An das

GZ ● BKA-600.076/0006-V/5/2008

Abteilungsmail v@bka.gv.at

bearbeiterin Frau Dr Angela JULCHER

Pers. E-mail angela.julcher@bka.gv.at

Telefon 01/53115/2288

Ihr Zeichen BMSK-21119/0006-II/A/1/2008

 

Bundesministerium für

Soziales und Konsumentenschutz

 

per e-mail:

stellungnahmen@bmsk.gv.at

Antwort bitte unter Anführung der GZ an die Abteilungsmail

 

 

 

Betrifft:  Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz, das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz und das Bauern-Sozialversicherungsgesetz geändert werden (Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2008 – SVÄG 2008);

Begutachtung; Stellungnahme

 

 

Zum mit der do. oz. Note übermittelten Gesetzesentwurf samt Beilagen nimmt das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst wie folgt Stellung:

I. Zum Gesetzesentwurf:

Zu Art. 1 Z 4 und 6 bis 8 (§ 607 Abs. 12 und 14 ASVG), Art. 2 Z 1 und 3 bis 5 (§ 298 Abs. 12 und 13a GSVG) und Art. 3 Z 1 und 3 bis 5 (§ 287 Abs. 12 und 13a BSVG):

1. Mit diesen Bestimmungen soll die für Langzeitversicherte bestehende Sonderregelung, wonach die Geburtsjahrgänge vor 1951 (Männer) bzw. 1956 (Frauen) bei Vorliegen von 45 bzw. 40 Beitragsjahren mit Vollendung des 60. bzw. 55. Lebensjahres abschlagsfrei die Pension antreten können, auf weitere Geburtsjahrgänge (vor 1954 bzw. vor 1959, was zum Auslaufen im Jahr 2013 führt) ausgedehnt werden. Das bedeutet, dass Personen, die – wenn auch nur knapp – nach dem maßgeblichen Stichtag geboren sind, anders als vor dem Stichtag Geborene erst zu einem späteren Zeitpunkt die Pension antreten können und zudem Leistungsabschläge hinnehmen müssen.

2. Diese Ungleichbehandlung ist Folge einer gesetzlichen Neuregelung, die bereits im Rahmen der Pensionsreform 2003 als Teil verschiedener, für die einzelnen Versicherten verschlechternder Maßnahmen mit dem Ziel der langfristigen Sicherung des Pensionssystems getroffen wurde. Solche verschlechternden Maßnahmen liegen grundsätzlich im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung: Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zB VfSlg. 16.764/2002 mwN) gewährleistet keine Verfassungsvorschrift den Schutz erworbener Rechtspositionen; der Gesetzgeber ist allerdings durch den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Gleichheitssatz gehalten, dem Vertrauensschutz bei seinen Regelungen Beachtung zu schenken. Demnach können etwa schwerwiegende und plötzlich eintretende Eingriffe in erworbene Rechtspositionen, auf deren Bestand der Normunterworfene mit guten Gründen vertrauen konnte, zur Gleichheitswidrigkeit des belastenden Eingriffs führen. Die Aufhebung oder Abänderung von Rechten, die der Gesetzgeber zunächst eingeräumt hat, muss außerdem sachlich begründbar sein; Eingriffe in bestehende Rechtspositionen sind aber auch dann, wenn sie im Übrigen sachlich gerechtfertigt sind, nicht in jedweder Art und in jedweder Intensität zulässig.

