4611/J XXII. GP
Eingelangt am 13.07.2006
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ANFRAGE
der Abgeordneten Haidlmayr, Freundinnen und Freunde
an die Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz
betreffend Umgang der Krankenversicherung mit Menschen mit Behinderung
Im letzten Bericht der Volksanwaltschaft werden ab Seite 117 Vorgangsweisen bei der Bewilligung von E-Rollstühlen aufgezeigt, die für die Versicherten untragbar sind.
Auszug aus dem Bericht der VA:
6.1.4 Krankenversicherung
6.1.4.1 Bewilligung von Elektrorollstühlen – ein Hürdenlauf
In Prüfungsverfahren der VA musste festgestellt werden, dass die Wiener
Gebietskrankenkasse bei der Bewilligung von Elektrorollstühlen erst nach
nicht nachvollziehbaren Verzögerungen zu Entscheidungen gelangte und diese
Entscheidungen überdies nur äußerst mangelhaft begründen
konnte.
Einzelfälle:
VA BD/562-SV/05 und 812-SV/05
Die VA ist alljährlich mit Beschwerden von behinderten Menschen konfrontiert,
die darauf hinweisen, dass die Entscheidungen der zuständigen
Krankenversicherungs-träger hinsichtlich der Bewilligung von
Elektrorollstühlen nicht nachvollziehbar sind und im krassen Widerspruch
zu ihrer Lebenswirklichkeit stehen. Zwei
Fälle von Versicherten der Wiener Gebietskrankenkasse im Berichtsjahr
zeigen die Problematik exemplarisch auf:
Fall 1:
Dem Beschwerdeführer, der seit Kindheit an einer Muskeldystrophie leidet
und deshalb seit mehr als zwanzig Jahren auf einen E-Rollstuhl angewiesen ist,
wurde von der Wiener Gebietskrankenkasse im Jahr 1995 ein elektronischer
Krankenfahrstuhl bewilligt. In der Folge wurden an diesem Rollstuhl
zehn Reparaturen durchgeführt. Anfang 2005 bestätigte ein
Orthopädie-Unternehmen, dass die Akkus verbraucht seien und die Elektronik
aussetze, sodass der E-Rollstuhl zu vertretbaren Kosten irreparabel und daher
verschrottungsreif sei.
Die Hausärztin des Beschwerdeführers befürwortete den Ersatz des
nicht mehr einsatzfähigen Elektrorollstuhles und stellte eine
entsprechende ärztliche Verordnung aus. Der Wiener Gebietskrankenkasse
wurde ein Kostenvoranschlag für einen den Bedürfnissen des
Beschwerdeführers angepassten neuen E-Rollstuhl um € 12.943,78
vorgelegt. Für den Invaliditätspensionisten mit einem mtl. Einkommen
von rund € 580,00 und Pflegegeld der Stufe 6, das zur Finanzierung der
häuslichen Pflege aufgeht, eine unfinanzierbare Anschaffung.
Trotz einer weiteren ärztlichen Befürwortung stand
die Wiener Gebietskrankenkasse der Bewilligung eines solchen Rollstuhles
ablehnend gegenüber.
Erst nach Einschreiten der VA Anfang Juni 2005 revidierte die Wiener
Gebietskrankenkasse ihre negative Entscheidung und sagte dem seit
Antragstellung immobilen Beschwerdeführer erst Ende August im Rahmen der
Sendung "Volksanwalt -Gleiches Recht für Alle" eine
Kostenübernahme zu.
Fall 2:
In einem weiteren Beschwerdefall wandte sich ein knapp 54- jähriger
Wiener, der mit drei Jahren an Gehirnhautentzündung erkrankte, an die VA,
da zwar seine Hausärztin und die Neurologische Abteilung des SMZ Ost
gegenüber der Wiener Gebietskrankenkasse bestätigt hatten, dass der
Patient einen mechanischen Rollstuhl nicht mehr benützen kann, da sowohl
die Beine als auch im zunehmendem Maße die Arme von einer Bewegungsstörung
erfasst sind, doch konnte eine Kostenübernahme eines neuen Rollstuhles
nicht erwirkt werden.
Der Beschwerdeführer hatte lediglich eine Mitteilung der Wiener
Gebietskrankenkasse mit folgendem Inhalt erhalten:
"Wir geben bekannt, dass Ihrem Antrag auf Übernahme der
Kosten für einen elektrischen Rollstuhl nicht entsprochen werden kann.
Gemäß § 133 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes muss
die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf
jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der medizinische
Dienst der Kasse hat festgestellt, dass bei der Anschaffung eines elektrischen
Rollstuhls das Maß des Notwendigen überschritten wird."
