UNIVERSITÄT INNSBRUCK

RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT

INSTITUT FÜR STRAFRECHT, STRAFPROZESSRECHT UND

KRIMINOLOGIE

A-6020 Innsbruck, Innrain 52

o. Univ.Prof. Dr. Christian Bertel

o. Univ.-Prof. Dr. Klaus Schwaighofer

ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Venier

 

Innsbruck, am 16.10.2007

 

 

Stellungnahme zum

Entwurf eines Strafprozessreformbegleitgesetzes II

(BMJ-L590.005/0001-II 3/2007)

 

 

 

Die folgende Stellungnahme beschränkt sich auf die Änderungen des Grundrechtsbeschwerdegesetzes durch Art XII des Entwurfs.

 

1.) Die Grundrechtsbeschwerde eine Erfolgsgeschichte? Durchschnittlich werden pro Jahr ca 70 Grundrechtsbeschwerden erhoben (EB S 5), davon sind vielleicht gerade einmal 6 erfolgreich (vgl Reiter ÖJZ 2007, 393), und das bei fast 11.000 Untersuchungshaftantritten pro Jahr (Sicherheitsbericht 2005, 436). Die Betroffenen legen also nur in einem von fast 160 Haftantritten Grundrechtsbeschwerde ein, und nur in einem von 1.800 Haftantritten stellt der OGH eine Grundrechtsverletzung fest. Warum werden Grundrechtsbeschwerden so selten erhoben und warum sind sie so selten erfolgreich? Ist die hohe Zahl der Untersuchungsgefangenen nicht auch auf das Nichtfunktionieren der Grundrechtsbeschwerde zurückzuführen? Dass die „praktischen Erfahrungen“ mit der Grundrechtsbeschwerde „positiv“ sind (EB S 4), ist auf dem Hintergrund dieser Zahlen nicht nachvollziehbar.

 

2.) Die Abs 1 und 2 des § 1 GRBG-Entw können ein Fortschritt sein. Sie machen es möglich, die gerichtliche Anordnung von Zwangsmitteln, die in gewisse Grundrechte eingreifen, durch eine Grundrechtsbeschwerde beim OGH anzufechten. Der Fortschritt wird sich aber nur einstellen, wenn der Grundrechtsschutz ernster als bisher betrieben wird (siehe 1.). Manche Bestimmungen (siehe 4. und 5.) lassen daran zweifeln, dass es der Entwurf mit einer Verbesserung des Grundrechtsschutzes ernst meint.

 

3.) § 1 Abs 3 GRBG-Entw ist entschieden abzulehnen. Wenn die Kriminalpolizei zu Unrecht in Grundrechte eingreift, zB jemanden wegen angeblicher Gefahr im Verzug festnimmt oder eine Wohnung durchsucht, kann der Betroffene Einspruch erheben, darüber entscheidet der Einzelrichter; gegen dessen Beschluss kann sich der Betroffene beim OLG beschweren (§§ 106, 107 StPO). Eine Grundrechtsbeschwerde soll in solchen Fällen nach Abs 3 nur möglich sein, wenn zur Grundrechtsverletzung ein Verstoß gegen die §§ 5 - 9 StPO hinzutritt.

Warum der Grundrechtsschutz bei Einspruchsentscheidungen von einer Verletzung der einfachgesetzlichen §§ 5 - 9 StPO abhängen soll, ist unbegreiflich. Unklar ist überdies, wer gegen die §§ 5 - 9 StPO verstoßen muss: die Kriminalpolizei oder das Gericht bei der Entscheidung über den Einspruch?

Das OLG kann es im Einspruchsverfahren ablehnen, sich mit der Beschwerde gegen den Beschluss des Einzelrichters zu befassen, wenn es keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gilt (§ 107 Abs 3 StPO). Was soll der OGH tun, wenn der Betroffene darauf eine Grundrechtsbeschwerde ergreift? Soll der OGH sich mit den Rechtsfragen auseinandersetzen, die dem OLG nicht wichtig genug waren, sich damit zu befassen? Oder sind Grundrechtsbeschwerden in solchen Fällen unzulässig? Der Entwurf ist offensichtlich nicht auf die StPO abgestimmt.

