829/J XXII. GP
Eingelangt am 24.09.2003
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
der Abgeordneten Mag. Terezija Stoisits, Freundinnen und Freunde
an den Bundesminister für Justiz
betreffend Begnadigung von Opfern des § 209 StGB
Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) hat Anfang dieses Jahres
Österreich wegen der jahrelangen strafrechtlichen Verfolgung homo- und
bisexueller
Männer auf Grund des § 209 StGB verurteilt (L & V. vs. Austria, Judg.
09.01.2003,
Appl. 39392/98, 39829/98 ; S.L vs. Austria, Judg. 09.01.2003, Appl.
45330/99;
http://hudoc.echr.coe.int). Besonders kritisiert hat der Gerichtshof
die Verweigerung
der Aufhebung des § 209 auch noch nach dem Oktober 1995, obwohl damals, durch
die Expertenanhörung im Jahre 1995, bereits bekannt war, dass es keinen Grund
für
das schwule Sondermindestalter gibt (L & V.: par. 51; S.L.: par.
43).
§
209 StGB ist mit Ablauf des 13.08.2002 außer Kraft getreten (BGBI l
134/2002, -
Art. l Z. 19b, Art. IX iVm Art. 49 Abs. 1 B-VG).
Das anti-homosexuelle Strafgesetz § 209
StGB wurde jedoch nicht ersatzlos
gestrichen, sondern, wieder entgegen den Warnungen der Experten, durch eine
neue Strafbestimmung, § 207b StGB, ersetzt, die mittlerweile - wie befürchtet -
mit
unverhältnismäßiger Intensität gegen
homosexuelle Männer angewendet wird.
Im Jahre 2000 machte der Fall jenes Mannes
Schlagzeilen, der am 25.05.1999
durch das LG für Strafsachen Graz ausschließlich auf Grund des § 209 StGB
zu
einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und sogar in eine Anstalt für
geistig
abnorme Rechtsbrecher eingewiesen wurde (GZ 6 EVr 474/99, Hv 262/99).
Auf Grund massiver Bemühungen der Plattform
gegen § 209 wurde dieser Mann am
09.01.2001 aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gegen eine
Probezeit
von fünf Jahren bedingt entlassen (LG für Strafsachen Graz, 2 BE 73/00).
§ 209 Strafgesetzbuch (StGB) erfasste nur
gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen
Männern. Die dem Mann diesbezüglich vorgeworfenen Taten waren und sind im
heterosexuellen bzw. lesbischen Bereich völlig straflos und interessieren dort
keine
Strafverfolgungsbehörde. Wäre das Geschlecht des Mannes (oder jenes des
Jugendlichen oder beider Geschlecht) ein anderes gewesen, so wäre er ein freier
Bürger geblieben. Weil er aber ein Mann
ist, und auch der Jugendliche männlichen
Geschlechts war, wurde er als Sexualverbrecher verurteilt (§ 209 iVm 17 StGB)
und
in die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen, in der er 1 ¾ Jahre
zu
verbringen hatte.
Aus diesen Gründen richtete der
Verurteilte eine Gnadenbitte an den Herrn
Bundespräsidenten, der diese Bitte, an Sie, sehr geehrter Herr Bundesminister,
weitergeleitet hat.
Der Herr Bundespräsident teilte nun mit
Schreiben vom 12.09.2003 (GZ
910030/997-STR/2003) mit, dass er keine Begnadigung aussprechen könne, weil
Sie ihm keinen Gnadenantrag vorgelegt hätten. Als Begründung hiefür hätten Sie
angegeben, dass der zugrundeliegende Sachverhalt auch nach dem neuen § 207b
StGB tatbildlich wäre und dabei darauf hingewiesen, dass der Jugendliche 14
Jahre
alt war und der Altersunterschied 35 Jahre betrug. Im Hinblick auf die
mehrfachen
(sonstigen) Vorstrafen und eine mittlerweile neuerliche Verurteilung des Mannes
könnten Sie ihn hinsichtlich der menschenrechtswidrigen Verurteilung aus dem
Jahre 1999 nicht begnadigen.
Die Probezeit für die Entlassung aus der Anstalt für
geistig abnorme Rechtsbrecher
läuft nach wie vor. Auf Grund der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom
27.05.2003 (11 Os 95/02; in diesem Sinne
nun auch OGH 09.09.2003, 11 Os 99/03),
in Abänderung seiner jahrzehntelangen gegenteiligen Judikatur, kann
diese
Entlassung widerrufen werden, obwohl § 209 StGB, der der Einweisung alleine zu
Grunde lag, bereits außer Kraft getreten ist. Der Präsident des zuständigen
Senats
des OGH erklärte gegenüber der Presse, der Gesetzgeber sei gefordert, diese
Rechtslage zu ändern (apa 0542,
27.05.2003).
