287 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP

 

Bericht

des Verfassungsausschusses

über die Regierungsvorlage (209 der Beilagen): Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (2002/772/EG, Euratom) zur Änderung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom samt Erklärungen

Die rechtliche Grundlage für die Direktwahlen zum Europäischen Parlament ab 1979 bildet der „Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20.September 1976“ (76/787/EGKS, EWG, EURATOM – in der Folge Direktwahlakt, kurz DWA), der als  einstimmiger Beschluss des Rates in der Zusammensetzung der Vertreter der Mitgliedstaaten angenommen wurde. Dieser Akt stellt eine Rahmengesetzgebung für die Direktwahl dar, ohne jedoch ein einheitliches Wahlverfahren vorzusehen. Art. 7 des Aktes sieht vor, dass sich das Wahlverfahren bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften bestimmt.

Zur Festlegung eines solchen Wahlverfahrens auf der Basis eines Entwurfes des Europäischen Parlaments sieht der EGV in Art. 190 Abs. 4 ein besonderes Normerzeugungsverfahren vor: „Der Rat erlässt nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der Mehrheit seiner Mitglieder erteilt wird, einstimmig die entsprechenden Bestimmungen und empfiehlt sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften.“

Die ab 1979 unternommenen Versuche, ein einheitliches Wahlverfahren festzulegen, scheiterten an der Uneinigkeit in und zwischen Rat und Europäischem Parlament.

Durch den Vertrag von Amsterdam wurden Art.190 EGV und Art. 108 Euratom-Vertrag dahingehend geändert, dass das EP im Entwurf für einen Wahlakt nicht mehr unbedingt ein einheitliches Wahlverfahren in allen Mitgliedstaaten vorsehen muss, sondern auch einen „im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen“ stehenden Wahlakt vorlegen kann.

Das Europäische Parlament hat – noch vor Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam – am 15. Juli 1998 als Annex einer Entschließung (A4-0212/1998 vom 15.7.98 zum Anastassopoulos-Bericht, A4-0212/98 vom 2.6.98) einen „Entwurf für ein Wahlverfahren, das auf gemeinsamen Grundsätzen für die Wahl der Mitglieder des EP beruht“, unterbreitet.

Auf Ratsebene wurde dieser Entwurf zwischen Dezember 1998 und Dezember 1999 im Ausschuss Ständiger Vertreter behandelt. Die substantiellen Kernelemente der Reform des DWA waren – abgesehen von der Unvereinbarkeit von europäischem und nationalem Mandat – kaum strittig, da praktisch nur solche Grundsätze aufgenommen wurden, die in allen nationalen Rechtsordnungen bereits gegeben waren. Das betrifft insbesondere das Verhältniswahlrecht, das (seit 1999) in allen 15 Mitgliedstaaten angewandt wird.

Im Rat Allgemeine Angelegenheiten vom 6.Dezember 1999 blieben noch drei Punkte offen, über die erst um die Jahreswende 2001/2002 politische Einigung erzielt wurde (siehe unten):

·       Festlegung des Wahltermins;

·       Bestimmungen über die Unvereinbarkeit von europäischem und nationalem Abgeordnetenmandat.

·       Die Teilnahme der Bevölkerung von Gibraltar an den Wahlen zum Europäischen Parlament.

Der Rat erzielte schließlich am 23. Mai 2002 eine definitive politische Einigung über den Inhalt eines Beschlusses zur Änderung des DWA und die gleichzeitig ins Ratsprotokoll aufzunehmenden Erklärungen. Das Europäische Parlament erteilte am 12. Juni 2002 seine Zustimmung. Somit wurde mit Beschluss des Rates 2002/772/EG, Euratom vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (in gälischer Sprachfassung) der DWA geändert (ABl. Nr. L 283 vom 21.Oktober 2002, S. 1), indem einige zusätzliche, den Wahlverfahren aller Mitgliedstaaten gemeinsame Grundsätze festgelegt wurden, die in der folgenden Aufzählung dargestellt werden:

·       Allgemeine, unmittelbare, freie und geheime Wahlen (bisher „allgemeine, unmittelbare“ Wahlen);

·       5-jährige Legislaturperiode (schon bisher, nur Formulierungsänderung);

·       Vorrechte und Befreiungen der Abgeordneten bestimmen sich nach dem Protokoll vom 8.April 1965 über die Vorrechte und Befreiungen der EG (schon bisher, nur Formulierungsänderung);

·       Verhältniswahlsystem, auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen (neu);

·       Die Mitgliedstaaten können Vorzugsstimmen nach den von ihnen festgelegten Modalitäten zulassen (neu).

·       Die Mitgliedstaaten können entsprechend ihren nationalen Besonderheiten Wahlkreise einrichten, soweit dadurch nicht das Verhältniswahlsystem insgesamt in Frage gestellt wird (neu).

·       Für die Sitzvergabe kann eine Mindestschwelle festgelegt werden, die jedoch landesweit nicht mehr als 5% der abgegebenen Stimmen betragen darf (neu).

