3089/J XXII. GP

Eingelangt am 03.06.2005
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ANFRAGE

 

der Abgeordneten Öllinger, Freundinnen und Freunde

 

an die Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz

 

 

betreffend „Wer macht solche Gesetze, die nur die Ärmsten treffen?“ (Kronenzeitung vom 25.5.05)

 

 

Die „Krone“ berichtet in ihrer Kolumne „Ombudsman Dr. Zilk kämpft für Ihr Recht“ am 25.5.05 unter dem Titel „Unfassbares Urteil gegen den Sozialstaat“ über eine Entscheidung des Arbeits- und Sozialgerichtes Korneuburg.

Herr Manfred Kisling, im 57. Lebensjahr, hat eine Invaliditätspension beantragt und wurde zunächst von der PVA abgelehnt. Gegen den Bescheid der PVA hat Herr Kisling beim Arbeits- und Sozialgericht Korneuburg berufen.

Über seinen Gesundheitszustand berichtet die „Krone“: Herr Kisling ist links beinamputiert, er trägt eine Prothese und leidet unter Phantomschmerzen; beim rechten Bein fehlt ihm die Kniescheibe; das rechte Schultergelenk ist deutlich funktionseingeschränkt – er kann den Arm nicht heben; Wirbelsäulenschäden;

beide Hüftgelenke und ein Sprunggelenk sind „funktionseingeschränkt“; Blutzucker;

Herzmuskel „beträchtlich verdickt“.

 

Das Arbeits- und Sozialgericht kam trotz dieser massiven Einschränkungen und Behinderungen zu dem Ergebnis, dass für Herrn Kisling bestimmte „leichte Arbeit“ möglich sei und er „seine bisherige Tätigkeit als Hilfsarbeiter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiter verrichten“ könne. Allerdings dürfe die Wegstrecke zum Arbeitsplatz 500 m unter städtischen Bedingungen nicht überschreiten; es bestehe ein Ausschluss der Benützung von Zug, Straßenbahn und Bussen. Der Kläger – so das Sozialgericht – dürfe nur U-Bahnen und Niederflurfahrzeuge benützen.

 

Da der Kläger aber nicht in der Stadt Wien, sondern am Land lebt, wo bekanntlich weder U-Bahnen noch Niederflurfahrzeuge verkehren, schien auch unter dem Mobilitätsaspekt eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich.

Schließlich ist der allgemeine Arbeitsmarkt für Herrn Kisling buchstäblich „nicht zugänglich“, seine Möglichkeit, sich auf diesem zu „bewegen“, weder gesundheitlich noch mobilitätsmäßig möglich. Das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts verweist ihn dennoch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in Österreich und übergibt ihm auch noch die Verantwortung, diesen –wenigstens theoretisch – zu erreichen.

 

Die „Krone“ dazu: „Der Urteilsspruch, den eine Richterin fällte, der liest sich wie eine Spott- und Hohnschrift. Ihm ist nämlich durchaus zuzumuten, nicht nur zu arbeiten, sondern auch umzuziehen, In eine ebenerdige, behindertengerechte Wohnung, maximal 500 Meter von einer U-Bahn-Station oder einer Station eines Niederflurfahrzeuges entfernt. Meint die Richterin.“

 

Halten wir fest: Der Versicherte soll auf

verwiesen werden können. Das Arbeits- und Sozialgericht ist der Ansicht, dass „in den genannten Verweisungsberufen... am allgemeinen Arbeitsmarkt in Österreich“ mehr als 100 Arbeitsplätze vorkommen, „wobei unberücksichtigt bleibt, ob diese Stellen frei oder besetzt sind“.

Die Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt lässt völlig außer Betracht, dass es für Herrn Kisling aufgrund seiner Behinderungen keinen allgemeinen, sondern höchstens einen sehr eingeschränkten Arbeitsmarkt gibt. Die Verweisung stellt daher eine versteckte oder indirekte Diskriminierung dar.

 

Eine indirekte Diskriminierung liegt vor, wenn eine Regelung zwar keine offensichtliche Benachteiligung geschützter Gruppen enthält, d.h. neutral formuliert ist, sich jedoch in ihrer konkreten Anwendung so auswirkt, dass die Mitglieder der geschützten Gruppen regelmäßig benachteiligt werden.

 

Auch die Bestimmung des § 255 (3) ASVG, wonach Personen nur dann als invalide gelten, wenn sie kein Einkommen erzielen können, das zumindest die Hälfte des Entgeltes von körperlich und geistig gesunden Versicherten beträgt, scheint uns problematisch, diskriminierend und unsozial. Schließlich liegen die Einkommen, die von „körperlich und geistig gesunden Versicherten“ im Bereich der „leichten Arbeiten“ erzielt werden können, im Bereich des Existenzminimums. Personen mit Einschränkungen (Behinderungen), die – abstrakt - nicht die Hälfte dieses Entgelts unterschreiten, dennoch deutlich unter dem Existenzminimum liegen würden, werden vom Gesetzgeber damit der Armut – durch niedriges Entgelt bzw. Arbeitslosigkeit – überantwortet.

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

 

 

ANFRAGE:

 

  1. Haben Sie die Vorgangsweise der PVA, die Hrn. Kisling eine Invaliditätspension verweigert hat, überprüft? Wenn ja, zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? Wenn nein, warum nicht?

 

  1. Müssen die Gutachten über die Verweisungsmöglichkeiten auch eine empirische, auf die Person (Versicherte/r) bezogene Plausibilität ausweisen?

 

  1. Kann im Falle einer gerichtlich bekundeten massiven Mobilitätseinschränkung des Versicherten tatsächlich ganz allgemein und abstrakt ohne Bezugnahme auf die Mobilitätseinschränkungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden?

 

  1. Halten Sie die Verweisung auf einen allgemeinen Arbeitsmarkt, der für Personen mit Gesundheits- und Mobilitätseinschränkungen nur begrenzt oder gar nicht zugänglich ist, für eine (indirekte) Diskriminierung dieser Personen?

 

  1. Die Bestimmung des § 255 (3) ASVG, wonach nur Personen als invalide gelten, wenn sie ein Einkommen erzielen, das die Hälfte des Entgelts von „körperlich und geistig gesunden Versicherten“ unterschreitet, zwingt viele behinderte bzw. gesundheitlich eingeschränkte Menschen in die Armutsfalle. Da sie keinen Anspruch auf Invaliditätspension erwerben können, weil ihr (theoretisches) Einkommen die erwähnte Hälfte überschreitet, müssen sie von Gesetzes wegen mit Einkommen aus Arbeit oder Arbeitslosigkeit ihr Auskommen finden, die nicht existenzsichernd sind. Die Sozialgesetzgebung macht kranke und behinderte Menschen zu SozialhilfeempfängerInnen. Planen Sie eine Verbesserung dieser unsozialen und diskriminierenden Gesetzeslage?
    Wenn ja, welche? Wenn nein, warum nicht?

 

  1. § 255 (4) sieht für Personen, die das 57.Lebensjahr vollendet haben, insofern Normalität vor, als sie nicht mehr auf eine abstrakte Tätigkeit verwiesen werden können, die ihnen - abstrakt! - mehr als die Hälfte des Entgelts von „körperlich und geistig gesunden Versicherten“ sichern könnte. Herr Kisling ist mit seinem Antrag auf Invaliditätspension offensichtlich knapp an dieser Altersgrenze gescheitert.
    Welche Begründung gibt es für diese Altersgrenze?

 

  1. Angesichts der konkreten gesundheitlichen Einschränkungen von Hrn. Kisling: Wird Herr Kisling mit einer positiven Erledigung eines Ansuchens auf Invaliditätspension nach Erreichen dieser Altersgrenze rechnen können?

 

  1. Warum wird Herr Kisling - so wie viele andere Personen mit massiven gesundheitlichen Einschränkungen, die nicht oder kaum arbeitsfähig sind, geschweige denn eine abstrakte oder konkrete Chance auf einen Arbeitsplatz haben - dafür bestraft, dass er knapp unter 57 Jahre alt ist?