1849/J XXII. GP

Eingelangt am 04.06.2004
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

DRINGLICHE ANFRAGE

der Abgeordneten Van der Bellen, Lichtenberger und FreundInnen
an den Bundeskanzler

betreffend Klarheit über die Positionierung der österreichischen Bundesregierung zu
Europäischer Demokratie und Verfassung,

Die österreichische Bundesregierung wollte in der entscheidenden Vorbereitungsphase zur
Europäischen Verfassung, zehn Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament und
vierzehn Tage vor der möglichen Wiederaufnahme der Regierungskonferenz nach Brüssel
fahren, ohne der Öffentlichkeit im Nationalrat zu erklären, welche Positionen sie bei der für
die Verfassung entscheidenden Punkten einzunehmen gedenkt. Diese Vorgangsweise zeigt,
dass die schwarz-blaue Bundesregierung für das Regierungseuropa und den nationalen
Interessensbazar steht. Sie hat offensichtlich nur ein geringes Interesse an einer gemeinsam im
österreichischen Nationalrat entwickelten Position. Im Lichte der Tragweite der
Entscheidungen bei der bevorstehenden Regierungskonferenz über eine Europäische
Verfassung handelt es sich um eine demokratiepolitisch unzulässige Vorgangsweise. Diese
Nicht-Befassung des Parlamentes in der heißen Phase der Verfassungsdebatte macht die
Einberufung einer Sondersitzung durch die Grünen nötig.

Die parlamentarische Legitimationsbasis der Europapolitik der österreichischen
Bundesegierung ist schmal. Die Bilanz zu den parlamentarischen Mitspracherechten gemäß
Art. 23 e B-VG ist negativ. Die Informationspflichten der Regierungsmitglieder gegenüber
dem Nationalrat wurden mehrfach verletzt. In den zentralen europapolitischen
Angelegenheiten wurde kein Konsens gesucht. Gab es unmittelbar nach dem Beitritt zur
Europäischen Union immer wieder gemeinsame Initiativen des österreichischen Nationalrates,
so muss heute festgestellt werden, dass in dieser GP nur noch ein einziger Beschluss im EU-
Hauptausschuss gefasst wurde. Und selbst bei diesem Beschluss handelte es sich um eine
Kenntnisnahme einer vorgeformten Grundsatzposition der Bundesregierung zur
Verfassungsdebatte durch die Regierungsfraktionen und nicht um eine offene Debatte über
ebendiese österreichische Position, die eigentlich einen parteienübergreifenden Konsens
dringend nötig hätte. Die Bundesregierung trägt, nachdem sie im Parlament nach keinem
Konsens gesucht hat, für die Europapolitik die alleinige Verantwortung. Die
europapolitischen Defizite im Hinblick auf die Umsetzung europäischer Richtlinien und auf
die Beteiligung österreichischer Minister an Ratssitzungen sind besonders unverständlich.

Bei der Außenministerkonferenz ist die Ausweitung der qualifizierten Mehrheit in den
Bereichen Sozial-, Wirtschafts- und Steuer- sowie Landwirtschaftspolitik, wie sie der
Konvententwurf zum Inhalt hat, zur Disposition gestellt worden. Nationalstaatlich unlösbare
Probleme werden nach Brüssel delegiert. Damit werden uneinlösbare Erwartungen geweckt.
Dies gilt umso mehr, solange der Rat mit der Aufrechterhaltung des Einstimmigkeitsprinzip in
zahlreichen Politikbereichen alle Lösungen blockiert. Die nationalen Regierungen verbinden


damit den Erhalt ihrer Machtstellung. Das Prinzip der Einstimmigkeit bedeutet Veto-Macht
für jeden Mitgliedstaat und führt zum Scheitern

In der Europäischen Union gibt es 20 Millionen Arbeitslose, 18 % davon sind jugendlich. 56
Millionen Menschen sind akut von Armut bedroht. Das Ziel der Vollbeschäftigung wurde auf
der Außenministerkonferenz vollkommen ausgehöhlt. Der sogenannte „hohe
Beschäftigungsgrad" ist als Querschnittsbestimmung in Kapitel
III verankert worden. Diese
Klausel wurde von der Außenministerin Ferrero-Waldner als „Stärkung der sozialen
Dimension" kommentiert. Tatsächlich ist damit bereits vor in Kraft treten der Verfassung die
Vollbeschäftigung als Ziel der Union wieder fallen gelassen worden.

Auf das Scheitern des Stabiltäts- und Wachstumspaktes wurde keine politische Antwort
gefunden. Sinnvolle Reformvorschläge der Bundesregierung sind nicht bekannt.

Die europäischen Regierungschefs haben den Passus, die Nato zur 'unverzichtbaren
Grundlage der europäischen Verteidigung' zu machen, dem Verfassungsentwurf im
vergangenen Dezember hinzugefügt. Das leitet eine völlig falsche Entwicklung der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und eine Unterordnung unter die Hegemonie der
USA ein. Es steht im krassen und offenen Widerspruch zum österreichischen
Neutralitätsgesetz. Das ist ein schwerer Einbruch in das Konzept des Verfassungskonventes,
der eine autonome, souveräne, von der Nato unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik
ermöglichen würde. Diese Bestimmung schreibt eine Identität von Nato und EU unter der
militärischen und politischen Vorherrschaft der USA fest. Sie stellt den kürzesten Weg zu
einem Nato-Beitritt Österreichs dar, den die schwarz-blaue Regierung auf diese Weise
umzusetzen versucht.

