2381/J XXII. GP
Eingelangt am 09.12.2004
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ANFRAGE
der Abgeordneten Van der Bellen, Brosz, Mandak, Freundinnen und Freunde
an die Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur
betreffend 10 Jahre Bildungsministerin Gehrer - PISA-Absturz: Sind die Eltern schuld?
Im Dezember 2001 wurde die erste PISA-Studie veröffentlicht. Die Ergebnisse der österreichischen SchülerInnen lagen bei diesem Vergleich von 31 Ländern im guten Mittelfeld. In Österreich grassierte das Cordoba-Placebo. Das Wichtigste schien vor allem für viele PolitikerInnen der ÖVP zu sein, dass Österreich besser als Deutschland abgeschnitten hatte. Die Kommentierung der deutschen Ergebnisse durch Bildungsministerin Gehrer fand auch in der deutschen Presse Beachtung:
„Die besten Ergebnisse im deutschsprachigen Raum verbuchte Österreich. Entsprechend selbstzufrieden klangen die Wiener Reaktionen. ÖVP-Bildungsministerin Elisabeth Gehrer beschränkte sich zunächst darauf, die Lehrerinnen und Lehrer zu loben. Ein wenig Spott über den Absturz Deutschlands konnte man sich nicht verkneifen.“ (Die Zeit)
Eine verantwortungsvolle Bildungspolitik hätte sich
schon damals nach oben orientieren müssen statt einen Mittelfeldplatz zu feiern
und sich selbst zu beweihräuchern. Statt dessen ließ BM Gehrer Plakate unter
dem Titel "Österreichs Schulen zählen zu den besten Europas“ mit
Presseartikeln drucken, die sich vielfach auf die einseitige Darstellung des
Ministeriums stützten. Das Plakat enthielt auch ein Schreiben von
Bildungsministerin Gehrer mit folgenden Zitaten: „In Europa zu den ersten fünf
zu gehören und weltweit zum obersten Drittel, zeigt, dass die österreichische
Bildungspolitik Rahmenbedingungen geschaffen hat, die gute schulische
Leistungen fördern.“ Und weiter: „Jetzt kommt es darauf an, sich nicht auf den
Lorbeeren auszuruhen, damit wir beim nächsten PISA-Vergleich von einem der
besten Plätze Europas zur Weltklasse aufrücken.“
Nach der
Veröffentlichung der PISA-1-Studie im Jahr 2001 hat der EU-Bildungsministerrat
im Frühjahr 2002 die Zielsetzung beschlossen, die Anzahl der leseschwachen
SchülerInnen um 20 % zu reduzieren. Nach dieser Sitzung erklärte BM Gehrer
diese Zielsetzung für zu wenig ambitioniert. Die Zahl der leseschwachen
SchülerInnen in Österreich müsse nicht nur um 20 %, sondern sogar um 50 %
reduziert werden.
Erreicht
werden sollte das Ziel durch das Projekt Lesefit. Immer dann, wenn wir nach
konkreten Maßnahmen in Folge der PISA-1-Studie gefragt haben, nannte BM Gehrer
dieses Projekt. Für Lesefit wurden von 2002 bis 2004 insgesamt 280.000 Euro
budgetiert. Das Budget für das Jahr 2004 betrug 70.000 Euro. Mit dieser
Schmalspurförderung konnten selbstverständlich keine breitenwirksamen Maßnahmen
gesetzt werden. Lesefit ist kein Förderprogramm für leseschwache SchülerInnen.
Das Programm dieses in Kooperation mit dem Buchklub durchgeführten Projekts
besteht im Wesentlichen aus einer
Broschüre für Eltern und einem für Volksschulen entwickelten Lesetest.
Hilfestellungen für die LehrerInnen oder zusätzliche Förderstunden sind nicht
vorgesehen.
Die Reaktion von Frau BM Gehrer auf die Ergebnisse der neuen PISA-Studie unterschied sich wesentlich von jener im Jahr 2001. Jetzt waren nicht mehr die von der Bundesregierung geschaffenen Rahmenbedingungen verantwortlich, nein, diesmal waren die Eltern schuld. "Es gibt viele Bereiche, die zusammenwirken. Die Eltern sind dafür mitverantwortlich. Sie nehmen sich immer weniger Zeit für die Kinder und es müssen viele grundsätzliche Aufgaben von den Schulen und Lehrern übernommen werden", sagte die Ministerin dem STANDARD. (2. 12. 04)
Erstmals weist die Österreichauswertung der
PISA-Ergebnisse in den Bereichen Lesen und Naturwissenschaften eine
Aufgliederung nach der bisherigen Schulkarriere auf. Diese Differenzierung ist
von hoher Bedeutung, weil der Test bald nach einer wesentlichen Schnittstelle
im österreichischen Bildungssystem, nämlich dem Übergang von der 8. zur 9.
