3610/AB XXII. GP

Eingelangt am 03.02.2006
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

DIE  BUNDESMINISTERIN
           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0096-Pr 1/2005

 

An den

                                      Herrn Präsidenten des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 3654/J-NR/2005

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Dr. Johannes Jarolim, Kolleginnen und Kollegen haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Anklagen und Verurteilungen für einverständliche Jugendsexualität“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 bis 4:

Fall 1: Der am 18. März 1987 geborene Angeklagte wurde mit dem seit 30. September 2005 rechtskräftigen Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs. 1 StGB, teilweise in Verbindung mit § 15 StGB, unter Bedachtnahme auf eine frühere Verurteilung zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, wobei ein Teil von zehn Monaten gemäß §§ 43 Abs. 1, 43a Abs. 3 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Er wurde schuldig erkannt, mit einem am 7. November 1990 geborenen Mädchen im Zeitraum von Dezember 2002 bis Anfang Jänner 2003 in mindestens fünf Fällen den Beischlaf unternommen zu haben, zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwischen Dezember 2002 und Jänner 2003 eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen und im Jänner 2003 eine solche versucht zu haben.

Fall 2: Der am 5. Dezember 1986 geborene Angeklagte wurde mit Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 25. November 2003 schuldig erkannt, am 17. August 2003 mit einem am 12. März 1990 geborenen Mädchen den Beischlaf unternommen zu haben. Er wurde gemäß § 206 Abs. 1 StGB zu einer gemäß § 43 Abs. 1 StGB für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Die Frage der Angemessenheit von Verurteilungen ist meiner Beurteilung und jener durch das Bundesministerium für Justiz entzogen.

Ein Vorgehen der Staatsanwaltschaft gemäß §§ 6, 7 JGG war nicht möglich, weil im Fall 1 der Verurteilte zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bereits fünf Mal gerichtlich vorbestraft war. Auch im Hinblick auf die ihm zur Last gelegte siebenfache Tatbegehung in einem Zeitraum von zwei Monaten erachtete die Staatsanwaltschaft die Durchführung eines Strafverfahrens samt Ausspruch einer Strafe für unerlässlich. Im Fall 2 hatte der Verurteilte die Alkoholisierung des Tatopfers ausgenützt und noch zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bestritten, das tatsächliche Alter des Mädchens gekannt zu haben. In beiden Fällen wurde die Schuld des Täters als schwer beurteilt. Somit fehlte es an wesentlichen Diversionsvoraussetzungen nach dem IXa. Hauptstück der StPO (§ 7 Abs. 1 JGG).

Zu 5 bis 10:

Ich ersuche um Verständnis, wenn ich von der Beantwortung von Fragen, die inhaltlich Angelegenheiten der unabhängigen Rechtsprechung berühren, Abstand nehme.

Zu 11 bis 14:

Der Strafausschließungsgrund gemäß § 206 Abs. 4 StGB lag in beiden Fällen nicht vor (siehe dazu auch Pkt. 15). In Fall 1 hatte die Unmündige zum Zeitpunkt der Tat das dreizehnte Lebensjahr noch nicht vollendet, im Fall 2 überstieg das Alter des Täters das Alter der unmündigen Person um mehr als drei Jahre.

Bei Entscheidungen des Gerichtes über die Anwendung oder Nichtanwendung (unter anderem) der §§ 6, 7, 12, 13 JGG, 43, 43a StGB handelt es sich um Ermessensentscheidungen, die mit Nichtigkeitsbeschwerde nicht bekämpfbar sind.

Für Berufungen der Staatsanwaltschaft zugunsten der Verurteilten mit dem Ziel, eine Anwendung des § 12 JGG bzw. § 13 JGG oder im Fall 1 eine gemäß § 43 StGB zur Gänze bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe zu erwirken, fehlte es an den gesetzlichen Voraussetzungen. Im Fall 1 sprachen schon das Vorleben des Jugendlichen (frühere Verurteilungen) in Verbindung mit der Wiederholung der Tathandlungen in einem mehrmonatigen Zeitraum gegen die Annahme eines künftigen Wohlverhaltens, falls von einer fühlbaren Sanktion abgesehen worden wäre. Eine "soziale Entwurzelung" war mit dem Ausmaß des unbedingt ausgesprochenen Teils der Freiheitsstrafe nicht verbunden, zumal der Verurteilte keiner Beschäftigung nachging.

Im Fall 2 hatte der Jugendliche bei der Tatbegehung den Umstand ausgenützt, dass sich die Unmündige heimlich aus dem Elternhaus entfernt hatte und zum Tatzeitpunkt erheblich alkoholisiert war. Die Anklagebehörde erachtete daher eine Verurteilung samt Verhängung einer zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe als notwendig, um dem Jugendlichen das Unrecht der Tat vor Augen zu führen und ihn von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abzuhalten.