Nicht zuletzt angesichts steigender Rohölpreise droht in Europa eine Wiederbelebung der
Atomkraft. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hat den deutschen
Atomausstieg als falsch bezeichnet und sich für den Bau neuer Atomkraftwerke
ausgesprochen. Das konservativ regierte Frankreich hat vor wenigen Tagen den Bau einer
neuer Generation von Atomreaktoren beschlossen. Der slowakische Wirtschaftsminister Pavol
Rusko hat die Fertigstellung der Blöcke 3 und 4 des AKW Mochovce angekündigt und sogar
die slowakische Schließungsverpflichtung für den Hochrisikoreaktor Bohunice in Frage
gestellt, obgleich dies per Beitrittsvertrag im EU-Primärrecht verankert ist. In Temelin reißt
die Störfallserie nicht ab, am 2. Juni kam es zum bereits 64. Zwischenfall. In Großbritannien,
Russland, Ukraine, Bulgarien, Frankreich, Rumänien, Tschechien, Finnland, Litauen sind
insgesamt mehr als 30 Atomkraftwerke in Bau oder Planung. Darunter in Russland sogar ein
Reaktor vom Typ Tschernobyl.

Diese Wiederbelebung der EU-Atomindustrie droht von der EU-Kommission durch
Millionen-Kredite unterstützt zu werden. Denn der Euratom-Vertrag räumt der Kommission
unter anderen die Vergabe von günstigen Krediten an EU-Staaten und Drittländer ein. Erst
vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission einen Kreditantrag für den Bau des
rumänischen AKW Cernavoda
II in der Höhe von 223,5 Mio. Euro bewilligt. Das bisher mit 4
Mrd. Euro limitierte Euratom-Kreditvolumen soll auf 6 Mrd. Euro aufgestockt werden. Das
Europaparlament hat bei Euratom-Entscheidungen kein Mitspracherecht.

Eine Reform des Euratom-Vertrages ist daher der Schlüssel für den Europäischen
Atomausstieg. Auf Initiative der Grünen ist es im EU-Konvent gelungen, den Euratomvertrag
aus der EU-Verfassung herauszulösen, damit den Weg für eine grundlegende Reform zu
ebnen und einzelnen Staaten die Option eines Ausstiegs aus Euratom zu eröffnen, ohne aus


der EU austreten zu müssen. Derzeit besteht die Gefahr, dass das Konventsergebnis bei der
EU-Regierungskonferenz wieder zunichte gemacht wird. Zentrales Anliegen muss die rasche
Einberufung einer Euratom-Revisionskonferenz sein, wie dies auch das Europäischen
Parlament verlangt hat. Leider hat die Bundesregierung ihre bisherigen Lippenbekenntnisse
nicht in die Tat umgesetzt. Weder gab es einen Antrag Österreich bei der EU-
Regierungskonferenz im Herbst 2003, noch hat die Bundesregierung eine Euratom-Reform
zum Schwerpunkt für die österreichische EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2006 erklärt.
Betreffend der drohenden Aufstockung des Euratom-Kreditvolumens hat die Bundesregierung
eine klare anti-atom-politische Position vermissen lassen. Sie will zusätzlichen EU-
Atommilliarden selbst dann zustimmen, wenn mit diesen Geldern in Bau befindliche AKW
fertiggestellt werden.

Die Bundesregierung wäre in der Anti-Atomfrage alleine aufgrund des in Österreich
bestehenden Verfassungsverbotes von Atomkraft angehalten, eine Pionierrolle in Europa
einzunehmen. Leider beschränkt sich die Anti-Atom-Politik der Bundesregierung
hauptsächlich auf das Produzieren von innenpolitischen Medienschlagzeilen, während sie in
Brüssel durch Mutlosigkeit gekennzeichnet ist.

Zudem will die Bundesregierung die einzig ökologisch und sozial vernünftige Alternative zu
Atomenergie, nämlich den Ausbau der erneuerbaren Energieträger, blockieren. Das
Ökostromgesetz soll zerschlagen werden. Dadurch wird Österreich das per EU-Richtlinie
vorgegebene Ziel zur Steigerung des Ökostromanteils verfehlen. Stattdessen werden die
Atomstromimporte steigen. Große wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Chancen drohen
dadurch fahrlässig vertan zu werden.

Finanzminister Grasser ist im Ecofinrat -jenseits aller verfassungsrechtlichen
Verpflichtungen gegenüber dem österreichischen Nationalrat (wie der Informationspflicht
nach 23 e B-VG) - für eine Beschneidung der Budgetrechte des Parlaments eingetreten. Die
Budgetkompetenz des Europäischen Parlamentes ist gefährdet. Die Reduktion des EU-
Budgets bei gleichzeitiger Abwälzung zahlreicher Aufgaben auf Europa entspricht einer
politischen Selbstausschaltung. Mit jeder neu definierten Aufgabe muss eine entsprechende
Budgetierung einhergehen.

