618 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP
Regierungsvorlage
Bundesgesetz über
den Ersatz von Schäden aufgrund einer strafgerichtlichen Anhaltung oder
Verurteilung (Strafrechtliches Entschädigungsgesetz 2005 - StEG 2005)
Der
Nationalrat hat beschlossen:
1.
Abschnitt
Anwendungsbereich
§
1. (1) Der Bund haftet
nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes für den Schaden, den eine Person
durch den Entzug der persönlichen Freiheit zum Zweck der Strafrechtspflege oder
durch eine strafgerichtliche Verurteilung erlitten hat.
(2) Die Bestimmungen
des Amtshaftungsgesetzes (AHG), BGBl. Nr. 20/1949, bleiben unberührt.
2.
Abschnitt
Ersatzpflicht
des Bundes
Ersatzanspruch
§
2. (1) Ein
Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 steht nur einer Person zu, die
1. durch eine inländische Behörde oder eines ihrer
Organe zum Zweck der Strafrechtspflege oder auf Grund der Entscheidung eines
inländischen Strafgerichts gesetzwidrig festgenommen oder angehalten wurde
(gesetzwidrige Haft);
2. wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung
festgenommen oder in Haft gehalten wurde und in der Folge durch ein
inländisches Strafgericht freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt wurde
(ungerechtfertigte Haft) oder
3. durch ein inländisches Strafgericht nach
Wiederaufnahme oder Erneuerung des Verfahrens oder sonstiger Aufhebung eines
früheren Urteils freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt oder
neuerlich verurteilt wurde, sofern in diesem Fall eine mildere Strafe verhängt
wurde oder eine vorbeugende Maßnahme entfiel oder durch eine weniger belastende
Maßnahme ersetzt wurde (Wiederaufnahme).
(2)
Das Organ, das der geschädigten Person den Schaden zufügte, haftet ihr nicht.
Ausschluss
und Einschränkung des Ersatzanspruchs
§
3. (1) Eine Haftung des
Bundes ist ausgeschlossen, soweit
1. in den Fällen der gesetzwidrigen Haft, der
ungerechtfertigten Haft und der Wiederaufnahme mit einer nachfolgenden milderen
Strafe oder weniger belastenden Maßnahme die Zeit der Anhaltung auf eine Strafe
angerechnet wurde;
2. im Fall der ungerechtfertigten Haft die
geschädigte Person nur deshalb nicht verfolgt wurde, weil die Ermächtigung zur
oder der Antrag auf Strafverfolgung zurückgenommen wurde oder die Strafbarkeit
der Tat aus Gründen entfiel, die erst nach der Festnahme oder Anhaltung
eintraten;
3. im Fall der ungerechtfertigten Haft die
geschädigte Person nur deshalb nicht verfolgt wurde, weil sie die Tat im
Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen hatte oder
4. im Fall der Wiederaufnahme an die Stelle der
aufgehobenen Entscheidung nur deshalb eine günstigere trat, weil inzwischen das
Gesetz geändert worden ist.
(2) In den Fällen der
ungerechtfertigten Haft und der Wiederaufnahme kann das Gericht die Haftung des
Bundes mindern oder auch ganz ausschließen, soweit ein Ersatz unter
Bedachtnahme auf die Verdachtslage zur Zeit der Festnahme oder Anhaltung, auf
die Haftgründe und auf die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des
Verfahrens geführt haben, unangemessen wäre. Ist die geschädigte Person aber in
einem Strafverfahren gemäß § 259 Z 3 der Strafprozessordnung 1975 (StPO), BGBl.
Nr. 631/1975, freigesprochen worden, so kann dabei die Verdachtslage nicht
berücksichtigt werden.
(3) Die Haftung des
Bundes kann jedoch im Fall der gesetzwidrigen Haft weder ausgeschlossen noch
gemindert werden, wenn die Festnahme oder Anhaltung unter Verletzung der
Bestimmungen des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention, BGBl Nr.
210/1958, oder des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen
Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988, erfolgte.
Mitverschulden
§
4. (1) Wenn die
geschädigte Person an ihrer Festnahme oder Anhaltung ein Verschulden trifft,
etwa weil sie den Verdacht oder einen Haftgrund dadurch herbeiführte, dass sie
sich in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu einer
späteren Verantwortung belastete oder wesentliche entlastende Umstände verschwieg,
weil sie eine ordnungsgemäße Ladung nicht befolgte, weil sie gelinderen Mitteln
zuwider handelte oder weil sie gegen die Festnahme oder Anhaltung kein
Rechtsmittel einbrachte, ist § 1304 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs
(ABGB), JGS Nr. 936/1811, anzuwenden.