 

4.) § 3 Abs 1 GRBG-Entw ist in der vorgesehenen Form abzulehnen. Er verschärft übermäßig die Formerfordernisse für Grundrechtsbeschwerden und stellt sich damit gegen das Anliegen der Gesetzesväter, jeden Formalismus zu vermeiden (852 BlgNR 18. GP). Der Beschwerdeführer hat künftig „deutlich und bestimmt anzugeben und unter Verweis auf die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Beschwerde zu begründen, welches Grundrecht er … als verletzt erachtet und worin die Verletzung bestehen soll“. Damit verlangt der Entwurf mehr als selbst für Nichtigkeitsbeschwerden. Dort hat der Beschwerdeführer den Nichtigkeitsgrund nur „deutlich und bestimmt“ zu bezeichnen (§ 285a Z 2 StPO), und eine Begründung „unter Verweis auf die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Beschwerde“ kennt die StPO gar nicht.

Was versteht der Entwurf unter einer Begründung „unter Verweis auf die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Beschwerde“? Angenommen die Beschwerde weist auf einen Vorgang hin und leitet daraus die Verletzung eines Grundrechts ab. Der OGH hält die Rechtsausführungen der Beschwerde nicht für schlüssig. Kann der OGH die Beschwerde als unzulässig und mit formelhafter Begründung (siehe Anmerkungen zu § 6 Abs 2) zurückweisen, auch wenn er die Beschwerde im Ergebnis für berechtigt hält? Dass der OGH Rechtsmittel als unzulässig zurückweist, nur weil ihm die Rechtsausführungen des Anwalts nicht zusagen, kommt vor (JBl 2003, 884 mit Anm Bertel, JBl 2004, 531 mit Anm Burgstaller). Der Entwurf scheint diese Judikaturlinie bedenkenlos zu übernehmen.

 

5.) § 6 Abs 2 GRBG-Entw ist entschieden abzulehnen. Der OGH kann nach dem Entwurf unzulässige und „offenkundig unbegründete“ Grundrechtsbeschwerden – von einer Ausnahme abgesehen – zurückweisen, indem er „die für die Zurückweisung maßgeblichen Gründe kurz ausführt“. Eine Begründung muss nicht lang sein, und andere als die „maßgeblichen Gründe“ braucht sie nicht zu enthalten (vgl § 270 Abs 1 Z 5 StPO). Will der Entwurf etwa darauf hinaus? Wohl kaum, in Wahrheit ist § 6 Abs 2 eine Einladung zur formelhaften, substratlosen Begründung. Die Bestimmung erleichtert es dem OGH, Beschwerden ohne Eingehen auf Argumente mit einigen Floskeln zurückzuweisen. Das ist ein Verfall rechtsstaatlicher Kultur, und das ausgerechnet im Grundrechtsbeschwerdegesetz!

Die EB (S 23) versuchen eine Analogie zu Art 144 Abs 2 B-VG herzustellen. Ganz zu Unrecht: Der VfGH darf die Behandlung einer Beschwerde nur ablehnen, wenn sich der Beschwerdeführer auch beim VwGH beschwerden könnte. Dadurch wird sichergestellt, dass wenigstens ein Höchstgericht die Beschwerde meritorisch prüft (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 [2007], Rz 1216). Neben dem OGH gibt es aber kein Höchstgericht, das eine „offenkundig unbegründete“ Grundrechtsbeschwerde auch noch prüfen könnte. Nach Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer (Bundesverfassungsrecht10 Rz 1217) sind die „Begründungen“ des VfGH in den Fällen des Art 144 Abs 2 B-VG meist „knappe Behauptungen“, die kaum überprüfbar sind. Offenbar will der VfGH in seiner „Begründung“ der Entscheidung des VwGH nicht vorgreifen. Der OGH freilich braucht auf einen VwGH keine Rücksicht zu nehmen.

         Geradezu perfid ist die Regel, dass der Beschwerdeführer „zugleich“ mit der begründungslosen Zurückweisung seiner Beschwerde „zum Ersatz aller durch sein Einschreiten verursachten Kosten“ verurteilt werden kann (Abs 2 zweiter Satz). Eigentlich sollte man den Beschwerdeführer dafür entschädigen, dass er auf eine an sich selbstverständliche Entscheidungsbegründung verzichten muss.