindruck seiner Schulden ging der Jugendliche auf die Forderung ein. Er duldete in einem WC des Spitals den Oralverkehr durch den späteren Gnadenwerber. Dieser erließ ihm hierauf seine Schulden.

Der Jugendliche befand sich zum Zeitpunkt des Vorfalls in einer psychischen Situation, die ihn besonders schutzwürdig machte. An den Unfallsfolgen leidend, stand er in der ungewohnten Umgebung des Spitals allein dem altersmäßig weit überlegenen späteren Gnadenwerber gegenüber. Dieser bedrängte ihn mit einer Geldforderung, die er akzeptieren musste, nicht aber erfüllen konnte. Das Ansinnen, sich von der Schuld durch Duldung sexueller Handlungen zu befreien, gewinnt unter diesen Umständen den Charakter eines so massiven Eingriffs in die sexuelle Autonomie, dass hierin die Tatbestände der §§ 202 Abs. 1 bzw. 207b Abs. 2 und 3 StGB erblickt werden können.

Dem Begehren auf Tilgung der Verurteilung stand allerdings nicht nur der dargestellte Sachverhalt entgegen. Mit einem anderen Urteil, das ausschließlich wegen eines Vermögensdeliktes erfolgte, war nämlich gemäß den §§ 31, 40 StGB auf die gegenständliche Verurteilung Bedacht genommen und mit Rücksicht auf die damit ausgesprochene Strafe von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen worden. Die gnadenweise Tilgung der gegenständlichen Verurteilung hätte demnach zwangsläufig zu einer tilgungsrechtlichen Privilegierung des Gnadenwerbers gegenüber anderen Rechtsbrechern geführt, die die rechtlichen Folgen ihrer Vermögensdelikte konsequent hinzunehmen haben. Gründe, die eine solche Besserstellung sachlich hätten rechtfertigen können, waren weder geltend gemacht worden noch aus der Aktenlage ersichtlich.

In diesem Sinne wurde das Informationsersuchen der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei beantwortet.

Zu 6:

Ich halte das hier zur Diskussion stehende Verhalten für strafwürdig, ohne Rücksicht darauf, ob nun eine junge weibliche oder männliche Person Tatopfer war. Würde der Staat auf die gegen einen jungen, noch unerfahrenen Menschen gerichtete Forderung, eine Geldschuld durch Duldung sexueller Vorgänge gleichsam abzuarbeiten, nicht mit Sanktionen reagieren, würde er sein Bekenntnis zu den Menschenrechten in Frage stellen. Dass die seinerzeit angewendete Strafbestimmung aus Gründen, die hier keine Rolle spielen, aufgehoben wurde, tritt dem gegenüber in den Hintergrund.

Zu 7:

Der in der Bundesverfassung verankerte Grundsatz der Gewaltentrennung lässt es nicht zu, das Gnadenverfahren nach Belieben als Alternative zum Rechtsweg einzusetzen. Aufgabe des den Organen der Verwaltung übertragenen Gnadenverfahrens darf es – ausgenommen im Falle der sogenannten gütlichen Einigung im Verfahren über eine Menschenrechtsbeschwerde (s.u.) – nur sein, mit der Anwendung des Gesetzes verbundene Härten auszuschalten, wenn sich ergibt, dass diese Härten vom Gesetzgeber weder beabsichtigt noch in Kauf genommen worden sind. Eine solche Härte kann in einem Fall wie dem vorliegenden nur dann erblickt werden, wenn der Betroffene durch die Anwendung des außer Kraft getretenen Gesetzes in jeder Beziehung schlechter gestellt erscheint als durch die Anwendungen des geltenden Rechtes. Ein Gnadenakt, der in der Absicht gesetzt wird, eine - aus welchen Gründen auch immer - für verfehlt gehaltene gerichtliche Entscheidung durch Beseitigung ihrer rechtlichen Wirkungen zu korrigieren, wäre ein unzulässiger Eingriff in die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Die Wahrnehmung und Korrektur eines Mangels, der in einer richterlichen Entscheidung aufgetreten ist, ist ausschließlich Sache der Gerichtsbarkeit. Der Gnadenwerber hat hinsichtlich einer anderen, nach dem aufgehobenen § 209 StGB erfolgten Verurteilung erfolgreich den Rechtsweg beschritten. Aus welchen Gründen er dies im hier relevierten Zusammenhang nicht getan hat, vermag ich nicht zu beurteilen.