(3) Die Haftung des
Bundes kann jedoch im Fall der gesetzwidrigen Haft aufgrund eines
Mitverschuldens der geschädigten Person weder ausgeschlossen noch gemindert
werden, wenn die Festnahme oder Anhaltung unter Verletzung der Bestimmungen des
Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention, BGBl Nr. 210/1958, oder des
Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr.
684/1988, erfolgte.
Gegenstand
des Ersatzes
§
5. (1) Der Gegenstand
und der Umfang des Ersatzes richten sich nach den Bestimmungen des ABGB. Der
Schaden ist nur in Geld zu ersetzen.
(2) Der Ersatzanspruch
wegen des Entzugs der persönlichen Freiheit umfasst auch eine angemessene
Entschädigung für die durch die Festnahme oder die Anhaltung erlittene
Beeinträchtigung. Bei der Beurteilung der Angemessenheit sind die Dauer der
Anhaltung sowie die persönlichen Verhältnisse der geschädigten Person und deren
Änderung durch die Festnahme oder Anhaltung zu berücksichtigen.
(3) Ein Ersatzanspruch
nach § 1 Abs. 1 unterliegt keiner bundesgesetzlich geregelten Abgabe.
Beschränkung
der Verfügbarkeit
§
6. Ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 ist
Exekutions- oder Sicherungsmaßnahmen entzogen, außer zugunsten einer Forderung
auf Leistung des gesetzlichen Unterhalts oder auf Ersatz von
Unterhaltsaufwendungen, die die geschädigte Person nach dem Gesetz selbst hätte
machen müssen (§ 1042 ABGB). Soweit Exekutions- und Sicherungsmaßnahmen
ausgeschlossen sind, ist auch jede Verpflichtung und Verfügung der geschädigten
Person durch Abtretung, Anweisung, Verpfändung oder durch ein anderes
Rechtsgeschäft unter Lebenden unwirksam.
Rückersatz
§
7. Hat der Bund der geschädigten Person den
Schaden ersetzt, so kann er von Personen, die als seine Organe gehandelt und
den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig verschuldet haben, Rückersatz
begehren. Auf den Rückersatzanspruch sind die §§ 3, 4, 5 und 6 Abs. 2 AHG
anzuwenden.
Verjährung
§
8. (1) Ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1
verjährt in drei Jahren nach Ablauf des Tages, an dem der geschädigten Person
die anspruchsbegründenden Voraussetzungen bekannt geworden sind, keinesfalls
aber vor einem Jahr nach Rechtskraft der Entscheidung oder Verfügung, aus der
der Ersatzanspruch abgeleitet wird. Sind der geschädigten Person diese
Voraussetzungen nicht bekannt geworden oder ist der Schaden aus einer
gerichtlich strafbaren Handlung entstanden, die nur vorsätzlich begangen werden
kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, so verjährt ein
solcher Ersatzanspruch erst in zehn Jahren nach der Festnahme oder der
Anhaltung.
(2) Die Verjährung
wird durch eine Aufforderung gemäß § 9 für die dort bestimmte Frist oder, wenn
die Aufforderung innerhalb dieser Frist beantwortet wird, bis zur Zustellung
der Antwort an die geschädigte Person gehemmt. Gleiches gilt bei Wiederaufnahme
eines Strafverfahrens zum Nachteil der geschädigten Person (§ 11) bis zur
Rechtskraft der Entscheidung im wiederaufgenommenen Strafverfahren.
3.
Abschnitt
Verfahren
Aufforderungsverfahren
§
9. (1) Die geschädigte
Person soll den Bund, vertreten durch die Finanzprokuratur, zunächst
schriftlich auffordern, ihr binnen drei Monaten eine Erklärung zukommen zu
lassen, ob er den Ersatzanspruch anerkennt oder ganz oder zum Teil ablehnt. Das
zur Entscheidung über den Ersatzanspruch berufene Gericht kann der geschädigten
Person für dieses Aufforderungsverfahren nach den Bestimmungen der
Zivilprozessordnung (ZPO), RGBl. Nr. 113/1895, über die Verfahrenshilfe einen
Rechtsanwalt beigeben.
(2) Hat die
geschädigte Person den Bund zur Anerkennung eines Anspruchs nicht oder nicht
hinreichend deutlich aufgefordert oder die Klage vor Ablauf der Frist von drei
Monaten erhoben oder den Anspruch erst im Lauf eines Rechtsstreits geltend
gemacht, so steht dem Bund, soweit er den Ersatzanspruch anerkennt oder
erfüllt, für die Dauer von drei Monaten ab Geltendmachung, längstens jedoch bis
zum Schluss der mündlichen Streitverhandlung, Kostenersatz nach § 45 ZPO zu.
