60/J XXII.GP

Eingelangt am: 05.02.2003

ANFRAGE

der Abgeordneten Mag. Terezija Stoisits, Freundinnen und Freunde


an den Bundesminister für Justiz

betreffend Begnadigung von Opfern des § 209 StGB

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat vor kurzem Österreich
wegen der jahrelangen strafrechtlichen Verfolgung homo- und bisexueller Männer
auf Grund des § 209 StGB verurteilt (L. & V. vs. Austria, Judg. 09.01.2003, Appl.
39392/98, 39829/98 ; S.L vs. Austria, Judg. 09.01.2003, Appl. 45330/99;
http://hudoc.echr.coe.int). Besonders kritisiert hat der Gerichtshof die Verweigerung
der Aufhebung des § 209 auch noch nach dem Oktober 1995, obwohl damals, durch
die Expertenanhörung im Jahre 1995, bereits bekannt war, dass es keinen Grund für
das schwule Sondermindestalter gibt (L. & V.: par. 51; S.L.: par. 43).

§ 209 StGB ist mit Ablauf des 13.08.2002 außer Kraft getreten (BGBI l 134/2002, Art.
l Z. 19b, Art.
IX iVm Art. 49 Abs. 1 B-VG).

Das anti-homosexuelle Strafgesetz § 209 StGB wurde jedoch nicht ersatzlos
gestrichen, sondern, wieder entgegen den Warnungen der Experten, durch eine
neue Strafbestimmung, § 207b StGB, ersetzt.

Entsprechend den Übergangsbestimmungen (BGBI l 134/2002, Art. X ) ist § 209
StGB weiterhin in all jenen Fällen anzuwenden, in denen das Strafurteil erster
Instanz am 13.08.2002 (24.00) bereits gefällt war.

Dementsprechend wurde die Verurteilung des ersten im Jahre 2001 von Amnesty
International offiziell adoptierten Gewissensgefangenen zu einer Freiheitsstrafe auf
Grund des § 209 noch am 3.12.2002 durch das Oberlandesgericht Wien bestätigt
(OLG Wien 03.12.2002, 19 Bs 186/02). Das Erstgericht hatte sowohl im Beschluss
vom 24.09.2001 als auch im Urteil vom 15.01.2002 ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass der Mann seine jugendlichen Partner stets derart rücksichtsvoll behandelt hat,
dass sich viele Ehemänner daran ein Beispiel nehmen könnten (LG für Strafsachen
Wien, GZ 2d E Vr 1474/01, Hv 3194/01).

Unmittelbar nach der Rechtskraft der Verurteilung richtete der Gewissensgefangene
eine Gnadenbitte an den Herrn Bundespräsidenten, der diese Bitte an Sie, sehr
geehrter Herr Bundesminister, weitergeleitet hat.

Der Herr Bundespräsident teilte dem Gewissensgefangenen nun mit Schreiben vom
20.01.2003 (GZ 910030/55-STR/2003) mit, dass er keine Begnadigung aussprechen
könne, weil Sie ihm keinen Gnadenantrag vorgelegt hätten. Als Begründung hiefür
hätten Sie angegeben, dass einer der Jugendlichen einige Zeit bei dem Mann


gewohnt   habe,   weshalb   die   einverständlichen   sexuellen   Kontakte   auch   den
Tatbestand des nunmehrigen § 207b StGB erfüllen würden.

Soweit den unterzeichneten Abgeordneten bekannt ist, wurde nach der Aufhebung
des § 209 StGB lediglich ein § 209-Opfer begnadigt (BMJ GZ 98.478/16-IV 4/02).
Auch in diesem Fall (dem berüchtigten „Liebesbrief-Fall" aus dem Jahr 2001) erfolgte
jedoch nur eine teilweise Begnadigung. Die Tilgung der Verurteilung aus dem
Strafregister wurde auch hier nicht gewährt (ebendort).

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

ANFRAGE:

1.  Stimmt es, dass Sie sich geweigert haben, dem Herrn Bundespräsidenten die
Begnadigung des zu OLG Wien 19 Bs 186/02 am 03.12.2002 rechtskräftig
verurteilten § 209-Gewissensgefangenen vorzuschlagen?

Wenn nein, wieso teilte der Herr Bundespräsident dies dem Gnadenwerber so
mit?

2.  Wenn Sie die Frage 1 mit Ja beantworten: Stimmt es, dass Sie diese
Weigerung damit begründet haben, dass einer der Jugendlichen einige Zeit
bei dem Mann gewohnt habe, weshalb die einverständlichen sexuellen
Kontakte auch den Tatbestand des nunmehrigen § 207b StGB erfüllen
würden?

Wenn nein, wieso teilte der Herr Bundespräsident dies dem Gnadenwerber so
mit?

3. Wenn Sie die Frage 2 mit Ja beantworten: Welcher der drei Tatbestände des
§ 207b StGB wäre Ihrer Ansicht durch Gewährung der Wohnmöglichkeit
verwirklicht und warum?

