820 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP
Bericht
des Verfassungsausschusses
über die Regierungsvorlage (789 der
Beilagen): Bundesverfassungsgesetz
über den Abschluss des Vertrages über eine Verfassung für Europa
Zur Frage
der ausdrücklichen Bezeichnung der Bestimmungen des Vertrages über eine
Verfassung für Europa als „verfassungsändernd“
Der Staatsvertrag
über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (im Folgenden:
Beitrittsvertrag), BGBl. Nr. 45/1995, wurde auf Grund der besonderen
bundesverfassungsgesetzlichen Ermächtigung des Art. I des
Bundesverfassungsgesetzes über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union
(im Folgenden: EU-BeitrittsBVG), BGBl. Nr. 744/1994, abgeschlossen. Auf
Grund der Sonderbestimmung des Art. II EU-BeitrittsBVG brauchten der
Beitrittsvertrag oder einzelne seiner Bestimmungen nicht als
„verfassungsändernd“ bezeichnet werden. In den Erläuterungen zur
Regierungsvorlage (RV 1546 d. B. XVIII. GP [im Folgenden: RV], 4) wird
dies damit begründet, dass „eine genaue Bezeichnung jener Teile des
Beitrittsvertrages (einschließlich insbesondere des darin verwiesenen
Unionsvertrages und EU-Sekundärrechts), welche verfassungsändernd sind, kaum
möglich und eine verfassungsrechtliche Verankerung des gesamten
Beitrittsvertrages äußerst unzweckmäßig wäre. Dies nicht zuletzt wegen des
Vorranges aller Arten unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts vor
innerstaatlichem Recht (und zwar grundsätzlich einschließlich
bundesverfassungsrechtlicher Vorschriften)“. Durch diese Vorgangsweise musste
voraussetzungsgemäß unklar bleiben, welche Bestimmungen des Beitrittsvertrages
nun tatsächlich „verfassungsändernd“ (und welche nur „gesetzändernd“ oder
„gesetzesergänzend“) sind.
Die Verträge von
Amsterdam und Nizza sowie der Vertrag über den Beitritt der Tschechischen
Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der
Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen,
der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union (im
Folgenden: EU-Erweiterungsvertrag) sahen jeweils immer auch Änderungen von
Primärrecht vor, das bereits Gegenstand eines der früheren Verträge gewesen
war, weshalb sich bei ihrem Abschluss dasselbe rechtstechnische Problem wie bei
Abschluss des Beitrittsvertrages stellte. Um dieses Problem zu lösen, wurden in
die zum Abschluss dieser Verträge ermächtigenden Bundesverfassungsgesetze dem
Art. II EU-BeitrittsBVG analoge Regelungen aufgenommen (vgl. Art. I
des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluß des Vertrages von Amsterdam,
BGBl. I Nr. 76/1998, Art. 1 Abs. 1 des
Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages von Nizza,
BGBl. I Nr. 120/2001, und Art. 1 Abs. 1 des
Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages über den Beitritt
der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der
Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik
Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik
zur Europäischen Union, BGBl. I Nr. 53/2003). Es erscheint
zweckmäßig, die eingeschlagene Vorgangsweise auch beim Vertrag über eine
Verfassung für Europa (im Folgenden: Verfassungsvertrag) beizubehalten und von
einer ausdrücklichen Bezeichnung des Vertrages oder einzelner seiner
Bestimmungen als „verfassungsändernd“ abzusehen.
Zu den Kompetenzgrundlagen und den Besonderheiten des
Normerzeugungsverfahrens
1. In
kompetenzrechtlicher Hinsicht stützt sich das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz
auf Art. 10 Abs. 1 Z 1 B‑VG („Bundesverfassung“).
2. Gemäß
Art. 44 Abs. 1 B‑VG kann das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz
vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und
mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen
werden. Art. 44 Abs. 2 B‑VG ist auf dieses Bundesverfassungsgesetz
nicht anwendbar, weil es sich inhaltlich auf die Ermächtigung zum Abschluss
eines bestimmten Staatsvertrages beschränkt, also keine Regelungen enthält,
„durch die die Zuständigkeit der Länder in Gesetzgebung oder Vollziehung
eingeschränkt wird“.
