Vorblatt

Problem:

Auf Grund der Sonderbestimmung des Art. II des Bundesverfassungsgesetzes über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union brauchten der Beitrittsvertrag oder einzelne seiner Bestimmungen nicht als „verfassungsändernd“ bezeichnet werden. Analoge Regelungen enthielten die Bundesverfassungsgesetze über den Abschluss des Vertrages von Amsterdam, über den Abschluss des Vertrages von Nizza und über den Abschluss des Vertrages über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union. Es ist daher unklar, welche Bestimmungen des Vertrages über eine Verfassung für Europa „verfassungsändernd“ sind und daher ausdrücklich als solche bezeichnet werden müssten.

Lösung:

Erlassung eines Bundesverfassungsgesetzes nach dem Muster der genannten Bundesverfassungsgesetze.

Alternativen:

Inkorporation einer entsprechenden bundesverfassungsgesetzlichen Ermächtigung in das B‑VG.

Auswirkungen auf die Beschäftigung und den Wirtschaftsstandort Österreich sowie finanzielle Auswirkungen:

Keine, weil sich das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz inhaltlich auf die Ermächtigung zum Abschluss eines bestimmten Staatsvertrages beschränkt.

Verhältnis zu Rechtsvorschriften der Europäischen Union:

Welche Voraussetzungen für eine Ratifikation des Vertrages über eine Verfassung für Europa erfüllt sein müssen, richtet sich ausschließlich nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates. Gemeinschaftsrecht bzw. Unionsrecht wird durch das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz daher nicht berührt.

Besonderheiten des Normerzeugungsverfahrens:

Zweidrittelmehrheit im Nationalrat gemäß Art. 44 Abs. 1 B‑VG.


Erläuterungen

Allgemeiner Teil

Zur Frage der ausdrücklichen Bezeichnung der Bestimmungen des Vertrages über eine Verfassung für Europa als „verfassungsändernd“

Der Staatsvertrag über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (im Folgenden: Beitrittsvertrag), BGBl. Nr. 45/1995, wurde auf Grund der besonderen bundesverfassungsgesetzlichen Ermächtigung des Art. I des Bundesverfassungsgesetzes über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (im Folgenden: EU-BeitrittsBVG), BGBl. Nr. 744/1994, abgeschlossen. Auf Grund der Sonderbestimmung des Art. II EU-BeitrittsBVG brauchten der Beitrittsvertrag oder einzelne seiner Bestimmungen nicht als „verfassungsändernd“ bezeichnet werden. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (RV 1546 d. B. XVIII. GP [im Folgenden: RV], 4) wird dies damit begründet, dass „eine genaue Bezeichnung jener Teile des Beitrittsvertrages (einschließlich insbesondere des darin verwiesenen Unionsvertrages und EU-Sekundärrechts), welche verfassungsändernd sind, kaum möglich und eine verfassungsrechtliche Verankerung des gesamten Beitrittsvertrages äußerst unzweckmäßig wäre. Dies nicht zuletzt wegen des Vorranges aller Arten unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts vor innerstaatlichem Recht (und zwar grundsätzlich einschließlich bundesverfassungsrechtlicher Vorschriften)“. Durch diese Vorgangsweise musste voraussetzungsgemäß unklar bleiben, welche Bestimmungen des Beitrittsvertrages nun tatsächlich „verfassungsändernd“ (und welche nur „gesetzändernd“ oder „gesetzesergänzend“) sind.

Die Verträge von Amsterdam und Nizza sowie der Vertrag über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union (im Folgenden: EU-Erweiterungsvertrag) sahen jeweils immer auch Änderungen von Primärrecht vor, das bereits Gegenstand eines der früheren Verträge gewesen war, weshalb sich bei ihrem Abschluss dasselbe rechtstechnische Problem wie bei Abschluss des Beitrittsvertrages stellte. Um dieses Problem zu lösen, wurden in die zum Abschluss dieser Verträge ermächtigenden Bundesverfassungsgesetze dem Art. II EU-BeitrittsBVG analoge Regelungen aufgenommen (vgl. Art. I des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluß des Vertrages von Amsterdam, BGBl. I Nr. 76/1998, Art. 1 Abs. 1 des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages von Nizza, BGBl. I Nr. 120/2001, und Art. 1 Abs. 1 des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union, BGBl. I Nr. 53/2003). Es erscheint zweckmäßig, die eingeschlagene Vorgangsweise auch beim Vertrag über eine Verfassung für Europa (im Folgenden: Verfassungsvertrag) beizubehalten und von einer ausdrücklichen Bezeichnung des Vertrages oder einzelner seiner Bestimmungen als „verfassungsändernd“ abzusehen.

Zu den Kompetenzgrundlagen und den Besonderheiten des Normerzeugungsverfahrens

1.             In kompetenzrechtlicher Hinsicht stützt sich das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz auf Art. 10 Abs. 1 Z 1 B‑VG („Bundesverfassung“).

2.             Gemäß Art. 44 Abs. 1 B‑VG kann das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden. Art. 44 Abs. 2 B‑VG ist auf dieses Bundesverfassungsgesetz nicht anwendbar, weil es sich inhaltlich auf die Ermächtigung zum Abschluss eines bestimmten Staatsvertrages beschränkt, also keine Regelungen enthält, „durch die die Zuständigkeit der Länder in Gesetzgebung oder Vollziehung eingeschränkt wird“.

3.1           Art. 44 Abs. 3 B‑VG gilt, wie sich schon aus seiner systematischen Stellung unter „D. Der Weg der Bundesgesetzgebung“ ergibt, nur für Bundesgesetze und nicht auch für Staatsverträge (so zutreffend bereits Retter, Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Lichte der Bundesverfassung, JAP 1994/95, 80 [83]). Andererseits ist nach dieser Bestimmung „jede Gesamtänderung der Bundesverfassung … einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen“. Daraus ist zu schließen, dass eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ nach dem B‑VG nur durch (Bundes‑)Verfassungsgesetz (und nicht durch Staatsvertrag) vorgenommen werden kann bzw. darf (so im Ergebnis wohl auch Adamovich/Funk/Holzinger, Österreichisches Staatsrecht Bd. 1. Grundlagen [1997], Rz 16.027). Würde das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz zum Abschluss eines Staatsvertrages ermächtigen, der eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ beinhaltet, müsste es demnach dem Verfahren nach Art. 44 Abs. 3 B‑VG unterzogen werden.

3.2           Nach herrschender Meinung liegt eine Gesamtänderung der Bundesverfassung dann vor, wenn diese so umgestaltet wird, dass eines ihrer „Baugesetze“ aufgehoben oder geändert wird oder wenn das Verhältnis dieser „Baugesetze“ zueinander eine wesentliche Änderung erfährt. Über die Anzahl der „Baugesetze“ und deren Inhalt bestehen in Lehre und Rechtsprechung zum Teil erhebliche Meinungsverschiedenheiten; weitgehende Einigkeit besteht jedoch darüber, dass zu diesen das demokratische Prinzip, das republikanische Prinzip, das bundesstaatliche Prinzip, das rechtsstaatliche Prinzip und das gewaltentrennende Prinzip gehören (vgl. Adamovich/Funk/Holzinger, Staatsrecht, Rz 10.001 ff; Öhlinger, Verfassungsrecht5 [2003], Rz 62 ff; Retter, Beitritt, 81 ff; Rill/Schäffer, Art 44 B‑VG, in: dies., Bundesverfassungsrecht. Kommentar [2001], Rz 21 ff; Walter/Mayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts9 [2000], Rz 146 ff). Was im Einzelnen unter „Gesamtänderung“ zu verstehen ist, konnte freilich auch schon vor Erlassung des EU-BeitrittsBVG nicht eindeutig gesagt werden (vgl. Ringhofer, Bundesverfassung [1977], 151 sowie nunmehr, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen, Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 65). Fest steht jedenfalls, dass das demokratische Prinzip, das bundesstaatliche Prinzip, das rechtsstaatliche Prinzip und das gewaltentrennende Prinzip durch das EU-BeitrittsBVG geändert worden sind (vgl. RV, 3 f; AB 1600 d. B. XVIII. GP [im Folgenden: AB], 13 f).

3.3           Zur Frage einer verfassungsrechtlichen Verankerung inhaltlicher Integrationsschranken wird in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage des EU-BeitrittsBVG (RV, 6 f) festgehalten, dass

„auch ohne eine derartige ausdrückliche inhaltliche Bezugnahme auf bestimmte verfassungsrelevante Wesenselemente des Gemeinschaftsrechts das vorliegende Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union in Verbindung mit dem Stand der Entwicklung des Unionsrechts zum Zeitpunkt des österreichischen Unionsbeitrittes den Maßstab einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung künftiger Entwicklungen des Unionsrechts bilden wird: Durch den EU-Beitritt Österreichs werden die Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung (insbesondere das demokratische Prinzip, aber auch das gewaltenteilende, das rechtsstaatliche und das bundesstaatliche Prinzip) zwar modifiziert, sie bleiben jedoch in der durch den Beitrittsvertrag (dessen Abschluß sich auf das im Entwurf vorliegende Bundesverfassungsgesetz stützt) umgestalteten Ausprägung bestehen. Auch künftige Gesamtänderungen der solcherart modifizierten Grundordnung des Bundesverfassungsrechts bedürften somit vor ihrem Inkrafttreten neuerlich einer Volksabstimmung. Dies trifft auch auf den Fall zu, daß eine künftige Änderung des Unionsvertrages abermals gesamtändernden Charakter haben sollte (es versteht sich von selbst, daß Änderungen des Unionsvertrages nicht in jedem Fall, sondern wohl nur ausnahmsweise in bezug auf die österreichische Bundesverfassung gesamtändernd wären).“

Auch im Bericht des Verfassungsausschusses (AB, 14) wird betont,

„daß die erwähnten Grundprinzipien in dieser ihrer modifizierten Form nach wie vor weiter gelten werden. Dieser Umstand ist vor allem für die Beurteilung der folgenden Frage von Bedeutung: Im Zuge der Ausschußberatungen ist insbesondere auch erwogen worden, ob es notwendig bzw. zweckmäßig wäre, bundesverfassungsgesetzliche Bestimmungen vorzusehen, die als „Integrationsschranken“ wirken können. Wenn davon letztlich Abstand genommen wird, so geschieht dies im wesentlichen in Übereinstimmung mit den Erläuterungen zur Regierungsvorlage. Weiters ist zu bemerken, daß nicht von den Gemeinschaftsverträgen gedeckte Rechtsakte schon im Hinblick auf die Gemeinschaftsverträge unzulässig sind und daher auch ohne derartige Integrationsschranken von der bundesverfassungsgesetzlichen „Integrationsermächtigung“ von vornherein nicht gedeckt wären. Derartige Rechtsakte wären daher von den in Betracht kommenden innerstaatlichen Organen insbesondere am Maßstab der genannten Grundprinzipien zu messen und gegebenenfalls – wie in der Regierungsvorlage näher ausgeführt – als nichtig anzusehen. Zum anderen hätten auch künftige Änderungen der Gemeinschaftsverträge unter der Voraussetzung, daß sie diese modifizierten Grundprinzipien maßgeblich berühren, gleichfalls gesamtändernden Charakter und wären diesfalls – auch ohne besondere Festschreibung von Integrationsschranken – nur im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung unter Einschluß einer Volksabstimmung zulässig. Einer Wiederholung der durch das Beitritts-BVG modifizierten Grundprinzipien in Form von Integrationsschranken bedarf es daher nicht.

Auch so wird sichergestellt, daß im gegenständlichen Verfahren keine Blankovollmacht erteilt wird, die österreichische Rechtsordnung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht beliebig zu öffnen. Künftige Veränderungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts können für und in Österreich nur Wirksamkeit entfalten, wenn auch über diese künftigen Veränderungen in der dem österreichischen Verfassungsrecht entsprechenden Weise entschieden wird: In der Form eines Gesetzes, eines Verfassungsgesetzes oder allenfalls wieder in Form eines gesamtändernden Bundesverfassungsgesetzes.“

Die Existenz von Integrationsschranken ist auch in der (österreichischen) Literatur nahezu einhellig anerkannt (siehe Adamovich/Funk/Holzinger, Staatsrecht, Rz 17.061; Baumgartner, EU-Mitgliedschaft und Grundrechtsschutz [1997], 104 ff; Öhlinger, Verfassungsrechtliche Aspekte des Vertrags von Amsterdam in Österreich, in: Hummer [Hrsg.], Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam [1998], 297 [299 f]; Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, in: Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht [1999], Rz 19; Pernthaler, Die neue Doppelverfassung Österreichs, FS Winkler [1997], 773 [795]; Stolzlechner, Die Auswirkungen einer Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union auf die österreichische Verfassungsordnung, in: Hummer [Hrsg.], Die Europäische Union und Österreich. Europarechtliche, völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Perspektiven [1994], 163 [177]; Thun-Hohenstein, Das Verhältnis zwischen österreichischem Recht und dem Recht der Europäischen Union, SWA-Studienarbeit Nr. 107 [1995], 65; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht, Rz 246/10; vorsichtiger Griller, Verfassungsfragen der österreichischen EU-Mitgliedschaft, ZfRV 1995, 89 [96], demzufolge der Umstand, dass dies nur aus den Materialien erschlossen werden könne und im Text des EU-BeitrittsBVG in keiner Weise zum Ausdruck komme, „zumindest als legistischer Mangel bezeichnet“ werden müsse; zweifelnd Retter, Beitritt, 87 f).

In welchem Ausmaß die „Baugesetze“ durch das EU-BeitrittsBVG modifiziert worden sind, ist freilich außerordentlich unklar und dogmatisch letztlich wohl auch nicht eindeutig zu beantworten (vgl. Baumgartner, Grundrechtsschutz, 105; Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 21; Pernthaler, Doppelverfassung, 795). In einer sehr allgemeinen Formulierung kann gesagt werden, dass sich die österreichische verfassungsrechtliche Grundordnung gegenüber der Rechtsordnung der Europäischen Union nur soweit geöffnet hat, als die Widersprüche zwischen dieser Rechtsordnung nach ihrem Stand von 1995 und der verfassungsrechtlichen Grundordnung reichten (Öhlinger, Aspekte, 300; ähnlich Adamovich/Funk/Holzinger, Staatsrecht, Rz 17.061).