·       Jeder Mitgliedstaat kann eine Obergrenze für Wahlkampfkosten festlegen (neu).

·       Unbeschadet befristeter Übergangsregelungen für das Vereinigte Königreich und Irland ist das Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments unvereinbar mit der Mitgliedschaft in einem nationalen Parlament (neu, bisher war ein Doppelmandat ausdrücklich zulässig).

·       Zusätzliche Unvereinbarkeitsregelungen mit der Mitgliedschaft und dem aktiven Dienst in seit dem Vertrag über die Europäische Union von Maastricht hinzugekommenen Gemeinschaftsorganen oder anderen Gemeinschaftsinstitutionen (Gericht 1.Instanz, Europäische Zentralbank, Bürgerbeauftragter der EG und Ausschuss der Regionen).

·       Ein Mitgliedstaat darf das ihn betreffende Wahlergebnis erst dann amtlich bekanntgeben, wenn die Wahl in allen anderen Mitgliedstaaten abgeschlossen ist (neu, bisher war mit der „Ermittlung des Wahlergebnisses zuzuwarten, bis die Wahl in allen anderen Mitgliedstaaten abgeschlossen war).

Vorbehaltlich der in den DWA aufgenommenen Vorschriften bestimmt sich das Wahlverfahren weiterhin in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften, wobei jedoch das Verhältniswahlsystem insgesamt nicht in Frage gestellt werden darf.

Vorerst nicht im DWA verankert wurde der Vorschlag des Europäischen Parlaments, „dass mit Blick auf ein europäisches politisches Bewusstsein und die Herausbildung europäischer politischer Parteien ein bestimmter Prozentsatz der Sitze nach dem Verhältniswahlsystem im Rahmen eines einzigen, aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten gebildeten Wahlkreises verteilt werden könnte.“ Gemäß dem Anastassopoulos-Bericht sollten 10% der Gesamtzahl der Mandate ab den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2009 auf diese Weise vergeben werden.

Der Rat hat sich allerdings auf die ins Ratsprotokoll aufgenommene Erklärung geeinigt, dass er eine Überprüfung der Bestimmungen des geänderten DWA vor den zweiten Wahlen zum Europäischen Parlament nach dem Inkrafttreten des Beschlusses (d.h. voraussichtlich vor den im Jahr 2009 vorgesehenen Wahlen) für geboten hält.

Über eine Änderung der Referenzperiode für den Wahltermin, der eine Vorverlegung der Wahltermine von Juni auf Mai erlaubt hätte, konnte kein Konsens erzielt werden. Gemäß dem Direktwahlakt von 1976 finden die EP-Wahlen alle fünf Jahre zu dem Zeitpunkt statt, der sich aus der Referenzperiode der ersten EP-Direktwahl (7.-10. Juni 1979) ergibt. Da auch eine Änderung des Wahltermins für eine bestimmte EP-Wahl – zwischen einem Monat vor und einem Monat nach der Referenzperiode – vom Rat nur einstimmig nach Anhörung des EP beschlossen werden könnte, kam eine Vorverlegung der EP-Wahlen im Jahr 2004 bislang ebenso wenig zustande. Sollten sich diese Voraussetzungen nicht mehr ändern, finden die nächsten EP-Wahlen entsprechend den Bestimmungen des Direktwahlaktes von 1976 vom 10.-13.Juni 2004 statt.

Zu der Bestimmung über die Unvereinbarkeit des Mandats eines Mitglieds des EP mit der Mitgliedschaft in einem nationalen Parlament – gemäß Art. 5 des Wahlaktes von 1976 ist ein solches Doppelmandat noch ausdrücklich zulässig - wurden erst Ende 2001 alle Vorbehalte zurückgezogen und für das Vereinigte Königreich und Irland Übergangsregelungen festgelegt.

·       Die Abgeordneten des nationalen irischen Parlaments, die in einer folgenden Wahl in das Europäische Parlament gewählt werden, können noch bis zur nächsten Wahl zum nationalen irischen Parlament ein Doppelmandat ausüben.

·       Die Abgeordneten des nationalen Parlaments des Vereinigten Königreichs, die während des Fünfjahreszeitraums vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 auch Abgeordnete des Europäischen Parlaments sind, können noch bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2009 ein Doppelmandat ausüben.

Die Gibraltar-Frage blieb zuletzt der einzige Punkt, der der Annahme des Beschlusses zur Änderung des DWA noch entgegenstand. Gemäß Anhang II des DWA war die Bevölkerung Gibraltars von der Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 18. Februar 1999 in der Rechtssache „Matthews gegen Vereinigtes Königreich“ (No. 24833/94) den Ausschluss der Bevölkerung von Gibraltar von der Teilnahme an EP-Wahlen als mit Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht vereinbar erkannt. Anfang 2002 konnten sich das Vereinigte Königreich und Spanien darauf einigen, dieses Problem durch zwei Erklärungen für das Ratsprotokoll zu lösen.

·       Erklärung des Vereinigten Königreichs betreffend die Ermöglichung der Ausübung des Wahlrechts durch die Wahlberechtigten in Gibraltar: Das Vereinigte Königreich erklärt, der Bevölkerung Gibraltars die Ausübung des Wahlrechts als Teil von und unter den gleichen Bedingungen wie eines bereits bestehenden Wahlkreises des Vereinigten Königreichs zu ermöglichen, um damit der aus Art. 6 Abs. 2 EUV erwachsenden Verpflichtung, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen, nachzukommen.

·       Erklärung des Rates und der Kommission, in der der Inhalt der Erklärung des Vereinigten Königreichs betreffend Gibraltar zur Kenntnis genommen wird.

Genehmigung durch den Nationalrat

Die Änderungen des Direktwahlakts (DWA) bedürfen gemäß Art. 190 Abs. 4 EGV, Art. 108 Abs. 4 Euratom-Vertrag und Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses des Rates 2002/772/EG der Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Der Beschluss zur Änderung des DWA bedarf innerstaatlich einer parlamentarischen Genehmigung gemäß Art. 50 Abs. 1 B-VG, da er gesetzesergänzenden Inhalt hat. Darüber hinaus ändert Art. 1 Pkt. 7 lit. a) des Ratsbeschlusses Art. 6 des DWA und beinhaltet Unvereinbarkeitsregelungen, die nach der Systematik des B-VG auf Verfassungsebene einzuordnen sind. Die gegenständliche Bestimmung hat daher verfassungsergänzenden Inhalt und bedarf daher einer parlamentarischen Genehmigung gemäß Art. 50 Abs. 3 B‑VG. Der Beschluss hat keinen politischen Charakter. Er berührt nicht den selbständigen Wirkungsbereich der Länder, weswegen es keiner Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 50 Abs. 1 zweiter Satz bedarf. Er ist der unmittelbaren Anwendbarkeit im innerstaatlichen Rechtsbereich zugänglich, so dass die Erlassung von Gesetzen gemäß Art. 50 Abs. 2 B-VG nicht erforderlich ist.

Der Beschluss sowie die bei seiner Annahme in das Ratsprotokoll aufgenommenen Erklärungen sind in den zwölf authentischen Vertragssprachen der Europäischen Union abgefasst, wobei jeder Text gleichermaßen authentisch ist. Die Bundesregierung hat dem Nationalrat vorgeschlagen, den Beschluss inklusive der bei der Beschlussfassung im Rat abgegebenen Erklärungen in allen authentischen Sprachfassungen, außer jener in deutscher Sprache, dadurch kundzumachen, dass er gemäß Art. 49 Abs. 2 B-VG im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten zur öffentlichen Einsichtnahme aufliegt.

 

Der Verfassungsausschuss hat den gegenständlichen Staatsvertrag in seiner Sitzung am 6. November 2003 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich die Abgeordneten Dr. Caspar Einem, Dr. Ulrike Baumgartner-Gabitzer, Dr. Eva Glawischnig, Josef Bucher, Karl Donabauer, Dipl.-Ing. Mag. Roderich Regler, Dr. Michel Spindelegger, Mag. Ulrike Lunacek, Herbert Scheibner, Fritz Neugebauer, Helga Machne, Mag. Elisabeth Grossmann sowie der Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel.

Bei der Abstimmung wurde einstimmig beschlossen, dem Hohen Haus die Genehmigung des Abschlusses dieses Staatsvertrages zu empfehlen.

Der Verfassungsausschuss vertritt weiters einstimmig die Auffassung, dass die Bestimmungen des Staatsvertrages zur unmittelbaren Anwendung im innerstaatlichen Bereich ausreichend determiniert sind, sodass sich eine Beschlussfassung des Nationalrates gemäß Art. 50 Abs. 2 B-VG zur Erfüllung des Staatsvertrages erübrigt.


Einstimmig wurde beschlossen, dass die dänischen, englischen, finnischen, französischen, griechischen, irischen, italienischen, niederländischen, portugiesischen, schwedischen und spanischen Sprachfassungen dadurch kundgemacht werden sollen, dass sie zur öffentlichen Einsichtnahme beim Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten aufliegen.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Verfassungsausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle beschließen:

1.      Der Abschluss des Staatsvertrages: Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (2002/772/EG, Euratom) zur Änderung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom samt Erklärungen (209 der Beilagen) – dessen Art. 1 Pkt. 7 lit. a) verfassungsergänzend ist – wird genehmigt.

2.      Gemäß Art. 49 Abs. 2 B-VG hat die Kundmachung dieses Staatsvertrages in dänischer, englischer, finnischer, französischer, griechischer, irischer, italienischer, niederländischer, portugiesischer, schwedischer und spanischer Sprache durch Auflage im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten zu erfolgen.

Wien, 2003 11 06

Karl Donabauer Dr. Peter Wittmann

       Berichterstatter                  Obmann