3.1 Art. 44
Abs. 3 B‑VG gilt, wie sich schon aus seiner systematischen Stellung unter
„D. Der Weg der Bundesgesetzgebung“ ergibt, nur für Bundesgesetze und nicht
auch für Staatsverträge (so zutreffend bereits Retter,
Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Lichte der Bundesverfassung,
JAP 1994/95, 80 [83]). Andererseits ist nach dieser Bestimmung „jede
Gesamtänderung der Bundesverfassung … einer Abstimmung des gesamten
Bundesvolkes zu unterziehen“. Daraus ist zu schließen, dass eine
„Gesamtänderung der Bundesverfassung“ nach dem B‑VG nur durch (Bundes‑)Verfassungsgesetz
(und nicht durch Staatsvertrag) vorgenommen werden kann bzw. darf (so im Ergebnis
wohl auch Adamovich/Funk/Holzinger,
Österreichisches Staatsrecht Bd. 1. Grundlagen [1997], Rz 16.027).
Würde das vorgeschlagene Bundesverfassungsgesetz zum Abschluss eines
Staatsvertrages ermächtigen, der eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“
beinhaltet, müsste es demnach dem Verfahren nach Art. 44 Abs. 3 B‑VG
unterzogen werden.
3.2 Nach
herrschender Meinung liegt eine Gesamtänderung der Bundesverfassung dann vor,
wenn diese so umgestaltet wird, dass eines ihrer „Baugesetze“ aufgehoben oder
geändert wird oder wenn das Verhältnis dieser „Baugesetze“ zueinander eine
wesentliche Änderung erfährt. Über die Anzahl der „Baugesetze“ und deren Inhalt
bestehen in Lehre und Rechtsprechung zum Teil erhebliche
Meinungsverschiedenheiten; weitgehende Einigkeit besteht jedoch darüber, dass
zu diesen das demokratische Prinzip, das republikanische Prinzip, das
bundesstaatliche Prinzip, das rechtsstaatliche Prinzip und das
gewaltentrennende Prinzip gehören (vgl. Adamovich/Funk/Holzinger,
Staatsrecht, Rz 10.001 ff; Öhlinger,
Verfassungsrecht5 [2003], Rz 62 ff; Retter, Beitritt, 81 ff; Rill/Schäffer,
Art 44 B‑VG, in: dies., Bundesverfassungsrecht. Kommentar [2001],
Rz 21 ff; Walter/Mayer, Grundriss des
österreichischen Bundesverfassungsrechts9 [2000],
Rz 146 ff). Was im Einzelnen unter „Gesamtänderung“ zu verstehen ist,
konnte freilich auch schon vor Erlassung des EU-BeitrittsBVG nicht eindeutig
gesagt werden (vgl. Ringhofer, Bundesverfassung
[1977], 151 sowie nunmehr, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen, Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 65). Fest steht
jedenfalls, dass das demokratische Prinzip, das bundesstaatliche Prinzip, das
rechtsstaatliche Prinzip und das gewaltentrennende Prinzip durch das
EU-BeitrittsBVG geändert worden sind (vgl. RV, 3 f; AB 1600 d. B.