Andererseits bedarf nicht jede vertragliche Änderung des Primärrechts einer neuerlichen Volksabstimmung (so ausdrücklich RV, 7 und implizit AB, 8; ausdrücklich auch Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 20; im Ergebnis Adamovich/Funk/Holzinger, Staatsrecht, Rz 17.061; vorsichtiger Griller, Verfassungsfragen, 96 und Rill/Schäffer, Art 44 B‑VG, Rz 52). So bestand etwa aus Anlass des Abschlusses der Verträge von Amsterdam und Nizza und des EU-Erweiterungsvertrages nicht die Notwendigkeit der Durchführung einer Volksabstimmung (so auch ausdrücklich – hinsichtlich des Vertrages von Amsterdam – Öhlinger, Aspekte, 299 ff und – hinsichtlich der Verträge von Amsterdam und Nizza – R.. Winkler, Integrationsverfassungsrecht, 55).

Kraft der engen Verflechtungen von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht können auch wesentliche Veränderungen EU-interner „Verfassungsprinzipien“ eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirken, auch wenn sie innerhalb der österreichischen Verfassungsordnung gar keine Änderungen erfordern (Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 22 unter Berufung auf Griller, Verfassungsfragen, 96 f; R.. Winkler, Integrationsverfassungsrecht, 46 ff).

3.4                Gegenüber dem geltenden Primärrecht sieht der Verfassungsvertrag insbesondere folgende Änderungen vor (siehe näher die zusammenfassende Darstellung von Obwexer, Die neue Verfassung für Europa, ecolex 2004, 674):

      Gründung einer (neuen) Europäischen Union

         Die im Verfassungsvertrag vorgesehene Gründung einer (neuen) Europäischen Union (Art. I‑1) mit eigener Rechtspersönlichkeit (Art. I‑7), die die Rechtsnachfolge der bestehenden Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft antreten (Art. IV‑438 Abs. 1) und in den Mitgliedstaaten die weitest gehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit besitzen soll, die juristischen Personen nach diesen Rechtsvorschriften zuerkannt ist (Art. III‑426), berührt die „Baugesetze“ der Bundesverfassung als solche nicht. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Frage, ob der Europäischen Union Rechtspersönlichkeit zukommt, von einem Teil der Lehre schon bisher bejaht wurde (vgl. Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 30 mwH).

      Werte und Ziele der Union

         Die Bestimmungen über die Werte und Ziele der Union (Art. I‑2 und Art. I‑3) entsprechen im Wesentlichen der geltenden Rechtslage.

      Vorrang des Unionsrechtes

         Gemäß Art. I‑6 haben die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Wie aus einer eigenen Erklärung (Nr. 1) hervorgeht, soll durch diese Bestimmung die ständige Rechtsprechung des EuGH zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts kodifiziert werden. Da diese Eigenschaft dem Gemeinschaftsrecht bereits im Zeitpunkt des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union zugekommen ist (vgl. RV, 7; AB, 4), beinhaltet diese Bestimmung insoweit „inhaltlich nichts Neues“ (Obwexer, Verfassung für Europa, 676).

         Demgegenüber vertritt Öhlinger (Referendum über Verfassung nötig? Die Presse vom 5. Juli 2004, 20) die Auffassung, dass diese Bestimmung einen uneingeschränkten und absoluten Vorrang des Unionsrechts proklamiere, wodurch die „Baugesetze“ der Bundesverfassung ihren obersten Rang verlieren würden (ebenso – ohne nähere Begründung – Obwexer, Verfassung für Europa, 676). Praktisch bedeute dies, dass künftige Änderungen des primären Unionsrechts (des Verfassungsvertrages), die inhaltlich das demokratische, bundesstaatliche oder rechtsstaatliche Prinzip der Bundesverfassung wesentlich modifizieren, innerstaatlich auch ohne Volksabstimmung gemäß Art. 44 Abs. 3 B-VG für Österreich verbindlich würden und vom VfGH nicht mehr am Maßstab der verfassungsrechtlichen Grundordnung überprüft werden könnten. Der Geltungsbereich des Art. 44 Abs. 3 B-VG und damit der Geltungsbereich der Grundprinzipien der Bundesverfassung werde dadurch gegenüber dem Unionsrecht eingeschränkt; so wie die Aufhebung des Art. 44 Abs. 3 B-VG sei aber wohl auch eine solche Einschränkung als Gesamtänderung zu qualifizieren.

         Der Auffassung Öhlingers ist von Griller (Referendum über EU-Verfassung Pflicht? Keine zwingenden Argumente in Sicht, Die Presse vom 12. Juli 2004, 10) entgegen gehalten worden, dass der EuGH in seiner Vorrangjudikatur schon bisher keinen Vorbehalt zugunsten nationaler Verfassungskerne gemacht habe. Trotzdem könnten diese – etwa ein Mindeststandard im Grundrechtsschutz, das Demokratieprinzip oder der Aufbau unseres Bundesstaates – von den nationalen Höchstgerichten verteidigt werden, wenn auch um den Preis eines (denkbaren) Konflikts mit dem EuGH. Daran würde sich durch den Verfassungsvertrag nichts ändern.