4.   Falls Sie die Absätze 1 und/oder 2 des § 207b StGB erfüllt sehen: Wie kann
der Gnadenwerber eine angebliche „mangelnde Reife" oder eine angebliche
„Zwangslage" ausgenutzt haben, wenn er, wie das Landesgericht für
Strafsachen dies ausdrücklich zweimal betont hat, seine jugendlichen Partner
stets derart rücksichtsvoll behandelt hat, dass sich viele Ehemänner daran ein
Beispiel nehmen könnten?

5.   Falls Sie den Absatz 3 des § 207b StGB erfüllt sehen:

a) Sehen Sie im Übernachten lassen bzw. im Wohnen lassen ein „Entgelt" im
Sinne des § 207b Abs. 3 StGB?

b) Worin  sehen  Sie  im  vorliegenden   Fall  die  kausale  Verknüpfung  der
sexuellen Kontakte mit der Wohnmöglichkeit gegeben, worin die unmittelbare


Verleitung des Jugendlichen durch dieses angebliche „Entgelt", durch welche
Beweise wurde all dies bewiesen und welches unabhängige Gericht hat die
Erfüllung dieser Tatbestandselemente des § 207b StGB förmlich wann und
wie festgestellt?

6.  Sehen Sie, selbst wenn das Verhalten des Gnadenwerbers einen der
Tatbestände des § 207b StGB erfüllen würde, nicht schon darin einen
Gnadengrund, dass die Inhaftierung des Gnadenwerbers, das gegen ihn
geführte Strafverfahren und seine Verurteilung seine durch die Europäische
Menschenrechtskonvention (Art. 8, 14 EMRK) gewährleisteten fundamentalen
Menschenrechte verletzt haben (L. & V. vs. Austria, Judg. 09.01.2003, Appl.
39392/98, 39829/98 ; S.L. vs. Austria, Judg. 09.01.2003, Appl. 45330/99;
http://hudoc.echr.coe.int)?

Wenn nein,

a) warum nicht?

b) wie wird sonst dem Vorliegen einer schweren Menschenrechts-
verletzung im vorliegenden Fall Rechnung getragen?

7.  Stimmt es, dass die Probezeiten von nach § 209 StGB (teil)bedingt
verhängten Freiheitsstrafen trotz der Aufhebung des § 209 ebenso
weiterlaufen wie die Probezeiten bedingter Entlassungen aus nach § 209
verhängten Freiheitsstrafen oder aus Anstalten für geistig abnorme
Rechtsbrecher und dass nach wie vor über den betroffenen Opfern des § 209,
wie den vorliegenden Gnadenwerber, das Damoklesschwert der jederzeitigen
Gefahr schwebt, die grundrechtswidrig verhängte Freiheitsstrafe doch noch
(zur Gänze) verbüßen zu müssen (etwa gem. § 53 StGB)?

Wenn ja, was konkret werden Sie dagegen wann tun?

Wenn nein, wie verträgt sich Ihre Ansicht mit der Entscheidung des OLG Wien
18.09.2002, 20 Bs 303/02, die eine Effektuierung des Strafausspruchs auch
nach Außerkrafttreten eines Strafgesetzes ausdrücklich für zulässig hält (Seite
8).

8.  a) Wie viele Gnadenbitten wurden seit der Aufhebung des § 209 StGB von
Personen an Sie herangetragen, die nach § 209 StGB als alleinigem oder
führendem Delikt (im Sinne der Kriminalstatistik) verurteilt worden sind?

b) In wie vielen Fällen haben Sie seit der Aufhebung des § 209 StGB die
Verurteilungen von Personen, die nach § 209 StGB als alleinigem oder
führendem Delikt (im Sinne der Kriminalstatistik) verurteilt worden sind, von
Amts wegen auf die Möglichkeit einer Begnadigung geprüft?

9.   In wie vielen der zu Frage 8. angegebenen Gnadenfälle haben Sie dem Herrn
Bundespräsidenten einen Gnadenantrag vorgelegt, wie viele dieser Anträge
wurden negativ und wie viele positiv entschieden und in wie vielen Fällen
erfolgte eine Tilgung der Verurteilung aus dem Strafregister (jeweils
aufgeschlüsselt nach den Fällen gem. Frage 8a und Frage 8b)?


10. Wie viele Personen befinden sich derzeit wegen § 209 StGB (als alleiniges
oder im Sinne der Verurteiltenstatistik führendes Delikt) in Untersuchungshaft,
wie viele in Strafhaft und wie viele im Maßnahmenvollzug (aufgeschlüsselt
nach § 21 Abs. 1, § 21 Abs. 2 § 22, § 23 StGB), aufgeschlüsselt nach
Vollzugsanstalten? Wie lange werden diese Personen noch in Haft zu
verbringen haben?

11. Falls sich keine Person mehr wegen § 209 StGB (als alleiniges oder im Sinne
der Verurteiltenstatistik führendes Delikt) in Haft befindet: wann wurde die Haft
der letzten solchen Person beendet und wodurch?

a) Falls die Haft durch Entlassung beendet wurde: erfolgte die Entlassung
bedingt oder unbedingt? Falls bedingt: wie lange ist die Probezeit und wann
endet sie?

b) Falls die Haft durch Tod beendet wurde: warum durfte diese Person nicht in
Freiheit sterben?