XVIII. GP [im Folgenden: AB], 13 f).
3.3 Zur
Frage einer verfassungsrechtlichen Verankerung inhaltlicher
Integrationsschranken wird in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage des
EU-BeitrittsBVG (RV, 6 f) festgehalten, dass
„auch ohne
eine derartige ausdrückliche inhaltliche Bezugnahme auf bestimmte
verfassungsrelevante Wesenselemente des Gemeinschaftsrechts das vorliegende
Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union in
Verbindung mit dem Stand der Entwicklung des Unionsrechts zum Zeitpunkt des
österreichischen Unionsbeitrittes den Maßstab einer verfassungsgerichtlichen
Nachprüfung künftiger Entwicklungen des Unionsrechts bilden wird: Durch den
EU-Beitritt Österreichs werden die Grundprinzipien der österreichischen
Bundesverfassung (insbesondere das demokratische Prinzip, aber auch das
gewaltenteilende, das rechtsstaatliche und das bundesstaatliche Prinzip) zwar
modifiziert, sie bleiben jedoch in der durch den Beitrittsvertrag (dessen
Abschluß sich auf das im Entwurf vorliegende Bundesverfassungsgesetz stützt)
umgestalteten Ausprägung bestehen. Auch künftige Gesamtänderungen der
solcherart modifizierten Grundordnung des Bundesverfassungsrechts bedürften
somit vor ihrem Inkrafttreten neuerlich einer Volksabstimmung. Dies trifft auch
auf den Fall zu, daß eine künftige Änderung des Unionsvertrages abermals gesamtändernden Charakter
haben sollte (es versteht sich von selbst, daß Änderungen des Unionsvertrages
nicht in jedem Fall, sondern wohl nur ausnahmsweise in bezug auf die österreichische
Bundesverfassung gesamtändernd wären).“
Auch im Bericht
des Verfassungsausschusses (AB, 14) wird betont,
„daß die erwähnten
Grundprinzipien in dieser ihrer modifizierten Form nach wie vor weiter gelten
werden. Dieser Umstand ist vor allem für die Beurteilung der folgenden Frage
von Bedeutung: Im Zuge der Ausschußberatungen ist insbesondere auch erwogen
worden, ob es notwendig bzw. zweckmäßig wäre, bundesverfassungsgesetzliche
Bestimmungen vorzusehen, die als „Integrationsschranken“ wirken können. Wenn
davon letztlich Abstand genommen wird, so geschieht dies im wesentlichen in
Übereinstimmung mit den Erläuterungen zur Regierungsvorlage. Weiters ist zu
bemerken, daß nicht von den Gemeinschaftsverträgen gedeckte Rechtsakte schon im
Hinblick auf die Gemeinschaftsverträge unzulässig sind und daher auch ohne
derartige Integrationsschranken von der bundesverfassungsgesetzlichen
„Integrationsermächtigung“ von vornherein nicht gedeckt wären. Derartige
Rechtsakte wären daher von den in Betracht kommenden innerstaatlichen Organen
insbesondere am Maßstab der genannten Grundprinzipien zu messen und
gegebenenfalls – wie in der Regierungsvorlage näher ausgeführt – als nichtig
anzusehen. Zum anderen hätten auch künftige Änderungen der
Gemeinschaftsverträge unter der Voraussetzung, daß sie diese modifizierten
Grundprinzipien maßgeblich berühren, gleichfalls gesamtändernden Charakter und
wären diesfalls – auch ohne besondere Festschreibung von Integrationsschranken
– nur im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung unter Einschluß einer
Volksabstimmung zulässig. Einer Wiederholung der durch das Beitritts-BVG
modifizierten Grundprinzipien in Form von Integrationsschranken bedarf es daher
nicht.
Auch so wird
sichergestellt, daß im gegenständlichen Verfahren keine Blankovollmacht erteilt
wird, die österreichische Rechtsordnung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht
beliebig zu öffnen. Künftige Veränderungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts
können für und in Österreich nur Wirksamkeit entfalten, wenn auch über diese
künftigen Veränderungen in der dem österreichischen Verfassungsrecht
entsprechenden Weise entschieden wird: In der Form eines Gesetzes, eines
Verfassungsgesetzes oder allenfalls wieder in Form eines gesamtändernden
Bundesverfassungsgesetzes.“
Die Existenz von
Integrationsschranken ist auch in der (österreichischen) Literatur nahezu
einhellig anerkannt (siehe Adamovich/Funk/Holzinger,
Staatsrecht, Rz 17.061; Baumgartner,
EU-Mitgliedschaft und Grundrechtsschutz [1997], 104 ff; Öhlinger, Verfassungsrechtliche Aspekte des Vertrags von
Amsterdam in Österreich, in: Hummer [Hrsg.], Die Europäische Union nach dem
Vertrag von Amsterdam [1998], 297 [299 f]; Öhlinger,
EU-BeitrittsBVG, in: Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht [1999],
Rz 19; Pernthaler, Die neue Doppelverfassung Österreichs, FS
Winkler [1997], 773 [795]; Stolzlechner, Die
Auswirkungen einer Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union auf die
österreichische Verfassungsordnung, in: Hummer [Hrsg.], Die Europäische Union
und Österreich. Europarechtliche, völkerrechtliche und verfassungsrechtliche
Perspektiven [1994], 163 [177]; Thun-Hohenstein,
Das Verhältnis zwischen österreichischem Recht und dem Recht der Europäischen
Union, SWA-Studienarbeit Nr. 107 [1995], 65; Walter/Mayer,
Bundesverfassungsrecht, Rz 246/10; vorsichtiger Griller,
Verfassungsfragen der österreichischen EU-Mitgliedschaft, ZfRV 1995, 89 [96],
demzufolge der Umstand, dass dies nur aus den Materialien erschlossen werden
könne und im Text des EU-BeitrittsBVG in keiner Weise zum Ausdruck komme,
„zumindest als legistischer Mangel bezeichnet“ werden müsse; zweifelnd Retter, Beitritt, 87 f).