         Wie jüngst von Hammer (EU-Verfassungsvertrag, Gesamtänderung der Bundesverfassung und pouvoir constituant, juridikum 2004, 113 [114]) dargelegt worden ist, kann Art I-6 samt seiner interpretativen Deklaration allerdings auch

         „gerade als Absage an die bisher auf mitgliedstaatlicher Seite vertretene Position [im Souveränitätskonflikt zwischen den Mitgliedstaaten und der Union] verstanden werden. Dass die Deklaration durch ihre ausschließliche Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH den noch bestehenden rechtlichen Schwebezustand nicht vollständig wiedergibt, hat also für die Zukunft insofern eine normative Bedeutung, als Art I-6 des Verfassungsvertrags eben so zu interpretieren ist, dass er die Position des Gerichtshofs unter Ausschluss der rivalisierenden mitgliedsstaatlichen Positionen festschreibt. Diese selektive Rezeption beendet also den schwelenden Konflikt und lokalisiert die Souveränität bei der Union. Zudem bleibt das Gebot der Achtung der (Verfassungs-)Identität der Mitgliedstaaten im Verfassungsvertrag auch nicht mehr von der Zuständigkeit des EuGH ausgespart. Damit unterliegt das Gemeinschaftsrecht auch in diesem Zusammenhang ausschließlich der Kontrolle durch den EuGH. Solange dieser es nicht für ungültig erklärt, hat es also unanfechtbar Vorrang auch gegenüber dem Kernbestand der Verfassungen der Mitgliedsstaaten.“

         Für die Annahme, die ausdrückliche Positivierung des Vorranges des Unionsrechts im Verfassungsvertrag in Art. I-6 beschränke sich nicht auf eine bloße Kodifikation der Rechtsprechung des EuGH, sondern bewirke auch einen „grundlegenden Qualitätswandel“ im Verhältnis des Unionsrechts zum mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht (vgl. die Überlegungen von R.. Winkler, Integrationsverfassungsrecht, 52), fehlt es jedoch an überzeugenden Anhaltspunkten. Ebenso wie nach Art. 6 Abs. 3 EUV, ist die Union auch nach Art. I-5 Abs. 1 des Verfassungsvertrages zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten verpflichtet; dieses Achtungsgebot bezieht sich insbesondere auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, wobei diejenigen Grundsätze, die die Verfassungsidentität ausmachen, für die Union weitgehend unüberwindbar sein dürften (so ausdrücklich Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Ergänzungslieferung 23 [2004], Rz 97; vgl. auch Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, DVBl 2003, 1165 und 1234 [1170], der von den „Unantastbarkeiten“ der mitgliedstaatlichen Ordnung bzw. dem „Hausgut“ der Mitgliedstaaten spricht). Für Österreich bedeutet dies, dass die Union auch nach dem Verfassungsvertrag zur Achtung der „Baugesetze“ der Bundesverfassung verpflichtet ist.

      Auflösung der Säulenstruktur

         Durch die im Verfassungsvertrag vorgesehene Aufnahme der bisherigen intergouvernementalen Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (zweite Säule) und der Polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (dritte Säule) in den Katalog der Politikbereiche nach Teil III werden diese zum Teil des Unionsrechts (wobei allerdings gewisse Sonderregelungen bestehen bleiben). Dies hat zur Folge, dass die „Strukturprinzipien“ des Gemeinschaftsrechts (insb. autonome Geltung, unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang gegenüber innerstaatlichem Recht) grundsätzlich auch in diesem Bereich Anwendung finden.

         Eine qualitative Änderung des Verhältnisses zwischen Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht und innerstaatlichem Recht ist mit einer „Vergemeinschaftung“ der zweiten und dritten Säule zwar nicht verbunden (vgl. die Ausführungen zum Vorrang des Unionsrechts), es könnte jedoch die Auffassung vertreten werden, dass durch die Auflösung der gesamten zweiten und dritten Säule Kompetenzen der Mitgliedstaaten in einem quantitativ so bedeutsamen Ausmaß in die Zuständigkeit der (neuen) Union übertragen werden, dass dadurch die Schwelle zur Gesamtänderung überschritten wird. So kommt R.. Winkler (Integrationsverfassungsrecht, 46) zum Schluss, dass „[die] Grundprinzipien durch eine weitreichende Kompetenzübertragung an die EU, etwa durch die Eingliederung der Außen- und Sicherheitspolitik in die Gemeinschaftsstruktur, nochmals nachhaltig berührt werden können, womit eine erneute Gesamtänderung vorläge“ (Hervorhebung nicht im Original; vgl. auch die Überlegungen von Pernthaler, Doppelverfassung, 795 und Öhlinger, Aspekte, 302 und EU-BeitrittsBVG, Rz 30).