Schulstufe gemacht wird. Die beunruhigend schlechten Ergebnisse im Bereich der
polytechnischen Schulen und der Berufsschulen sind daher kaum auf den
Unterricht in diesen Schultypen zurückzuführen, sondern auf die vorangegangene
Schulkarriere.
Die Ergebnisse von vormaligen
AHS-UnterstufenschülerInnen und HauptschülerInnen weisen enorme Unterschiede
auf.
Punktemittelwerte von AHS-UnterstufenschülerInnen und
HauptschülerInnen
Gebiet |
AHS-Unterstufe |
HauptschülerInnen |
Mathematik |
572 |
484 |
Lesen |
567 |
465 |
Zum
Vergleich: Im Jahr 2000 hatte Österreich bei der Lesekompetenz von 15jährigen
ein Ergebnis von 507 Punkten, jetzt von 491 Punkten. Dieser Unterschied von 16
Punkten bewirkte einen Rückfall von Platz 11 auf Platz 20. Der Unterschied von
88 Punkten in Mathematik und ca. 100 Punkten in der Lesekompetenz zwischen
AHS-UnterstufenschülerInnen und HauptschülerInnen ist um ein Vielfaches höher.
In der Lesekompetenz ist dieser Unterschied größer als jener zwischen dem
Siegerland Finnland und Uruguay an 34. Stelle.
Von den „RisikoschülerInnen“ – d.h. jenen, die am
schlechtesten abschnitten -
besuchten im Bereich Mathematik und bei der Lesekompetenz jeweils nur 3
% vorher eine AHS. Die Mathematik-RisikoschülerInnen gingen zu 84 % in
Hauptschulen, 13 % machten keine Angabe über die vorige Schulkarriere. Die
RisikoschülerInnen im Bereich Lesekompetenz besuchten zu 86 % vorher eine
Hauptschule, 11 % machten keine Angabe.
Auch
wenn nach Schultypen differenziert wird, ist ein bemerkenswerter Trend
festzustellen. Die Leistungen der AHS-SchülerInnen sind von PISA 1 bis PISA 2
konstant geblieben (leichte Steigerung in Lesen, leichter Rückgang in
Naturwissenschaften, Mathematik wird wegen erweiterter Befragung nicht
verglichen). Im Bereich Berufsbildend Höherer Schulen gab es zwar Rückgänge, mit
Ausnahme der Mädchen in Naturwissenschaften aber nicht signifikant. In
Berufsbildenden Mittleren Schulen, Berufsschulen und Polytechnischen Schulen
sind die Rückgänge signifikant. Dramatisch ist dabei, dass die Ergebnisse der
Burschen in diesen Bereichen regelrecht einbrechen.
Das früh segregierende
österreichische Schulsystem führt zu immer größeren Leistungsstreuungen, weil
die Unterschiede zwischen vormaligen HauptschülerInnen und
AHS-UnterstufenschülerInnen enorm groß sind. Die Ergebnisse in den Schultypen
mit geringeren Anforderungen wurden von 2000 bis 2003 signifikant schlechter.
Ohne schulorganisatorische Änderungen ist diesem Problem nicht beizukommen.
Die
Aufschlüsselung nach Schultypen weist auf eine weitere sehr ernst zu nehmende
Entwicklung hin. Die Burschen erbringen zwar aufgeschlüsselt nach Schultypen
außer im Lesebereich bessere Ergebnisse. Während bei Mädchen der Trend zu
höheren Abschlüssen allerdings anhält, ist das bei den Burschen nicht in diesem
Ausmaß der Fall. Dadurch ergibt sich z. B. in dem Testbereich Problemlösen die
auf den ersten Blick unerklärlich scheinende Situation, dass Burschen in allen
Schultypen bessere Leistungen erbringen als Mädchen, die Mädchen aber im
Gesamtergebnis besser liegen als die Burschen, weil mehr von ihnen Schulen mit
höherem Bildungsniveau besuchen.