Daraufhin wandte sich der Beschwerdeführer verständlicherweise am
30. September 2004 nochmals an den Versicherungsträger und führte
aus, dass diese Begründung für ihn nicht nachvollziehbar sei und er
um eine bescheidmäßige Ablehnung der Entscheidung ersuche.
In der Folge erhielt er neuerlich ein Informationsschreiben
der Wiener Gebietskrankenkasse vom 23. März 2005 in dem Folgendes
festgestellt wurde:
"Die bei uns eingereichten Unterlagen wurden zu einer nochmaligen
Überprüfung an den medizinischen Dienst unserer Kasse weitergeleitet.
Nach erfolgter Begutachtung konnte keine Bewilligung für eine Versorgung
mit einem elektrischen Krankenfahrstuhl erteilt werden. Wir bedauern, Ihnen
keine günstigere Mitteilung geben zu können und retournieren Ihnen in
der Beilage Ihre Unterlagen."
Die Wiener Gebietskrankenkasse rechtfertigte ihre ablehnende
Haltung auch gegenüber der VA damit, dass die Notwendigkeit auf Versorgung
mit einem elektrischen Krankenfahrstuhl nur dann besteht, wenn der Patient die
Besorgungen
des täglichen Lebens selbst zu bewerkstelligen hat und ihm dies erst in
Folge der Versorgung mit einem elektrischen Antrieb ermöglicht werden
kann. Keine Kostenübernahme könne aber erfolgen, wenn ein
Versicherter bereits durch qualifiziertes Personal betreut wird und auch unter
Einsatz des elektrischen Krankenfahrstuhls nicht ohne fremde Hilfe und
Betreuung das Auslangen finden kann.
Im Gegensatz dazu hat der Beschwerdeführer allerdings gegenüber der VA durchaus glaubhaft versichert, dass er einen zwischenzeitig von der Familie gekauften elektrischen Krankenfahrstuhl mittels Joystick problemlos bedienen und auf diese Weise auch selbst die alltäglichen Wege (Besorgung der Lebensmittel, Behördenwege etc.) erledigen kann. Letztlich hat die Wiener Gebietskrankenkasse als Reaktion auf ein mehrmaliges schriftliches Ersuchen im gegenständlichen Fall einen Ablehnungsbescheid am 11. Juli 2005 erlassen, wogegen der Beschwerdeführer Klage erhoben hat.
Zwischen Antragstellung und Bescheiderteilung liegen insgesamt 15 Monate und
zwischen dem ersten Ersuchen auf Bescheiderlassung und Bescheidausstellung fast
10 Monate, zudem enthielt der letztendlich erlassene Bescheid keine in sich
schlüssige und rechtlich nachvollziehbare Bescheidbegründung. Auch
sieht man am gegenständlichen Fall deutlich, dass die Wiener
Gebietskrankenkasse die Entscheidungen hinsichtlich der Bewilligung eines
Elektrorollstuhles ausschließlich
dem medizinischen Dienst überlässt und es einem Versicherten auch
dann, wenn eine Vielzahl befürwortender Facharztbefunde beigebracht wird,
nicht möglich ist, eine Revision einer einmal getroffene Entscheidung zu
erreichen.
Einem Menschen mit schwerer Behinderung, der einen normalen Rollstuhl
nicht mehr selbst bedienen kann, muss letztlich unverständlich bleiben,
weshalb der für ihn zuständige Krankenversicherungsträger in
einem kurzen Schreiben lapidar
vermeint, dass das einzig verfügbare und ihm zur Mobilität
verhelfende Hilfsmittel das Maß des Notwendigen überschreite.
Aus Anlass beider Beschwerdefälle ist aus der Sicht der VA auch hervorzuheben, dass es Ziel der medizinischen Rehabilitation gemäß § 154a ASVG ist, den Gesundheitszustand der Versicherten und ihrer Angehörigen soweit wieder herzustellen, dass sie in der Lage sind, in der Gemeinschaft einen ihnen angemessenen Platz möglichst dauerhaft und ohne Betreuung und Hilfe einzunehmen.
Im Sinne dieser Zielsetzung sollte es daher jedenfalls Aufgabe eines
entwickelten sozialen Krankenversicherungssystems sein, den Betroffenen unter
Bedachtnahme auf den aktuellen Stand der Hilfsmittelversorgung eine umfassende
Hilfestellung zur möglichst selbstständigen Bewältigung des
Alltags zu geben, wozu zweifellos ein Mindestmaß an eigener
Mobilität erforderlich ist. Eine ausschließlich ökonomische
Betrachtung dieser Problematik stünde auch nach der
höchstgerichtlichen Judikatur hingegen in Konflikt mit der Würde des
Menschen (SSV-NF 8/44).