         Nun ist die „Vergemeinschaftung“ vorher intergouvernementaler Bereiche durchaus kein neuartiges Phänomen: Zuletzt wurden mit dem Vertrag von Amsterdam Teile der dritten Säule unter dem Titel „Schrittweiser Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in die erste Säule transferiert, ohne dass aus Anlass der parlamentarischen Behandlung des zum Abschluss dieses Vertrages ermächtigenden Bundesverfassungsgesetzes die Frage der Notwendigkeit einer neuerlichen Volksabstimmung aufgeworfen worden wäre; Öhlinger, der sich zu dieser Frage geäußert hat, verneinte sie jedenfalls ausdrücklich (vgl. dens., Aspekte, 301 f). Vor dem Hintergrund der Materialien zum EU-BeitrittsBVG, die davon ausgehen, dass Änderungen des Unionsvertrages „wohl nur ausnahmsweise“ gesamtändernden Charakter haben werden, sprechen gute Gründe dafür, entgegen R.. Winkler auch weit reichende Kompetenzverschiebungen zugunsten der Union als vom EU-BeitrittsBVG gedeckt anzusehen, sofern die Union dadurch nicht von einem „Staatenverbund“ zu einem echten „europäischen Bundesstaat“ wird (vgl. Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 30). Dies ist nach dem Verfassungsvertrag jedoch schon deswegen nicht der Fall, weil er den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. I‑1) unberührt lässt.

      Aufhebung des geltenden Primärrechts

         Die in Art. IV‑437 in Verbindung mit dem Protokoll Nr. 33 vorgesehene (fast) vollständige Aufhebung des geltenden Primärrechts (mit Ausnahme des EAG-Vertrages) ist eine bloß rechtstechnische Konsequenz seiner kodifikatorischen Zusammenfassung im Verfassungsvertrag und berührt die „Baugesetze“ als solche nicht (vgl. Öhlinger, Aspekte, 302). Im Übrigen soll das geltende Unionsrecht entsprechend dem Grundsatz der rechtlichen Kontinuität in Form eines „Aquis“ übernommen werden und auch die Rechtsprechung des EuGH und des EuG weiterhin maßgeblich bleiben (Art. IV‑438 Abs. 3 und 4).

       Aufrechterhaltung des EAG-Vertrages

         Die im Protokoll Nr. 36 vorgesehenen Änderungen des EAG-Vertrages beschränken sich im Wesentlichen auf technische Anpassungen. Im Übrigen werden die „Baugesetze“ der Bundesverfassung durch Aufrechterhaltung des EAG-Vertrages nicht berührt.

      Neuerungen im institutionellen Bereich

         Obwohl der Verfassungsvertrag umfangreiche Neuerungen im institutionellen Bereich vorsieht, sind diese sowohl für sich allein als auch in ihrer Gesamtheit nicht so tiefgreifend, dass von einer Gesamtänderung der Bundesverfassung gesprochen werden könnte (vgl. das von Griller, Verfassungsfragen, 97 gegebene Beispiel einer Abschaffung des Europäischen Parlaments unter gleichzeitiger Übertragung der Rechtsetzungsbefugnisse des Rates auf die Europäische Kommission). Von diesen Neuerungen seien daher im Folgenden nur jene hervorgehoben, bei denen Rückwirkungen auf die Bundesverfassung zumindest denkmöglich sind, nämlich die Änderung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission sowie die Beschlusserfordernisse im Europäischen Rat und im Ministerrat (Rat).

         Änderung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments

         Die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments darf nach dem Verfassungsvertrag 750 nicht überschreiten. Die Bürger und Bürgerinnen der Union sind im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten; kein Mitglied erhält jedoch mehr als 96 Sitze. Die näheren Regelungen unter Beachtung dieser Grundsätze werden vom Europäischen Rat getroffen (Art. I‑20 Abs. 2).

         In diesem Zusammenhang ist zunächst von Bedeutung, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments ein europäisches Mandat haben, also die Bürger und Bürgerinnen der Union in ihrer Gesamtheit vertreten und nicht nur das Volk, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen (vgl. AB, 3). Sieht man dessen ungeachtet die Mitgliedschaft österreichischer Abgeordneter im Europäischen Parlament als von dem durch das EU-BeitrittsBVG modifizierten demokratischen Prinzip umfasst an (vgl. die Überlegungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 89, 155 [186] zur Möglichkeit einer zumindest teilweisen Kompensierung von mit Kompetenzänderungen verbundenen Demokratiedefiziten durch eine verstärkte demokratische Legitimation; vgl. auch R.. Winkler, Integrationsverfassungsrecht, 55, demzufolge die Aufwertung des Europäischen Parlaments durch die Verträge von Amsterdam und Nizza die modifizierten Grundprinzipien der Bundesverfassung „sogar stärkt“), sind die Auswirkungen der vorgesehenen Änderung aber jedenfalls als geringfügig einzustufen. Hiefür spricht auch, dass sie sich in qualitativer Hinsicht nicht von den in der Vergangenheit durch den Beitritt neuer Mitglieder bedingten Änderungen unterscheidet.

         Änderung der Zusammensetzung der Europäischen Kommission

         Ab November 2014 wird die Kommission aus einer Anzahl von Mitgliedern bestehen, die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht, es sei denn, dass der Europäische Rat einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt. Die Kommissionsmitglieder werden unter den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einem System der gleichberechtigten Rotation ausgewählt. Die näheren Regelungen unter Beachtung dieser Grundsätze werden vom Europäischen Rat getroffen (Art. I‑26 Abs. 6).

         Abgesehen davon, dass es gerade nicht die Aufgabe der Europäischen Kommission ist, die Interessen derjenigen Staaten zu vertreten, denen ihre Mitglieder angehören (vgl. Art. I‑26 Abs. 1), ist nicht ersichtlich, welches „Baugesetz“ der Bundesverfassung dadurch berührt sein könnte, dass Österreich nicht in jeder Amtszeit der Europäischen Kommission einen Kommissar oder eine Kommissarin „stellt“.

         Änderungen der Beschlusserfordernisse im Europäischen Rat und im Ministerrat (Rat)

         Durch den Verfassungsvertrag erhält der Europäische Rat erstmals ausdrücklich Organstellung (Art. I‑21). Die Beschlussfassung im Europäischen Rat erfolgt grundsätzlich im Konsens (Art. I‑21 Abs. 4), doch sieht die Verfassung in den meisten Fällen Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit vor. In diesem Zusammenhang kommt dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass gemäß Art. III‑365 Abs. 1 nunmehr alle Handlungen des Europäischen Rates mit Rechtswirkung gegenüber Dritten der Kontrolle durch den EuGH unterliegen. Auch Beschlüsse des Ministerrates (Rates) sollen künftig in der Regel mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden (Art. I‑23 Abs. 3).

         Als qualifizierte Mehrheit gilt grundsätzlich eine Mehrheit von mindestens 55% der Mitglieder des Ministerrates (Rates), gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65% der Bevölkerung ausmachen; für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder erforderlich. Diese Regelung gilt für Beschlüsse des Europäischen Rates (Art. I‑25).

         Der Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip auf das Mehrstimmigkeitsprinzip im Rat hat insofern indirekte Auswirkungen auf die Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union gemäß Art. 23e B‑VG, als damit die Möglichkeit entfällt, – von diesen in einer bindenden Stellungnahme als solche identifizierte – österreichische Interessen gegebenenfalls auch gegen die Stimmen aller anderen Mitgliedstaaten durchzusetzen. Ob das demokratische Prinzip dadurch überhaupt berührt ist, erscheint zumindest fraglich; fest steht jedenfalls, dass das Primärrecht bereits im Zeitpunkt des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union zahlreiche Bestimmungen enthielt, wonach bindende Beschlüsse auch gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten zustande kommen können. Regelungen dieser Art müssen daher jedenfalls als vom EU-BeitrittsBVG gedeckt angesehen werden.

       Kompetenzrechtliche Neuerungen

         Im Verfassungsvertrag ist die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten (vertikale Kompetenzverteilung) nach wie vor nicht in einem eigenen Kompetenzkatalog, sondern in zahlreichen Einzelbestimmungen geregelt; diese werden aber in eigene Kategorien eingeteilt und durch ein System politischer und gerichtlicher Kontrolle ergänzt. Daneben werden die Kompetenzen der Union nicht unbeträchtlich erweitert.

         Entsprechend der geltenden Rechtslage (vgl. Art. 5 EGV) wird die vertikale Kompetenzverteilung auch nach dem Verfassungsvertrag auf den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung (Art. I‑11 Abs. 1 und 2), der Subsidiarität (Art. I‑11 Abs. 3) und der Verhältnismäßigkeit (Art. I‑11 Abs. 4) beruhen. Darüber hinaus wird die Rechtmäßigkeit der Kompetenzausübung jedoch auch durch spezifische prozedurale Kontrollmechanismen abgesichert, die im Protokoll Nr. 1 über die Rechte der nationalen Parlamente in der Union und im Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit geregelt sind (politisches Frühwarnsystem, Möglichkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. III‑365 wegen Verstoßes eines Europäischen Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip). Die „Baugesetze“ der Bundesverfassung werden durch diese Regelungen offensichtlich nicht berührt.

         Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der im Verfassungsvertrag vorgesehenen Erweiterung der Unionskompetenzen siehe die Ausführungen zur Auflösung der Säulenstruktur.

       Rechtsetzung

         Der Verfassungsvertrag sieht eine Reduzierung der Rechtsakte auf (grundsätzlich) sechs Typen vor: Europäisches Gesetz, Europäisches Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme (Art. I‑33 ff). Bei den Rechtsetzungsverfahren wird künftig zwischen ordentlichem Gesetzgebungsverfahren (Art. I‑34 Abs. 1), besonderen Gesetzgebungsverfahren (Art. I‑34 Abs. 2 und 3) und sonstigen Rechtsetzungverfahren (Art. I‑35) unterschieden.

         Da die neuen Regelungen im Wesentlichen der geltenden Rechtslage entsprechen, werden die „Baugesetze“ der Bundesverfassung durch sie nicht berührt.

       Rechtsschutz

         Durch die im Verfassungsvertrag vorgesehene Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten werden die „Baugesetze“ der Bundesverfassung voraussetzungsgemäß nicht berührt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Regelung des Art. I‑29 Abs. 1 UAbs. 1, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen (müssen), damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

       Austrittsklausel

         Durch die Normierung eines Austrittsrechts (Art. I‑60) werden die „Baugesetze“ der Bundesverfassung nicht berührt.

      Verfahren zur Änderung des Verfassungsvertrages

         Der Verfassungsvertrag sieht künftig drei Novellierungsverfahren (ordentliches Änderungsverfahren, vereinfachtes Änderungsverfahren betreffend Beschlussfassung und Rechtsetzung, vereinfachtes Änderungsverfahren betreffend interne Politikbereiche der Union) vor. In allen diesen Fällen bleiben die Mitgliedstaaten jedoch „Herren der Verträge“; insbesondere im vereinfachten Änderungsverfahren betreffend die so genannte „Passerelle“ können Beschlüsse vom Europäischen Rat nur einstimmig gefasst werden bzw. können derartige einstimmige Beschlüsse des Europäischen Rates betreffend die internen Politikbereiche der Union nur mit Zustimmung der Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft treten.

       Grundrechtsschutz

         Art. I-9 sieht die Übernahme der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Schaffung einer Rechtsgrundlage für den Beitritt der Union zur EMRK und eine ausdrückliche Positivierung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts vor.

         Der Anwendungsbereich der Charta ist nach wie vor unverändert auf die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschränkt, die Mitgliedstaaten sind an sie ausschließlich bei Durchführung des Rechts der Union gebunden (Art. II‑111 Abs. 1). Die Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union (Art. II‑111 Abs. 2). Auch der Beitritt zur EMRK darf keine Änderung der im Verfassungsvertrag festgelegten Zuständigkeiten mit sich bringen (Art. I‑9 Abs. 2). Bei der Anerkennung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts handelt es sich im Wesentlichen um eine Kodifikation der Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht. Die „Baugesetze“ der Bundesverfassung werden durch diese Regelungen nicht berührt.

      Wirtschafts- und Währungsunion

         Auch nach dem Verfassungsvertrag bleibt die Wirtschaftspolitik Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die allerdings zur Koordinierung innerhalb der Union verpflichtet sind (Art. I‑15 Abs. 1); die Koordinierung obliegt dem Rat. Die sonstigen Regelungen in diesem Bereich berühren die „Baugesetze“ der Bundesverfassung nicht.

      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

         Zur Auflösung der zweiten Säule siehe die Ausführungen zur Auflösung der Säulenstruktur; die sonstigen Neuregelungen des Verfassungsvertrages auf diesem Gebiet (Einführung eines Außenministers der Union, verstärkte Zusammenarbeit in allen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Durchführung militärischer und ziviler Operationen, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) berühren die „Baugesetze“ der Bundesverfassung nicht.

         Die im Rahmen der engeren Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen Verteidigung bestehende Pflicht der Mitgliedstaaten, im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ zu leisten, lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt (Art. I‑41 Abs. 7). Diese sog. „irische Klausel“ soll insb. den neutralen Staaten die Möglichkeit geben, ihren Verpflichtungen aus der Neutralität nachzukommen.

      Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

         Zur Auflösung der dritten Säule siehe die Ausführungen zur Auflösung der Säulenstruktur; die sonstigen Neuregelungen des Verfassungsvertrages auf diesem Gebiet (Reform des Rechtsetzungsverfahrens, Weiterentwicklung der Politikbereiche) berühren die „Baugesetze“ der Bundesverfassung nicht.

3.5                Insgesamt gesehen ist somit davon auszugehen, dass die im Verfassungsvertrag vorgesehenen Änderungen des Unionsrechts die Grenze zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung nicht überschreiten. In diesem Sinn haben sich auch bereits Griller (Referendum) und – vorbehaltlich des Art. I‑6 – Öhlinger (Referendum) geäußert.

Besonderer Teil

Dass Art. 1 Abs. 1 zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages von Nizza, BGBl. I Nr. 120/2001, und Art. 1 Abs. 1 zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union, BGBl. I Nr. 53/2003, auch auf den „verfassungsergänzenden“ Inhalt der Bestimmungen der jeweiligen Verträge Bezug nehmen, erscheint insofern inkonsequent, als sich der „verfassungsergänzende“ Charakter staatsvertraglicher Bestimmungen ausschließlich aus der entsprechenden Bezeichnung ergeben kann (grundlegend Ringhofer, Genehmigungsbedürftige, insbesondere „verfassungsergänzende“ Staatsverträge, FS Floretta [1983], 79 [106]). Von einer solchen Bezeichnung der Bestimmungen des Vertrages über eine Verfassung für Europa soll jedoch aus den im Allgemeinen Teil dargelegten Gründen gerade abgesehen werden.

Im Übrigen entspricht die Formulierung der Bestimmungen des vorgeschlagenen Bundesverfassungsgesetzes jener der Bestimmungen der genannten Bundesverfassungsgesetze (vgl. RV 565 d. B. XXI. GP und RV 110 d. B. XXII. GP).