In welchem Ausmaß
die „Baugesetze“ durch das EU-BeitrittsBVG modifiziert worden sind, ist
freilich außerordentlich unklar und dogmatisch letztlich wohl auch nicht
eindeutig zu beantworten (vgl. Baumgartner,
Grundrechtsschutz, 105; Öhlinger, EU-BeitrittsBVG,
Rz 21; Pernthaler, Doppelverfassung, 795). In einer sehr
allgemeinen Formulierung kann gesagt werden, dass sich die österreichische
verfassungsrechtliche Grundordnung gegenüber der Rechtsordnung der Europäischen
Union nur soweit geöffnet hat, als die Widersprüche zwischen dieser
Rechtsordnung nach ihrem Stand von 1995 und der verfassungsrechtlichen
Grundordnung reichten (Öhlinger, Aspekte, 300;
ähnlich Adamovich/Funk/Holzinger, Staatsrecht,
Rz 17.061).
Andererseits
bedarf nicht jede vertragliche Änderung des Primärrechts einer neuerlichen
Volksabstimmung (so ausdrücklich RV, 7 und implizit AB, 8; ausdrücklich auch Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 20; im Ergebnis Adamovich/Funk/Holzinger, Staatsrecht, Rz 17.061;
vorsichtiger Griller, Verfassungsfragen, 96 und Rill/Schäffer, Art 44 B‑VG, Rz 52). So bestand
etwa aus Anlass des Abschlusses der Verträge von Amsterdam und Nizza und des
EU-Erweiterungsvertrages nicht die Notwendigkeit der Durchführung einer
Volksabstimmung (so auch ausdrücklich – hinsichtlich des Vertrages von
Amsterdam – Öhlinger, Aspekte, 299 ff und –
hinsichtlich der Verträge von Amsterdam und Nizza – R.. Winkler,
Integrationsverfassungsrecht, 55).
Kraft der engen
Verflechtungen von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht können auch
wesentliche Veränderungen EU-interner „Verfassungsprinzipien“ eine
Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirken, auch wenn sie innerhalb der
österreichischen Verfassungsordnung gar keine Änderungen erfordern (Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, Rz 22 unter Berufung auf
Griller, Verfassungsfragen, 96 f; R.. Winkler,
Integrationsverfassungsrecht, 46 ff).
Der
Verfassungsausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner
Sitzung am 17. Februar 2005 in Verhandlung genommen. An der Debatte
beteiligten sich im Anschluss an die Ausführungen des Berichterstatters die
Abgeordneten Dr. Caspar Einem, Dr. Ulrike Baumgartner-Gabitzer, Dr. Eva Glawischnig, Dr. Helene Partik-Pablé
und Mag. Terezija Stoisits sowie der Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel.
Bei der Abstimmung
wurde der in der Regierungsvorlage enthaltene Gesetzentwurf einstimmig
angenommen.
Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Verfassungsausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf (789 der Beilagen) die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.
Wien, 2005 02 17
Dipl. Ing. Mag. Roderich Regler Dr. Peter Wittmann
Berichterstatter Obmann