Soweit den unterzeichneten Abgeordneten bekannt ist, wurde
nach der Aufhebung
des § 209 StGB lediglich ein § 209-Opfer begnadigt (BMJ GZ 98.478/16-IV 4/02)
(Ihre Anfragebeantwortung vom 03.04.2003, GZ 7003/1-Pr 1/2003). Auch in diesem
Fall (dem berüchtigten „Liebesbrief-Fall" aus dem Jahr 2001) erfolgte
jedoch nur eine
teilweise Begnadigung. Die Tilgung der Verurteilung aus dem Strafregister wurde
auch hier nicht gewährt (ebendort).
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE:
1. Stimmt es, dass Sie sich
geweigert haben, dem Herrn Bundespräsidenten die
Begnadigung des am 25.05.1999 durch das LG für Strafsachen Graz zu GZ 6
EVr 474/99, Hv 262/99 rechtskräftig verurteilten § 209-Gewissensgefangenen
vorzuschlagen?
Wenn nein: Wieso teilte der Herr Bundespräsident dies dem
Gnadenwerber
so mit?
2. Wenn Sie die Frage 1 mit Ja
beantworten: Stimmt es, dass Sie diese
Weigerung damit begründet haben, dass der zu Grunde liegende Sachverhalt
auch das Tatbild des neuen § 207b StGB erfüllt und als Begründung lediglich
darauf verwiesen haben, dass der jugendliche Partner des Mannes 14 Jahre
alt war und der Altersunterschied 35 Jahre betrug?
Wenn nein: Wieso teilte der Herr Bundespräsident dies dem
Gnadenwerber
so mit?
3. Falls Sie den Absatz 1 des § 207b StGB erfüllt sehen:
(a) Welches waren die bestimmten Gründe, aus denen zu
schließen ist, dass
der Jugendliche noch nicht reif gewesen sein soll, die Bedeutung sexueller
Vorgänge (im ggst. Fall: masturbatorische Handlungen) einzusehen und nach
dieser Einsicht zu handeln?
(b) Wodurch und inwiefern soll der
Gnadenwerber eine solche mangelnde
Reife (deren Bestehen alleine das Tatbild ja noch nicht erfüllt) ausgenutzt
haben?
(c) Wodurch und inwiefern soll der Gnadenwerber eine
altersbedingte
Überlegenheit (deren Bestehen alleine das Tatbild ja noch nicht erfüllt)
ausgenutzt haben?
(d) Durch welche Beweise wurde all dies bewiesen und
welches unabhängige
Gericht hat die Erfüllung dieser Tatbestandselemente des § 207b Abs. 1
StGB förmlich wann und wie festgestellt?
4. Falls Sie den Absatz 2 des § 207b StGB erfüllt sehen:
(a) Worin bestand die Zwangslage in der
sich der Jugendliche zum Zeitpunkt
des sexuellen Kontakts befunden haben soll?
(b) Wodurch und inwiefern soll der
Gnadenwerber eine solche Zwangslage
(deren Bestehen alleine das Tatbild ja noch nicht erfüllt) ausgenutzt
haben?
(c) Durch welche Beweise wurde all dies
bewiesen und welches unabhängige
Gericht hat die Erfüllung dieser Tatbestandselemente des § 207b Abs. 2
StGB förmlich wann und wie festgestellt?
5. Falls Sie den Absatz 3 des § 207b StGB erfüllt sehen:
(a) Worin bestand das Entgelt?
(b) Worin bestand die kausale Verknüpfung der sexuellen
Kontakte mit dem
angeblichen „Entgelt",
(c) Worin bestand die unmittelbare
Verleitung des Jugendlichen durch dieses
angebliche „Entgelt",
(d) durch welche Beweise wurde all dies bewiesen und
welches unabhängige
Gericht hat die Erfüllung dieser Tatbestandselemente des § 207b Abs. 3
StGB förmlich wann und wie festgestellt?
6. Sehen Sie, selbst wenn das
Verhalten des Gnadenwerbers einen der
Tatbestände des § 207b StGB erfüllen würde, nicht schon darin einen
Gnadengrund, dass die Inhaftierung des Gnadenwerbers, das gegen ihn
geführte Strafverfahren und seine Verurteilung seine durch die Europäische
Menschenrechtskonvention (Art. 8, 14 EMRK) gewährleisteten fundamentalen
Menschen rechte verletzt haben (L. & V. vs. Austria, Judg.