Österreich muss sich um eine stark
wachsende Gruppe männlicher „Risikoschüler“ kümmern.
Schon die erste PISA-Studie hat auf
schulorganisatorische Handlungsnotwendigkeiten in Österreich hingewiesen:
„Österreich
und Deutschland sind Länder, in denen vom durchschnittlichen wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Status der Schulen ein erheblicher Einfluss auf die
Schülerleistungen ausgeht.“ (PISA 2001, S. 238)
„Um die Qualität und Gleichheit im Bildungswesen in
solchen Ländern zu steigern, müsste den Unterschieden zwischen den Schulen
besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der Abbau der sozioökonomischen
Segregation zwischen den Schulen stellt eine mögliche Strategie dar, um diesem
Problem beizukommen ..:“ (PISA 2001, S. 233)
Dennoch hat BM Gehrer, obwohl ihr diese Aufforderungen
bekannt sein mussten, ihren Unwillen zur Veränderung auch öffentlich kundgetan:
„Standard: Gibt
es Ihnen zu denken, dass in der Pisa-Studie diejenigen Länder sehr gut
abgeschnitten haben, die ein Gesamtschulsystem haben? Gehrer: Das Ergebnis
zeigt, dass nicht die äußere Organisation, sondern die Qualität des Unterrichts
Grundlage für den Erfolg ist. (25. 1. 2002,
Standard)
Die Zukunftskommission hat sich in Fragen der
Schulorganisation kein Denkverbot auferlegen lassen, obwohl sie von BM Gehrer
keinen Auftrag hat, über schulorganisatorische Maßnahmen nachzudenken. Der
Vorsitzende der Zukunftskommission, DDr. Haider, hat wiederholt darauf
hingewiesen, dass es sich bei den Vorschlägen um ein Gesamtkonzept handle.
Dennoch wurden nur jene Vorschläge von BM Gehrer aufgenommen, die sich in die
Ideologie der ÖVP einordnen ließen.
·
Nach
Auffassung der Zukunftskommission sind beim „Repetieren“ die Nachteile deutlich
größer als die damit erzielten Vorteile. Es sollte daher nur noch zulässig
sein, wenn SchülerInnen oder ihre Erziehungsberechtigten dies nach Beratung an
der Schule ausdrücklich wünschen, oder wenn ein Schüler / eine Schülerin
mindestens in zwei Gegenständen mit Nichtgenügend beurteilt wird und insgesamt
in mehr als der Hälfte der Pflicht- und Wahlpflichtgegenstände keine bessere
Note als Genügend aufweist.
·
Jedes Schulkind
sollte gesetzlich einen Anspruch auf Betreuung auch über die Unterrichtszeit
hinaus haben
Der Vorsitzende der Zukunftskommission hat weitere
Handlungsnotwendigkeiten genannt:
·
SchülerInnen
sollen in relativ heterogenen Gruppen stark individuell gefördert werden
·
Die
Benachteiligung schwächerer SchülerInnen durch eine extrem frühe Segregation
soll beendet werden.
Auch der internationale PISA-Chef Andreas Schleicher
bezeichnet es als Problem, Schüler durch ein differenziertes Schulsystem
"in Schubladen zu stecken". Dadurch habe der soziale Hintergrund in
Österreich wesentlichen Einfluss auf die schulische Leistung. (6. 12. 2004)
BM
Gehrer hat in der Vergangenheit genau gegenteilige Positionen vertreten: „Und
ich kann Ihnen versprechen, wir werden auch in Zukunft der Gefahr widerstehen,
Gesamtschulen in Österreich einzuführen. Denn es zeigt sich ganz klar und
deutlich: Ein differenziertes, begabungsorientiertes Bildungssystem, mit allen
Hilfen für sozial Schwächere und für Leistungsschwächere, ist der Bildungsweg
in die Zukunft.“
Im
September 2003 hat BM Gehrer Gesamtschulen strikt abgelehnt und sie als einen
alten Hut bezeichnet. Gleichzeitig hat BM Gehrer der Opposition vorgeworfen,
sie wolle „Zwangstagsschulen“ in ganz Österreich etablieren.
Die
bisherige Haltung von BM Gehrer spricht nicht dafür, dass sie bereit ist die
notwendige Reformdiskussion ohne Scheuklappen zu führen.
Die unterfertigten
Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE: