636 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP

 

Bericht

des Justizausschusses

über die Regierungsvorlage (618 der Beilagen): Bundesgesetz über den Ersatz von Schäden aufgrund einer strafgerichtlichen Anhaltung oder Verurteilung (Strafrechtliches Entschädigungsgesetz 2005 - StEG 2005)

Das Bundesgesetz über die Entschädigung für strafgerichtliche Anhaltung und Verurteilung (Strafrechtliches Entschädigungsgesetz – StEG), BGBl. Nr. 270/1969 (im Folgenden StEG 1969), zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 91/1999, steht seit einiger Zeit in der rechtspolitischen Diskussion. Anlass dafür waren in erster Linie die durch Art. 6 MRK normierten Verfahrensgarantien und deren Auslegung durch den EGMR. Die gesetzliche Regelung solcher Entschädigungsfälle muss besonderen Anforderungen genügen. Das zeigt nicht zuletzt der Werdegang des StEG 1969: In den Sechzigerjahren war der Fall Rebitzer gegen Österreich, eine Menschenrechtsbeschwerde wegen Verletzung der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 MRK, unmittelbarer Anlass für die Neuregelung dieses Rechtsbereichs (Moos, Reformbedürftigkeit des Strafrechtlichen Entschädigungsgesetzes? RZ 1997, 122, unter Hinweis auf Okresek, Die EMRK und ihre Auswirkungen auf das österreichische Strafverfahrensrecht, EuGRZ 1987, 497 [499]). Obwohl der Gesetzgeber seinerzeit im Hinblick auf die damalige Judikatur des Gerichtshofs bemüht war, sowohl den Anforderungen der MRK als auch des Bundes-Verfassungsgesetzes gerecht zu werden, bereiten aus heutiger Sicht einige der damaligen Wertungen Probleme. Das gilt etwa für die Entscheidung, die Fälle der „ungerechtfertigten“ Verurteilung einerseits und der „ungerechtfertigten“ Verwahrungs- oder Untersuchungshaft andererseits unterschiedlich zu behandeln. Letztere seien – so die Erläutenden Bemerkungen der RV 1197 BlgNR 11. GP. 7 – ein weniger schwerer Eingriff in die Rechtssphäre des Rechtsunterworfenen als die rechtskräftige Verurteilung und daher eher zu akzeptieren. Diese Einschätzung schlug sich in unterschiedlich strengen Anspruchsvoraussetzungen nieder. Von dem in den beiden früheren Entschädigungsgesetzen (RGBl. Nr. 318/1918 und BGBl. Nr. 242/1932) enthaltenen Erfordernis der Verdachtsentkräftung ging das StEG 1969 nur für Ersatzansprüche wegen einer rechtskräftigen Verurteilung ab. Für die Ansprüche wegen vorläufiger Verwahrung- oder Untersuchungshaft oder wegen einer auf Ersuchen eines inländischen Gerichtes verhängten Auslieferungshaft wurde dagegen die „Entkräftung des Verdachtes“ als Voraussetzung des Anspruchs beibehalten.