09.01.2003, Appl.
39392/98, 39829/98 ; S.L vs. Austria, Judg. 09.01.2003, Appl. 45330/99;
http://hudoc.echr.coe.int)?
Wenn nein: (a) warum nicht? Sehen Sie nicht den
menschenrechtlich
entscheidenden Unterschied zwischen Taten vor und nach dem 14.08.2003:
nämlich, dass Verurteilungen für Handlungen gem. § 207b StGB, die vor dem
14.08.2003 gesetzt worden sind, wegen der damals ausschließlichen
Pönalisierung im männlich-homosexuellen Bereich, schwer
menschenrechtswidrig sind und waren? Liegt in dieser
Menschenrechtsverletzung für Sie tatsächlich keine Gnadenwürdigkeit?
(b) wie wird sonst dem Vorliegen einer schweren
Menschenrechtsverletzung
im vorliegenden Fall Rechnung getragen?
7. Werden Sie angesichts der
Entscheidung des OGH vom 27.05.2003 (11 Os
95/02) Initiativen setzen, dass die Probezeiten von nach § 209 StGB
(teil)bedingt verhängten Freiheitsstrafen trotz der Aufhebung des § 209
ebensowenig weiterlaufen wie die Probezeiten bedingter Entlassungen aus
nach § 209 verhängten Freiheitsstrafen oder aus Anstalten für geistig
abnorme Rechtsbrecher und daß über den betroffenen Opfern des § 209, wie
dem vorliegenden Gnadenwerber, das Damoklesschwert der jederzeitigen
Gefahr nicht mehr schwebt, die grundrechtswidrig verhängte Freiheitsstrafe
oder Maßnahme doch noch (zur Gänze) erleiden zu müssen (etwa gem. § 53
StGB)?
Wenn
ja: was konkret werden Sie wann tun?
Wenn nein: warum nicht?
8. (a) Wieviele Gnadenbitten
wurden seit der Aufhebung des § 209 StGB von
Personen an Sie herangetragen, die nach § 209 StGB als alleinigem oder
führendem Delikt (im Sinne der Kriminalstatistik) verurteilt worden sind?
(b) In wie vielen Fällen haben Sie seit der Aufhebung des § 209 StGB die
Verurteilungen von Personen, die nach § 209 StGB als alleinigem oder
führendem Delikt (im Sinne der Kriminalstatistik) verurteilt worden sind, von
amts wegen auf die Möglichkeit einer Begnadigung geprüft?
9. In wievielen der zu Frage 8. angegebenen Gnadenfälle haben
Sie dem Herrn
Bundespräsidenten einen Gnadenantrag vorgelegt, wie viele dieser Anträge
wurden negativ und wie viele positiv entschieden und in wie vielen Fällen
erfolgte eine Tilgung der Verurteilung aus dem Strafregister (jeweils
aufgeschlüsselt nach den Fällen gem. Frage 8a und Frage 8b)?
10. Wieviele Personen befinden
sich derzeit wegen § 209 StGB (als alleiniges
oder im Sinne der
Verurteiltenstatistik führendes Delikt) in Untersuchungshaft,
wie viele in Strafhaft und
wieviele im Maßnahmenvollzug (aufgeschlüsselt
nach § 21 Abs. 1, § 21 Abs. 2 §
22, § 23 StGB), aufgeschlüsselt nach
Vollzugsanstalten? Wie lange
werden diese Personen noch in Haft zu
verbringen haben?
11. Falls sich keine Person mehr
wegen § 209 StGB (als alleiniges oder im Sinne
der Verurteiltenstatistik
führendes Delikt) in Haft befindet: wann wurde die
Haft der letzten solchen Person
beendet und wodurch?
(a) Falls die
Haft durch Entlassung beendet wurde: erfolgte die Entlassung
bedingt oder unbedingt? Falls
bedingt: wie lange ist die Probezeit und wann
endet sie?
(b) Falls die
Haft durch Tod beendet wurde: warum durfte diese Person nicht
in Freiheit sterben?
12. Wieviele Personen befinden
sich derzeit wegen § 207b StGB (als alleiniges
oder im Sinne der
Verurteiltenstatistik führendes Delikt) in Untersuchungshaft,
wie viele in Strafhaft und
wieviele im Maßnahmenvollzug (aufgeschlüsselt
nach § 21 Abs. 1, § 21 Abs. 2 §
22, § 23 StGB), aufgeschlüsselt sowohl nach
den 3 Absätzen des § 207b StGB
als auch nach Vollzugsanstalten? Wie
lange werden diese Personen noch
in Haft zu verbringen haben?