Ein Volksentscheid ist ein wichtiger Schritt zur Annahme der Europäischen Verfassung.
Wenn die Verfassung von mehr als der Hälfte der Bevölkerung in der gesamten EU und von
drei Viertel der Parlamente angenommen ist, kann von einem echten Gründungsakt für die
Europäische Demokratie gesprochen werden.

ANFRAGE

Für eine Europäische Demokratie und Stärkung des Parlamentes
in der Verfassung

1.   In welchen Punkten ist die österreichische Bundesregierung vom Konvententwurf für
eine Europäische Verfassung, wie er auch von Hannes Fahrnleitner als ihrem
„persönlichen Vertreter" im Konvent unterstützt wurde, im Rahmen der
Verhandlungen seit der gescheiterten Regierungskonferenz abgewichen?


2.             Werden Sie trotz der Zustimmung zum Konvententwurf weiteren Einschränkungen
der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in jenen Politikbereichen, in denen
laut Konvent mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden soll, zustimmen?

3.             Sind Sie für die rechtsverbindliche Aufnahme der Grundrechts-Charta in die
Verfassung ohne einschränkendes Protokoll und für die gerichtliche Kontrolle aller
Handlungen aller Europäischer Institutionen insbesondere auch im Bereich der inneren
Sicherheit aktiv eingetreten?

4.  Hat die Bundesregierung der Einschränkung der Rechte des Europäischen Parlamentes
in Fragen des Haushaltsrechtes zugestimmt?

5.             Sind Sie für eine europaweite Volksabstimmung über die Europäische Verfassung als
grundlegende demokratische Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger aktiv
eingetreten und haben Sie eine Initiative Österreichs dazu vorgelegt?

Für eine Europäische Sozialunion

6.             Auf welcher Grundlage haben Sie dem eklatanten Eingriff gegen die ersten Ansätze
eines Sozialen Europa, der Querschnittbestimmung eines „hohen
Beschäftigungsniveaus" (Kap. III-2a; CIG 76/04) zugestimmt und welche
Auswirkungen wird diese Bestimmung für das im Konvententwurf verankerte Ziel der
Vollbeschäftigung (Art. I-3 (3) Konvententwurf) haben?

7.             Welche Initiative haben Sie gesetzt, damit Steuerdumping innerhalb der EU mit in
Kraft treten der neuen Verfassung überwunden werden kann?

8.             Teilen Sie die Auffassung des Nobelpreisträgers (für Ökonomie) Robert Solow, dass
der sogenannte Stabilitätspakt mehr schadet als er nützt? Wenn ja, für welche
inhaltlichen Reformen treten Sie ein, damit der Stabilitäts- und Wachstumspakt seinen
Namen tatsächlich verdient?

Europäische Friedenspolitik ohne Nato

9.             Auf welcher rechtlichen Basis hat die Bundesregierung dem Passus, der die Nato zur
unverzichtbaren Grundlage der europäischen Verteidigung macht (I-40 (7)),
zugestimmt ohne eine gemeinsame Außenpolitik, parlamentarische Mitbestimmung
und das Gewaltmonopol der UNO als Voraussetzung verankert zu haben und wie
vereinbaren Sie das mit den aus dem Neutralitätsgesetz abgeleiteten Verpflichtungen?

10.      Inwieweit halten Sie die Teilnahme des verfassungsrechtlich gebundenen neutralen
Österreich an möglichen Interventions- und Kampfeinsätzen eines solchen
militärischen Kerneuropa für vereinbar?

Europäischer Atomausstieg

11.      Was werden Sie ab sofort und bis zum Ende der Legislaturperiode ganz konkret tun,
um eine Euratom-Revisionskonferenz zur Generalreform des Euratomvertrages so
rasch als möglich durchzusetzen? Warum ist die Frage einer Euratom-Reform bisher
kein Schwerpunkt der österreichischen EU-Präsidentschaft 2006?

12.      Was werden Sie ganz konkret tun, wenn diese Reformkonferenz nicht zustande
kommt bzw. scheitert? Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung in diesem Fall
ergreifen? Befürworten Sie in diesem Fall einen Ausstieg Österreichs aus der
Europäischen Atomgemeinschaft? Falls nein, warum nicht?


13.      Was werden Sie konkret tun, um die vom EU-Konvent eröffnete Ausstiegsmöglichkeit
einzelner Staaten aus Euratom bei der kommenden EU-Regierungskonferenz
abzusichern?

14.      Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund zunehmender Atomstromimporte, steigender
Rohölpreise und den Vorgaben der EU-Richtlinie „2001/77/EG zur Förderung der
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt"
aktuelle Pläne, die erfolgreiche Ökostromförderung in Österreich zu zerschlagen?

In formeller Hinsicht wird die dringliche Behandlung dieser Anfrage unter Verweis auf
§ 93(2) GOG verlangt.