3684/AB XXII. GP

Eingelangt am 21.02.2006
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

DIE  BUNDESMINISTERIN
           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0102-Pr 1/2005

 

An den

                                      Herrn Präsidenten des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 3744/J-NR/2005

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Bettina Stadlbauer, Kolleginnen und Kollegen haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „verpflichtende Obsorge beider Eltern nach der Scheidung“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 bis 5:

Wie mir berichtet worden ist, hat ein Vertreter des Bundesministeriums für Justiz im Rahmen der Tagung der Arbeitsgemeinschaft Jugendwohlfahrt am 7. November 2005 in Salzburg ausgeführt, dass mein Ressort einen Forschungsauftrag zur Evaluation - unter anderem der mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 eröffneten Möglichkeit einer Obsorge beider Eltern nach deren Scheidung - vergeben hat und dass sich nach den bisherigen Ergebnissen keine Schwierigkeiten mit dieser Regelung ergeben hätten, auch nicht die seinerzeit von der Arbeitsgemeinschaft Jugendwohlfahrt befürchteten.

Darüber hinaus hat der Vertreter des Bundesministeriums für Justiz auch auf meine Pläne zur Änderung des Familienrechts hingewiesen, die der Beseitigung von Diskriminierungen moderner Familienformen, wie etwa Lebensgemeinschaften oder Patchworkfamilien, dienen sollen. Dabei geht es aber nicht um die Aufwertung der Rechte des nach Scheidung nicht mit der Obsorge ausgestatteten Elternteils, sondern um Befugnisse von Personen, die mit dem Kind in Haushaltsgemeinschaft leben, wie etwa Stiefeltern. Diesen Personen sollen – unter dem Vorbehalt abweichender Anordnungen des Elternteils, mit dem sie zusammenleben – im Interesse des Kindes Aufgaben der Pflege und Erziehung zukommen. Eine Änderung der für Scheidungsfälle vorgesehenen gesetzlichen Regelungen über die Obsorge wurde vom Vertreter des Bundesministeriums für Justiz nicht angekündigt und ist auch von mir nicht beabsichtigt.

Zu 6 bis 21:

Im Sinne der Entschließung 41/E XXI des Nationalrates vom 22.11.2000 hat das Bundesministerium für Justiz zu Beginn des Jahres 2005 eine Forschungsstudie zur Ermittlung der Auswirkungen der Neuregelungen des KindRÄG 2001, insbesondere was die Akzeptanz der Obsorge- und Besuchsrechtsregelungen, die Wirkungen auf das Kindeswohl und die Form der Konfliktaustragung anlangt, in Auftrag gegeben. Nahezu vier Jahre nach Inkrafttreten der Bestimmungen über die Obsorge beider Eltern (§§ 167 und 177 ABGB) am 1.7.2001 erschien der Zeitpunkt geeignet, insbesondere das Rechtsinstitut der Obsorge beider Eltern wissenschaftlich untersuchen und evaluieren zu lassen.

Der Auftrag für die Evaluationsstudie wurde in vier Projektteile gegliedert und unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des Bundesvergabegesetzes 2002 (BVergG 2002) vergeben:

A.) Projekt „Eltern und Kinder“

B.) Projekt „Involvierte Berufsgruppen“

C.) Projekt „Empirie und Statistik“

D.) Projekt „Verfassung und Redaktion des Schlussberichtes“

Den Zuschlag für die Projekte A. und D. erhielt die Arbeitsgemeinschaft psychoanalytische Pädagogik (APP), jenen für B. und C. eine Bietergemeinschaft bestehend aus dem Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) und dem European Centre for Social Welfare Policy and Research.

Als begleitendes Gremium zur Studie wurde von mir ein Projektbeirat ins Leben gerufen, der den Verlauf der Forschungsarbeiten kritisch beobachtet, den Forschern aus der Sichtweise der Praxis beratend zur Seite steht und sich aus Vertretern thematisch involvierter Berufsgruppen sowie Vertretern fachlich kompetenter Bundesministerien zusammensetzt. Folgende Personen bzw. Institutionen hat das Bundesministerium für Justiz zur Teilnahme am Beirat eingeladen:

·        als Vertreter der Rechtsanwälte: Dr. Waltraute Steger, Dr. Brigitte Birnbaum, Dr. Helene Klaar