Zu 8 und 9:

Ich darf zunächst auf die in der vorliegenden Anfrage zitierte Anfragebeantwortung meines Amtsvorgängers vom 7. November 2003 zu Punkten 8 und 9 der schriftlichen Anfrage Zl. 829/J-NR/2003 verweisen.

Auf Grund eines Gnadengesuches ist seither beim Bundesministerium für Justiz nur der unter den Anfragepunkten 1 bis 7 erörterte Fall zu bearbeiten gewesen. Amtswegig wurde die Frage der gnadenweisen Tilgung in sechs weiteren Fällen aus Anlass der Bemühungen geprüft, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Grundfreiheiten anhängige Beschwerdeverfahren durch gütliche Einigung zu beenden. Die Beschwerdeführer haben allerdings kein Interesse an der gnadenweisen Tilgung ihrer Verurteilungen gezeigt.

Zu 10 und 11:

Zum Stichtag 7.7.2005 wurde keine Person wegen § 209 StGB (als alleiniges oder im Sinne der Verurteiltenstatistik führendes Delikt) in Straf-, Untersuchungshaft oder im Maßnahmenvollzug angehalten.

Zuletzt wurde eine Person bis einschließlich 2. Jänner 2004 in der Justizanstalt Suben wegen der §§ 209, § 207 Abs. 1 StGB, 206 Abs. 1 StGB, 2 Abs. 1 1. Fall PornoG angehalten und gemäß § 46 Abs. 2 StGB entlassen. Die Probezeit wurde mit 3 Jahren festgesetzt und endet am 1. Dezember 2006.

Zu 12 bis 14:

Ich verweise auf die aus Berichten der Staatsanwaltschaften erstellte Beilage 1.

Zu 15 bis 19:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkannte unter bewusstem Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung der Europäischen Menschenrechtskommission erstmals mit Urteil vom 9. Jänner 2003 in der Sache L. und V. gegen Österreich, dass die Strafbestimmung des § 209 StGB eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, konkret des Rechts auf Privat- und Familienleben sowie des Verbots einer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung im Sinne von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK darstellt.

Er begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, die Annahme, männliche Jugendliche würden sich im Unterschied zu weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren in einer Prägephase hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung befinden (und daher ein höheres Schutzalter vor männlichen homosexuellen Kontakten gerechtfertigt), sei aufgrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht mehr haltbar. Dieses Wissen sei dem österreichischen Parlament anlässlich eines Expertenhearings im Jahr 1995 auch vermittelt worden.

Es gebe in den europäischen Staaten zunehmenden Konsens für ein einheitliches Schutzalter vor sexuellen Kontakten unabhängig von der sexuellen Orientierung. Schlichte Vorurteile der heterosexuellen Mehrheit gegenüber der homosexuellen Minderheit seien nicht geeignet, ein gerechtfertigtes Interesse zu begründen.

Insgesamt seien die Argumente der österreichischen Regierung nicht ausreichend gewesen, um das Fortbestehen des § 209 StGB zu rechtfertigen.

In den seither entgangenen Entscheidungen, zuletzt vom 26. Mai 2005 in der Beschwerdesache W. gegen Österreich, blieb der EGMR unter Verweis auf die oben dargestellte Leitentscheidung bei dieser Rechtsprechung, stellte jeweils Verletzungen der Artikel 14 iVm 8 der EMRK durch Verfahren und Verurteilungen nach § 209 StGB fest und sprach Entschädigungsbeträge unter anderem auch für immaterielle Schäden zu.

Mit Erkenntnis vom 21. Juni 2002, G6/02, erkannte der Verfassungsgerichtshof die Bestimmung des § 209 StGB für verfassungswidrig. In seiner Argumentation lehnte der VfGH die Annahme eines Verstoßes gegen die Artikel 14 iVm 8 EMRK mit Hinweis auf die Vorentscheidung VfSlg. 12.182/1989 als res iudicata ab. Die Verfassungswidrigkeit stützte er ausschließlich auf den Umstand, dass in bestimmten Fallkonstellationen eine zunächst nicht strafbare homosexuelle Beziehung zwischen zwei männlichen Jugendlichen mit Erreichen der Volljährigkeitsgrenze durch den älteren Partner strafbar würde und erst mit der Volljährigkeit auch des jüngeren Partners wieder straflos wäre. Die Bestimmung sei daher in sich unsachlich und verfassungswidrig.