(3) Der Bundesminister
für Justiz kann mit Verordnung die näheren Anforderungen an das
Aufforderungsschreiben der geschädigten Person sowie die für die Mitwirkung der
Gerichte und Staatsanwaltschaften zur Vorbereitung der Grundlagen für die
Entscheidung über die Berechtigung eines Ersatzanspruchs erforderlichen
Regelungen erlassen.
Bindung
§
10. Jede rechtskräftige
Entscheidung eines inländischen Gerichts, mit der die Rechtswidrigkeit einer
Festnahme oder Anhaltung ausgesprochen wird, ist für das weitere Verfahren über
einen Ersatzanspruchnach § 1 Abs. 1 bindend. Gleiches gilt für ein endgültiges
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem ausgesprochen
wird, dass das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden ist.
Auswirkungen
einer Wiederaufnahme
§
11. (1) Wird ein Strafverfahren zum Nachteil
der geschädigten Person wiederaufgenommen, so ist die Erklärung nach § 9 Abs. 1
oder die Zahlung einer anerkannten Entschädigung bis zur rechtskräftigen
Beendigung des wiederaufgenommenen Strafverfahrens aufzuschieben. Die
Finanzprokuratur hat hievon die geschädigte Person zu verständigen. Vor
Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im wiederaufgenommenen Strafverfahren
kann der Entschädigungsanspruch nicht mit Klage geltend gemacht werden. Ein
bereits anhängiger Rechtsstreit ist vom Gericht zu unterbrechen.
(2) Nach Rechtskraft
der Entscheidung im wiederaufgenommenen Strafverfahren sind die nach
Abs. 1 aufgeschobenen Rechtshandlungen nachzuholen, das unterbrochene
Gerichtsverfahren fortzusetzen oder bereits geleistete Entschädigungen
zurückzufordern, sofern die geschädigte Person diese Beträge nicht gutgläubig
verbraucht hat.
(3) Das Gericht, das
über den Antrag auf Wiederaufnahme zu entscheiden hat, hat unverzüglich die
Finanzprokuratur vom Einlangen dieses Antrags zu verständigen.
Verfahren
§
12. (1) Auf das
Verfahren gegen den Bund und das Rückersatzverfahren gegen ein Organ sind die
§§ 9, 10, 13 und 14 AHG anzuwenden.
(2) Die geschädigte
Person kann einen Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 gegen das Organ, das ihr den
Schaden zufügte, im ordentlichen Rechtsweg nicht geltend machen.
4.
Abschnitt
Schluss- und
Übergangsbestimmungen
In- und
Außer-Kraft-Treten
§
13. (1) Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Jänner
2005 in Kraft.
(2) Mit Ablauf des 31.
Dezember 2004 tritt das Bundesgesetz vom 8. Juli 1969, BGBl. Nr. 270, über die
Entschädigung für strafgerichtliche Anhaltung und Verurteilung
(Strafrechtliches Entschädigungsgesetz - StEG) außer Kraft.
Übergangsbestimmungen
§
14. (1) Dieses Bundesgesetz
ist anzuwenden, wenn
1. eine vor dem In-Kraft-Treten dieses
Bundesgesetzes begonnene Anhaltung in den Fällen der gesetzwidrigen Haft oder
der ungerechtfertigten Haft nach dem 31. Dezember 2004 geendet hat;
2. im Fall der Wiederaufnahme die Entscheidung,
mit der eine rechtskräftige Verurteilung aufgehoben wurde, nach dem 31.
Dezember 2004 in Rechtskraft erwachsen ist.
(2) In allen anderen
Fällen einer Festnahme oder Anhaltung vor dem 1. Jänner 2005 sind die bisher
geltenden Rechtsvorschriften anzuwenden.
Verweise
§
15. (1) Soweit in
diesem Bundesgesetz auf andere Bundesgesetze verwiesen wird, sind diese in der
jeweils geltenden Fassung anzuwenden.
(2) Soweit in anderen
Bundesgesetzen und Verordnungen auf Bestimmungen verwiesen wird, die durch dieses
Bundesgesetz geändert oder aufgehoben werden, erhält die Verweisung ihren
Inhalt aus den entsprechenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes.
Vollziehung
§
16. Mit der Vollziehung
dieses Bundesgesetzes ist der Bundesminister für Justiz betraut.