Diesem Grundsatz widersprach der Begründungsansatz der Wiener Gebietskrankenkasse für die Ablehnung eines elektrischen Rollstuhles, wonach der gegenständliche Krankenfahrstuhl "lediglich der Entlastung des Pflegepersonals diene" und somit der Betroffene ohnehin auf fremde Hilfe und Betreuung angewiesen sei.
Dies würde nämlich im Ergebnis bedeuten, dass gerade pflegebedürftige Menschen von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation weitgehend ausgeschlossen wären, weil sie Pflegegeld erhalten, das an einen dauernden Bedarf von fremder Hilfe und Betreuung gebunden ist. Gerade gebrechliche Menschen benötigen allerdings oft umfangreiche Hilfsmittel, wobei auch scheinbar kleine Schritte für das Selbstwertgefühl von großer Bedeutung sind.
Auf Grund der in den gegenständlichen Prüfungsverfahren gewonnenen
Erfahrungen tritt die VA daher nachdrücklich dafür ein, dass die
Krankenversicherungsträger zur Erfüllung ihres sozialen Auftrages
einfühlsam mit den betroffenen Behinderten und älteren Menschen
umgehen sollten und ihnen keinesfalls den Eindruck vermitteln sollten, dass
sich Rehabilitationsmaßnahmen auf Grund ihrer fortgeschrittenen
Erkrankung oder ihres Alters ohnehin nicht mehr lohnen.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE:
1. Warum ist es immer noch nicht möglich, dass Leistungen für Menschen mit Behinderungen, die zur größtmöglichen Mobilität beitragen, von Seiten der Krankenversicherungen nicht bewilligt werden?
2. Warum erhalten Menschen mit sgn. Zivilbehinderungen lt. Leistungskatalog der Krankenversicherungsträger nicht die gleichen Leistungen wie sie für Menschen mit Behinderungen, die aufgrund eines Arbeitsunfalls behindert wurden „Gott sei Dank“ noch immer erhalten?
3. Sind auch Sie der Meinung, dass gerade auch die Mobilität von Menschen mit Behinderungen ein wesentlicher Faktor ist, der zur Integration am gesellschaftlichen Leben beiträgt?
4. Kennen auch Sie Menschen mit Behinderungen, die aufgrund einer hohen Querschnittlähmung nur mehr den Kopf oder die Stirn bewegen können, die in der Lage sind, ihren E-Rollstuhl mit Mund oder Stirnsteuerung zu lenken und sich in der Gesellschaft bewegen und selbstbestimmt durch den Alltag rollen?
5. Wie bewerten Sie die Begründungen der Ablehnungen?
6. Wie bewerten Sie konkret die Tatsache, dass die Entscheidung über Bewilligung oder Ablehnung von z.B: E-Rollstühlen nur durch den medizinische Dienst des Krankenversicherungsträgers erfolgt und nicht durch den behandelnden Arzt?
7. Finden Sie die Begründung der Krankenversicherungsträger, dass Menschen mit einer „schweren“ Behinderungen, die einen „normalen“ Rollstuhl nicht mehr selbst bedienen können, deshalb ein E-Rollstuhl nicht bewilligt wird, weil lt. Krankenversicherung dieser E-Rollstuhl das Maß der Notwendigkeit überschreitet, auch zynisch?
Wenn ja: Was werden Sie konkret bis wann veranlassen, dass solche Aussagen, die letztlich zur Ablehnung der Mobilitätshilfe, wie etwa dem E-Rollstuhl führen, aus Bescheiden beseitigt werden?
8. Was werden Sie konkret tun, damit Menschen mit Behinderungen, unabhängig von Ursache, Schweregrad der Behinderungen und Alter, die auf Hilfsmittel und Heilbehelfe angewiesen sind, diese auch erhalten und „Fälle“ wie sie exemplarisch im Bericht der VA aufgezeigt wurden, rasches beseitigt werden?
9. Finden Sie die Forderung der Österreichischen Behindertenbewegung „Gleiches Recht auf Rehabilitation“ und damit auch gleiches Recht auf individuelle Hilfsmittel und Heilbehelfsversorgung überzogen?
Wenn ja: Was ist Ihre Begründung dafür?
Wenn nein: Warum wurde diese Forderung dann bis heute nicht umgesetzt?
10. Sind auch Sie der Meinung, dass das derzeit geltende Bundesbehinderten-gleichstellungsgesetz bei weitem nicht ausreicht, um eine wirkliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des täglichen Lebens sicherzustellen?
Wenn ja: Welche konkrete Textpassage muss in das Behindertengleichstellungsgesetz aufgenommen werden, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen auch die bestmögliche individuelle Mobilität sichergestellt wird?