Bis zum Jahre 1969 hatte sich der EGMR mit der Reichweite der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK bei der Entscheidung über eine Entschädigung für die durch eine strafrechtliche Verfolgung verursachten Nachteile nicht befasst. Soweit ersichtlich, setzte sich der Gerichtshof damit erst in den Jahren 1982 und 1983 näher auseinander (Pilnacek, Strafrechtliches Entschädigungsgesetz im Spannungsverhältnis zu Art 6 MRK, ÖJZ 2001, 546, 554). Der EGMR betonte zwar, dass der Konvention kein Recht auf Entschädigung nach der Einstellung eines Strafverfahrens oder dessen Beendigung durch einen Freispruch zu entnehmen sei. Für den Fall der Einräumung solcher Ansprüche seien aber die Anforderungen der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 MRK besonders zu beachten. Diese Auffassung präzisierte der EGMR in der Entscheidung im Fall Sekanina gegen Österreich (ÖJZ 1993, 816): Demnach sei der Ausspruch von Verdächtigungen, die die Unschuld eines Angeklagten beträfen, zwar denkbar, solange ein Strafverfahren nicht mit einer Entscheidung über die Begründetheit der Anklage geendet habe. Sobald aber ein Freispruch rechtskräftig geworden sei, sei es nicht mehr zulässig, sich auf solche Verdächtigungen zu berufen. Einen der (vorläufigen) Schlusspunkte dieser Rechtsprechung bildet die Entscheidung des EGMR im Fall Rushiti gegen Österreich (ÖJZ 2001, 55): Hier betonte der Gerichtshof erneut, dass es bei einem freisprechenden Erkenntnis mit der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 MRK nicht vereinbar sei, wenn im Anschluss an ein solches Erkenntnis der Fortbestand der Verdachtsgründe geprüft oder darüber durch staatliche Organe entschieden werde. Sobald ein Freispruch, und zwar auch ein Freispruch in dubio, rechtskräftig geworden sei, widersprächen jegliche Schuldverdächtigungen einschließlich solcher, die in der Begründung des Freispruchs zum Ausdruck kämen, der Unschuldsvermutung.

Kritisch beurteilte der EGMR ferner die Verfahrensbestimmungen des § 6 StEG 1969 und besonders die dort vorgesehene Entscheidung des Strafgerichts über die Anspruchsvoraussetzungen des § 2 und die Ausschlussgründe des § 3: Das Fehlen einer Verpflichtung zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und zur öffentlichen Verkündung der strafgerichtlichen Entscheidung widerspreche dem Art. 6 Abs. 1 MRK. Soweit ein innerstaatliches, ziviles Recht auf Entschädigung bestehe, bedürfe er zur Sicherstellung eines fairen Verfahrens sowohl der Durchführung einer öffentlichen Gerichtsverhandlung als auch einer öffentlichen Entscheidungsverkündung (vgl. etwa EGMR 24.11.1997, 138/1996/757/956, Fall Werner gegen Österreich).

Die österreichischen Strafgerichte tragen dieser Rechtsprechung des EGMR durch eine verfassungs- und grundrechtskonforme Auslegung des geltenden Gesetzes Rechnung (vgl. etwa zur Berücksichtigung der Unschuldsvermutung OGH EvBl 2004/24, zur Öffentlichkeit des Verfahrens und zur mündlichen Entscheidungsverkündung OGH EvBl 2002/55; RZ 2002/6; EvBl 2001/36 ua; vgl. dazu näher Schwab, StEG – Evolution durch Interpretation, RZ 2001, 162). Dennoch bedarf auch das geltende Gesetz einer Änderung, um jegliche Zweifel an der Konformität des österreichischen Rechts mit der MRK zu zerstreuen. Die Bundesregierung hat daher im Ministerrat vom 1.2.2002 beschlossen, eine grundrechtskonforme Neugestaltung dieses Rechtsbereichs unter Bedachtnahme auf moderne zivilrechtliche Grundsätze in die Wege zu leiten.

Hauptgesichtspunkte des Entwurfs

Der Reformbedarf wird zum Anlass genommen, das strafrechtliche Entschädigungsrecht insgesamt neu zu gestalten. Dem Geschädigten soll es in Hinkunft – nach Durchführung eines außergerichtlichen Aufforderungsverfahrens – frei stehen, sich sogleich an das Zivilgericht zu wenden und seine Ansprüche einzuklagen. Dabei kann er auch Verfahrenshilfe beantragen und erhalten. Das bisher einem Zivilprozess vorgeschaltete strafrechtliche Verfahren über die Anspruchsvoraussetzungen und die Ausschließungsgründe (§ 6 StEG 1969) soll dagegen – trotz mancher im Begutachtungsverfahren gegen diesen Vorschlag geäußerten Bedenken (vgl. dazu auch Lukasch/Schwab, [Zuviel?] Neues zum StEG, RZ 2003, 147) – beseitigt werden. Mit der damit verbundenen Konzentration der Anspruchstellung auf die Zivilgerichte soll das Verfahren im Interesse aller Beteiligten beschleunigt werden. Gleichzeitig wird damit auch der Judikatur des EGMR zu den Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 MRK Rechnung getragen. Letztlich ist es zweckmäßig, zur Entscheidung über den im Kern zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch einen anderen Zweig der Gerichtsbarkeit als die Strafgerichte zu berufen.

Darüber hinaus soll die Rechtsposition des Geschädigten hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen und der Ausschlussgründe verbessert werden. Vor allem ist hier die Anspruchsvoraussetzung der Verdachtsentkräftung nach einem freisprechenden Erkenntnis zu erwähnen. Die derzeit geltende Regelung widerspricht nicht nur in Teilen der MRK, sondern hat den Betroffenen aufgrund der damit verbundenen Beweislastverteilung in der Praxis häufig große Probleme bereitet und die Durchsetzung ihrer Ansprüche verhindert. Das Erfordernis der vollständigen Verdachtsentkräftung nach einem Freispruch soll daher entfallen. Es wäre aber nicht sachgerecht, eine Entschädigung in allen anderen Fällen der Einstellung des Verfahrens quasi automatisch ohne nähere Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu gewähren. Vielmehr bedarf es eines Instrumentariums, mit dem unangemessenen und unbilligen Ergebnissen begegnet werden kann. Zu denken ist hier an Fälle, in denen die uneingeschränkte Zuerkennung einer Ersatzleistung etwa im Hinblick auf eine zunächst „drückende“ Beweislage oder bei Vorliegen schwerwiegender Haftgründe unverständlich wäre. Derartigen unangemessenen Entschädigungsansprüchen soll mit einer – bisher im Gesetz nicht vorgesehenen – „differenzierten Ermessensklausel“ begegnet werden. Eine solche Ermessensregelung sollte auch im Licht der MRK keine Probleme bereiten (vgl. Matscher, Nachholbedarf im österreichischen Strafverfahrensrecht? ÖJZ 2002, 741, 742 [FN 10]), zumal die Konvention nach der Rechtsprechung des EGMR die Mitgliedstaaten der Konvention nicht dazu verhält, für die fraglichen Fälle überhaupt eine Entschädigung zu gewähren.

Die dargestellten Maßnahmen erforderten im geltenden StEG 1969 umfangreiche Änderungen. Angesichts dessen und im Hinblick auf die grundlegende Neuorientierung dieses Rechtsbereichs ist es sinnvoll, das geltende Recht nicht durch eine bloße Novelle zu ändern, sondern ein neues (Eingriffs-) Haftungsgesetz zu erlassen. Dabei soll auch auf den Ersatz immaterieller Schäden Bedacht genommen werden: Für die durch den Entzug der persönlichen Freiheit erlittene Beeinträchtigung, also für das „Haftübel“ im engeren Sinn, soll dem Betroffenen eine angemessene Entschädigung zustehen. Die Entwicklung im Schadenersatzrecht tendiert allgemein dahin, den Schädiger auch zum Ersatz bloß ideeller Nachteile zu verhalten. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht sachgerecht, in den Fällen der strafrechtlichen Entschädigung weiterhin nur materielle Schäden auszugleichen und für das „Haftübel“ selbst, also für den Eingriff in das fundamentale Recht auf persönliche Freiheit, Schadenersatz zu verweigern. Die tatsächlichen Verhältnisse lassen sich nicht mit dem Polizeibefugnis-Entschädigungsgesetz (nach dem kein immaterieller Schadenersatz geleistet wird) vergleichen, weil dort nicht Entschädigungen für Eingriffe in die persönliche Freiheit geleistet werden, sondern für „Sonderopfer“, die unbeteiligte Dritte durch Maßnahmen der Exekutive erleiden.

Was den Umfang des Ersatzes angeht, so sieht der Entwurf von einer „Deckelung“ oder Pauschalierung der Beträge ab. Nur so kann letztlich den konkreten Umständen des Einzelfalls verlässlich Rechnung getragen werden. Das zeigt nicht zuletzt auch die Rechtsprechung zu § 1329 ABGB, Art. 5 Abs. 5 MRK und § 1 AHG.

Der Justizausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner Sitzung am 6. Oktober 2004 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich im Anschluss an die Ausführungen des Berichterstatters die Abgeordneten Mag. Johann Maier, Mag. Heribert Donnerbauer, Dr. Gabriela Moser, Mag. Ruth Becher, Dr. Johannes Jarolim, Dr. Christian Puswald, Dr. Dieter Böhmdorfer, Mag. Gisela Wurm, Mag. Terezija Stoisits, Dr. Peter Wittmann, Mag. Karin Hakl sowie die Bundesministerin für Justiz Mag. Karin Miklautsch und die Ausschussobfrau Abgeordnete Mag. Dr. Maria Theresia Fekter.

 

Im Zuge der Debatte haben die Abgeordneten Mag. Dr. Maria Theresia Fekter, Dr. Dieter Böhmdorfer,  Mag. Johann Maier einen Abänderungsantrag eingebracht, der wie folgt begründet war:

„Die Regierungsvorlage sieht in § 4 Abs. 1 vor, dass die Unterlassung der Einbringung eines Rechtsmittels gegen die Festnahme oder Anhaltung der geschädigten Person als Mitverschulden angelastet werden kann. Dieser Fall kann allerdings mit den anderen in dieser Bestimmung geregelten Sachverhalten nicht uneingeschränkt gleichgesetzt werden. Zudem kann diese Regelung ebenso wie der noch im Ministerialentwurf nach dem Vorbild des § 2 Abs. 2 AHG vorgesehene Ausschluss der Haftung zu einer nicht wünschenswerten Fülle von Rechtsmitteln führen, die nur aus advokatorischer Vorsicht im Hinblick auf die dem Betroffenen allenfalls zustehenden Ersatzansprüche eingebracht werden. Daher empfiehlt es sich, dieses Beispiel für ein Mitverschulden aus dem Katalog der in § 4 Abs. 1 aufgezählten Fälle zu streichen. Das schließt es freilich nicht aus, dass die Unterlassung eines Rechtsmittels der geschädigten Person im Einzelfall doch gemäß § 1304 ABGB zur Last gelegt wird, wenn nämlich dieser Umstand ein solches Gewicht hat, dass er den in Abs. 1 sonst aufgezählten Fällen gleich kommt. Das soll dadurch klargestellt werden, dass die Unterlassung des Vorbringens von entlastenden Neuerungen in einer Beschwerde (vgl. § 179 Abs. 5 und § 182 Abs. 4 StPO) oder in einem Antrag (vgl. § 179 Abs. 4 Z 8, § 182 Abs. 3 letzter Satz und § 193 Abs. 5 StPO) dem Verschweigen dieser Umstände nach dem vorgesehenen § 4 Abs. 1 Z 1 gleichgesetzt wird. Entlastende Umstände können auch im Rahmen einer Vernehmung oder Haftverhandlung verschwiegen oder nicht vorgebracht werden; in diesem Fall ist freilich vorauszusetzen, dass die geschädigte Person tatsächlich die Gelegenheit hatte, solche Umstände vorzubringen.

Der Lesbarkeit und damit Verständlichkeit des Gesetzes dient es weiter, wenn die in § 4 Abs. 1 der Regierungsvorlage demonstrativ angeführten Umstände in einzelne Bestimmungen aufgegliedert werden.“

 

In der vom Abgeordneten Mag. Johann Maier beantragten getrennten Abstimmung wurde die Regierungsvorlage in der Fassung des Abänderungsantrages bis § 3 Abs. 1 einstimmig, der § 3 Abs. 2 mehrstimmig sowie § 3 Abs. 3 bis § 16 ebenfalls mehrstimmig angenommen.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Justizausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem angeschlossenen Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 2004-10-06

Dipl.-Ing. Mag- Roderich Regler Mag. Dr. Maria Theresia Fekter

       Berichterstatter                     Obfrau