·        als Vertreter der Jugendwohlfahrt: Mag. Reinfried Gänger (Amt der NÖ-Landesregierung als Vorort der Arbeitsgemeinschat für öffentliche Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, Sektion Jugendwohlfahrt, deren Mitglieder im wesentlichen aus den Bundesländern und den Landeshauptstädten bestehen)

·        als Vertreter des Zentralausschusses der Justizbediensteten: ADir Gerhard Scheucher

·        als Vertreter der Richter: Mag. Franz Mauthner

·        als Vertreter des Bundesministeriums für soziale Sicherheit und Generationen: Maga. Gundula Sayouni

·        als Vertreterin des Bundesverbandes für Psychotherapie: Maga. Renate Patera.

Mittlerweile ist der Beirat drei Mal mit den Forschern zur Erörterung der Zwischenergebnisse des Projekts zusammengetroffen. Die voraussichtlich letzte Sitzung wird am 28.2.2006 stattfinden.

Insbesondere sollen folgende Fragenkomplexe in jedem der Projekte A und B wissenschaftlich untersucht werden:

1.   Wie und in welchem Ausmaß wurde die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Obsorge beider Eltern von Eltern (A) sowie von im familienrechtlichen Bereich tätigen Richtern, Rechtsanwälten und Notaren, weiters von Jugendämtern, Familienberatern und in Obsorgestreitigkeiten gerichtlich bestellten psychologischen/psychiatrischen Gutachtern sowie von mit thematisch relevanten Fällen befassten Psychotherapeuten und Mediatoren (B) angenommen?

a)   Welche sind die Hauptmotive für Beibehaltung oder Vereinbarung der Obsorge beider Eltern?

b)   Wie weit beeinflussen die mit der Obsorgeproblematik befassten Berufsgruppen durch entsprechende Beratungen oder Empfehlungen die Entscheidung der Eltern?

c)   Welche in den Personen, insbesondere deren Bildung sowie sozialer und regionaler Herkunft, im Trennungsverlauf usw. liegenden Variablen bei den betroffenen Elternteile sind für die Entscheidung über die Obsorgeverteilung wesentlich?

d)   Gibt es signifikante Unterschiede in der Haltbarkeit der jeweils gewählten Obsorgeform?

2.   Wie wirken sich die gesetzlichen Neuerungen des KindRÄG 2001 im Kind-schaftsbereich auf die Gerichtspraxis aus?

a)   Sind Auswirkungen auf die Verfahrensdauer feststellbar?

In diesem Zusammenhang soll in der Untersuchung nicht nur auf die Auswirkungen der gesetzlichen Neuerungen im Obsorgebereich, sondern auch auf weitere, mit dem KindRÄG 2001 implementierte Instrumentarien im Kindschaftsbereich Bezug genommen werden. Bei diesen handelt es sich um die gesetzliche Möglichkeit, Kontakte im Rahmen des Rechts auf persönlichen Verkehr des nicht obsorgeberechtigten Elternteils zu seinem minderjährigen Kind durch „Besuchsbegleiter“ zu erleichtern, weiters um den Ausbau der Informations- und Äußerungsrechte des nicht mit der Obsorge betrauten Elternteils im Fall der Trennung und schließlich um die Einbeziehung der Mediation als Konfliktregelungsinstrument im Bereich des Kindschaftsrechts.

b)     Sind Auswirkungen der im vorstehenden Punkt genannten Instrumentarien auf die Haltbarkeit der getroffenen Obsorge- und Besuchsrechtsvereinbarungen bzw. –entscheidungen feststellbar?

c)   Lassen sich Aussagen darüber treffen, ob und gegebenenfalls wie sich die Einführung der Obsorge beider Eltern auf andere scheidungsbedingte Streitfragen auswirkt, wie etwa auf Unterhalts- und Vermögensaufteilungsstreitigkeiten?

3.   Wie wirkt sich die Möglichkeit der Obsorge beider Eltern auf die betroffenen familiären Systeme aus, also auf die Beziehungen beider Eltern zueinander, jene zu ihren Kindern und ihrer Kinder zu ihnen?

a)   Welche Auswirkungen hat die Obsorge beider Eltern als rechtlich ermöglichte Form der (Mit-)Verantwortung beider Eltern auf die Beziehungen der Kinder zu dem Elternteil, bei dem sie sich nicht hauptsächlich aufhalten, in Hinblick auf Häufigkeit und Dauer des Kontaktes und auch in qualitativer Hinsicht, also hinsichtlich der Qualität der Beziehung?

b)   Gibt es Auswirkungen der Obsorge beider Eltern auf die interfamiliäre Kommunikation, Kooperation, Konfliktbewältigung, Entscheidungsfindung usw., dies ebenfalls in quantitativer und qualitativer Untersuchung?

c)   Kommt es durch die Obsorge beider Eltern zu einer Perpetuierung der Beziehungskonflikte vor der Trennung der Elternteile und dadurch zur Erschwerung der Lebensgestaltung des Elternteils, bei dem sich das Kind nach der Trennung hauptsächlich aufhält?

d)   Wird das Instrumentarium der Obsorge beider Eltern bzw. der Verzicht einer Seite darauf, als Druckmittel in Konflikten über die Gestaltung der Lebensverhältnisse der Elternteile nach der Trennung verwendet, so etwa als finanzielles Druckmittel zur Klärung der Unterhaltsanspruchsfrage?

4.   Welche Auswirkungen hat die Obsorge beider Eltern auf das Kindeswohl, insbesondere auf die Entwicklungschancen der Kinder?

a)   Kann festgestellt werden, ob bestimmte gesetzliche Rahmenbedingungen zur Ausgestaltung der Obsorge- und Besuchsrechtsproblematik eine dem Kindeswohl zuträgliche Entwicklung zu befördern oder zu erschweren vermögen?

b)   Kann festgestellt werden, ob vorgegebene gesetzlichen Rahmenbedingungen bestimmte Haltungen oder Ängste der Eltern begünstigen oder gar produzieren, die für die Bewältigung des Trennungserlebnisses durch die Kinder aus pädagogischer/psychologischer Sicht förderlich oder erschwerend wirken?

In Absprache mit den Anbietern wurde der Entscheidung getroffen, die Evaluationsstudie in konzeptiver Orientierung an einer ähnlichen, in Deutschland im Auftrag des dortigen Bundesministeriums der Justiz durchgeführten Studie zu planen. Dieses Vorgehen sichert außerdem eine Vergleichbarkeit der Studie mit ihrem deutschen Pendant.

Das Projekt enthält wissenschaftsmethodische Elemente quantitativer und qualitativer Untersuchungen. Zum Einen wurde im Laufe des vergangenen Frühlings und Sommers eine bundesweite Befragung aller in einem Quartal (Untersuchungszeitraum: 1. September 2004 und 30. November 2004) geschiedener Eltern mit minderjährigen Kindern sowie aller im Familienrecht tätigen Richterinnen und Richter und weiterer mit Scheidung- und Obsorgestreitigkeiten befasster Berufsgruppen (Rechtsanwälte, Notare, Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt, Mediatoren, Gerichtssachverständige, Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern) mittels Fragebögen durchgeführt. Zum Anderen wurden Eltern sowohl mit alleiniger Obsorge als auch mit Obsorge beider Elternteile und deren Kinder sowie Richterinnen und Richter in Tiefeninterviews persönlich eingehend befragt.

Sowohl die qualitativen als auch die quantitativen Erhebungen sind bereits abgeschlossen. Die Forscher sind derzeit mit der Auswertung des höchst umfangreichen Datenmaterials beschäftigt. In der Folge wird der Abschlussbericht der Arbeit verfasst werden. Mit dessen Fertigstellung ist mit Ende März 2006 zu rechnen. Das unerwartet hohe Ausmaß der Beteiligung geschiedener Eltern an der Studie kann als großer Erfolg gewertet werden. So war der Rücklauf der 20-seitigen Fragebögen auch im internationalen Vergleich mit ähnlichen Studien mit 25 % weit überdurchschnittlich. Auch die Rücklaufquote bei den Berufsgruppen-Befragung war höchst zufriedenstellend (z.B. 45% bei RichterInnen, 19% bei RechtsanwältInnen und Sachverständigen sowie 66% bei MitarbeiterInnen der Einrichtungen der Jugendwohlfahrt).

Unmittelbar nach Fertigstellung des Abschlussberichts werde ich die Studie dem Nationalrat vorlegen.

Darüber hinausgehendes Zahlenmaterial ist nicht vorhanden.

 

. Februar 2006

 

(Maga. Karin Gastinger)