Angesichts der eindeutigen und gefestigten Rechtsprechung des EGMR, dessen Auslegung der Menschenrechtskonvention für Österreich bindend ist, sowie der Argumentation des VfGH ist davon auszugehen, dass die Bestimmung des § 209 StGB gegen in der EMRK festgelegte Grundrechte sowie gegen das aus Artikel 7 Abs. 1 B-VG abgeleitete Gebot der Sachlichkeit verstoßen hat und damit grund- und menschenrechtswidrig war.

Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei § 209 StGB um „Unrecht“ gehandelt hat, ist zu berücksichtigen, dass die Beurteilung einer Grundrechtsverletzung oft eine diffizile Abwägungsfrage darstellt, deren Beantwortung den jeweiligen Stand der fortschreitenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung reflektiert. Dabei ist auf die früheren Entscheidungen der Europäischen Menschenrechtskommission, in denen eine Konventionsverletzung durch § 209 StGB verneint wurde, wie auch auf das diesbezügliche Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs, VfSlg 12.182/1989, zu verweisen.

Trotz der im Erkenntnis des VfGH zur Aufhebung des § 209 StGB gesetzten Frist bis 28. Februar 2003 wurde die Bestimmung durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2002, BGBl I Nr.134, bereits mit 14. August 2002 beseitigt und damit ein grundrechtskonformer Zustand hergestellt.

Zur Schließung von Lücken im Bereich des Schutzes Jugendlicher vor sexueller Ausbeutung hat der Gesetzgeber durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2002 die Bestimmung des § 207 b StGB geschaffen. Sie pönalisiert in den Absätzen 1 und 2 Verhaltensweisen, in denen eine Person unter sechzehn Jahren entweder durch Ausnützung ihrer verzögerten Reife von einer Person mit altersbedingter Überlegenheit oder durch Ausnützung einer Zwangslage zu einem bloß vorgeblich freien und konsensualen Geschlechtsverkehr verleitet wird. Absatz 3 stellt sexuelle Handlungen mit einer Person unter achtzehn Jahren, die diese unmittelbar gegen ein Entgelt vornimmt oder durchführen lässt, unter Strafe.

Die Bestimmung des § 207 b StGB verfolgt ein gerechtfertigtes Interesse zum Schutz der Jugend vor sexueller Ausbeutung. Konsensuale und selbstbestimmte Sexualkontakte von Personen über vierzehn Jahren werden auch bei großem Altersunterschied der Partner nicht von der Strafbarkeit erfasst. Der Tatbestand ist geschlechtsneutral  formuliert  und  differenziert  nicht nach der sexuellen Orientierung.
§ 207 b StGB ist daher aus verfassungs- bzw. grundrechtlicher Sicht unbedenklich.

Zur Beantwortung der weiteren Fragen nach konkreten Maßnahmen zur Beseitigung der Rechtsfolgen der Verurteilungen nach § 209 StGB ist anzuführen, dass im Bundesministerium für Justiz derzeit keine konkreten legistischen Überlegungen für ein Amnestiegesetz zu § 209 StGB angestellt werden. Ebenso sind keine Maßnahmen zur vorzeitigen Tilgung von Verurteilungen nach § 209 StGB oder zu einer vermögensrechtlichen Entschädigung von Verurteilten in Vorbereitung.

Es wird darauf hingewiesen, dass sich der Gesetzgeber in den vergangenen zehn Jahren insgesamt dreimal mit § 209 StGB befasste. Dabei wurden keine Wünsche an das Bundesministerium für Justiz herangetragen, zu den oben angeführten Fragen legistische Vorschläge zu erstatten.

. Juli 2005

 

(Maga. Karin Miklautsch)


 

Beilage 1

 

 

 

Staatsanwaltschafts- bzw.  Landesgerichtssprengel

Fälle mit offener Probe­zeit – bed­ingte Nach­sicht einer Strafe

Fälle mit offener Probe­zeit – bed­ingte Ent­lassung aus einer Frei­heits­­­strafe

Fälle mit offener Probezeit – bed-ingte Entlassung aus einer Maßnahme

Wien

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St. Pölten

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Wr. Neustadt

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Krems a. d. Donau

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Korneuburg

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Eisenstadt

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Graz

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Leoben

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Klagenfurt

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Linz

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Wels

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Ried im Innkreis

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Steyr

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Salzburg

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