Zu 15:

Die „Alterstoleranzklausel“ in § 206 Abs. 4 StGB ist durch das Strafrechtsänderungs-gesetz 1998 eingefügt worden; eine solche Klausel gab es vor 1998 im Bereich des § 206 StGB überhaupt nicht.

Nach dieser Bestimmung entfällt die Strafbarkeit eines schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen (nur) dann, wenn der Altersunterschied zwischen dem Täter und der unmündigen Person drei Jahre nicht übersteigt, die geschlechtliche Handlung nicht in der Penetration mit einem Gegenstand besteht, die Tat weder eine schwere Körperverletzung noch den Tod der unmündigen Person zur Folge hat und die unmündige Person zur Tatzeit schon das dreizehnte Lebensjahr vollendet hat.

Die Strafbarkeit eines dem § 206 Abs. 1 StGB zu unterstellenden sexuellen Kontaktes eines Strafmündigen mit einer unmündigen Person ist also gegeben, wenn das Opfer das dreizehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder der Altersunterschied drei Jahre übersteigt. Bei einem noch nicht 13-jährigen Opfer eines schweren sexuellen Missbrauches kommt dem Altersunterschied zwischen Täter und Opfer für die Strafbarkeit daher keine Bedeutung zu.

Wie bereits oben ausgeführt, lagen in keinem der beiden Fälle die Voraussetzungen des § 206 Abs. 4 StGB vor. Von einer in der Anfrage behaupteten „gesetzlichen Straffreiheit“ kann daher keine Rede sein.

Nach dem in § 34 Abs. 1 StPO verankerten Legalitätsprinzip haben die staatsanwaltschaftlichen Behörden alle strafbaren Handlungen von Amts wegen zu verfolgen und deswegen das zu deren Untersuchung und Bestrafung durch das zuständige Gericht Erforderliche zu veranlassen. Aus dem Legalitätsprinzip, das auch für das Bundesministerium für Justiz als die den Anklagebehörden übergeordnete Behörde gilt, leitet sich für die staatsanwaltschaftlichen Behörden bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein unbedingter Verfolgungs- und Anklagezwang ab.

Soweit in der Anfrage auf die Bemerkungen des Justizausschusses betreffend den „sachgerechten Gebrauch der im Jugendstrafrecht und im Bereich der Strafzumessung zur Verfügung stehenden flexiblen Instrumentarien“ Bezug genommen wird, so ist zunächst zwar einzuräumen, dass beide angesprochenen Fälle für ein diversionelles Vorgehen nach § 7 Abs. 1 JGG im Hinblick auf die Strafdrohung grundsätzlich zugänglich gewesen wären. Allerdings sind weder die Staatsanwaltschaften noch die Gerichte berechtigt, diversionelle Maßnahmen in jenen Fällen einzusetzen, in denen die Schuld als schwer anzusehen wäre (§ 90a StPO gilt insofern auch in Jugendstrafsachen). Die Beurteilung, ob eine schwere Schuld vorliegt, kann nur nach der Lage des konkreten Falles unter ganzheitlicher Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorgenommen werden. Das Vorliegen einer schweren Schuld ist nach den Strafbemessungsgrundsätzen zu beurteilen, wobei die Strafdrohung des § 206 Abs. 1 StGB darauf hinweist, dass der Gesetzgeber den Unrechtsgehalt dieses Verbrechens an sich als hoch veranschlagt hat. In den vorliegenden Fällen ergibt sich ein deutlich gesteigerter Schuldgehalt aus den bereits zu 11. bis 14. angeführten Umständen.

Im Übrigen hat das erkennende Gericht in beiden Fällen von den Möglichkeiten der Strafbemessung durchaus differenziert Gebrauch gemacht, was sich aus der in den beiden Fällen unterschiedlichen ausgesprochenen Strafhöhe und dem unterschiedlichen Umfang des bedingt nachgesehenen Teils der Strafe ergibt.

Das als gesetzmäßig zu beurteilende Vorgehen der Staatsanwaltschaft Klagenfurt, in den angesprochenen Fällen die Tathandlungen zu verfolgen und unter Anklage zu stellen, weil der Strafausschließungsgrund des § 206 Abs. 4 StGB jeweils nicht vorlag, bietet daher keinen Anlass für Maßnahmen, durch die sichergestellt werden soll, dass solche Anklagen und Verurteilungen nicht mehr vorkommen.

Im Übrigen ist durch einschlägige Fortbildungsmaßnahmen und Erlässe des Bundesministeriums für Justiz sichergestellt, dass die Staatsanwälte in Strafsachen gegen Jugendliche maßvoll vorgehen und auch Diversionsmaßnahmen ergreifen, sofern deren Voraussetzungen gegeben sind.

. Februar 2006

 

(Maga. Karin Gastinger)