3. Auch im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz (vgl. die Erläuterungen zur Regierungsvorlage 59 BlgNR 22. GP, 331 f) wurden die durch die Pensionsreform 2003 erfolgten Einschnitte (unter anderem) durch die Sonderregelung für Langzeitversicherte bestimmter Geburtsjahrgänge abgemildert. Dagegen, dass diese Sonderregelung nach der nun in Aussicht genommenen Verlängerung um drei Jahre ohne weitere Übergangsbestimmung auslaufen soll, bestehen deswegen keine Bedenken im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz, weil die bestehende Begünstigung nicht eingeschränkt, sondern ausgedehnt wird: Personen, die nach der geltenden Rechtslage bereits damit rechnen müssen, bei einem Pensionsantritt vor Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters Abschläge in Kauf zu nehmen, würden im Fall einer Verlängerung der Bestimmungen über die Langzeitversichertenpension – unter bestimmten Voraussetzungen – von diesen Abschlägen befreit; jene Personen, die auch im Fall einer Verlängerung der Langzeitversichertenregelung nicht von diesem Privileg erfasst wären, können schon derzeit nicht mit einem abschlagsfreien frühzeitigen Pensionsantritt rechnen und werden daher nicht in berechtigten Erwartungen enttäuscht, wenn sie in die Verlängerung der Sonderregelung nicht einbezogen werden. Dieser Personengruppe – Geburtsjahrgänge nach 1953 bzw. 1958 – dürfte auch insgesamt vom Inkrafttreten der Abschlagsregelung und der Neuregelung des Pensionsantrittsalters bis zum tatsächlichen Pensionsantritt ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden sein, um sich auf die neue Situation einzustellen.

4. Die Verlängerung der Langzeitversichertenregelung ist nach Auffassung des Bundeskanzleramtes-Verfassungsdienst auch nicht deswegen gleichheitswidrig, weil sie zur Folge hätte, dass für ab dem Stichtag 1. Jänner 1954 (bzw. 1. Jänner 1959) geborene Personen ohne weitere Einschleifregelung die – im Wesentlichen durch die Pensionsreform 2003 geschaffene – ungünstigere Rechtslage gelten würde:

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind Stichtagsregelungen grundsätzlich zulässig (vgl. zB VfSlg. 14.050/1995, 16.370/2001). Gerade bei der Sozialversicherung handelt es sich um ein Sachgebiet, das durch eine unaufhörliche Fortentwicklung gekennzeichnet ist (vgl. VfSlg. 3670/1960); daraus ergibt sich auch, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit haben muss, das System der Sozialversicherung zeitlich differenziert zu anzupassen, ohne schon allein aus diesem Grund gegen den Gleichheitssatz zu verstoßen. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes machen auch „Härtefälle“, welche sich ja häufig gerade aus der Tatsache einer zeitlichen Grenzlinie ergeben, ein Gesetz noch nicht gleichheitswidrig (vgl. zB VfSlg. 11.616/1988, 14.604/1996, 16.361/2001, 16.641/2002). Im Erkenntnis VfSlg. 4089/1961 hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass das Gleichheitsgebot nicht zur rückwirkenden Ausdehnung einer Gesetzeswohltat zwingt.

Allerdings darf die Grenzziehung selbst nicht willkürlich sein. Von einer solchen willkürlichen Grenzziehung kann wohl nicht gesprochen werden, wenn – wie bei der in Aussicht genommen Verlängerung der abschlagsfreien Langzeitversichertenpension – die Auswirkungen der Pensionsreform für jene Geburtsjahrgänge (teilweise) suspendiert werden, die bereits vergleichsweise nahe am Pensionsantrittsalter sind, auch wenn eine derartige Übergangsregelung aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht (mehr) unbedingt geboten wäre. Das Ergebnis ist nicht anders als es etwa bei einer Konstruktion wäre, in der schon bei der Beschlussfassung von belastenden Regelungen eine entsprechend lange Legisvakanz vorgesehen wird; die damit zwangsläufig verbundene Ungleichbehandlung von in den zeitlichen Anwendungsbereich der Regelung fallenden Personen gegenüber den (noch) nicht betroffenen Personen macht diese noch nicht gleichheitswidrig, so wie umgekehrt eine begünstigende Regelung nicht rückwirkend in Kraft gesetzt werden muss, um eine Schlechterbehandlung von ansonsten nicht in ihren zeitlichen Anwendungsbereich fallenden Personen zu vermeiden (vgl. das oben zitierte Erkenntnis VfSlg. 4089/1961).

Ist jedoch der vorgesehene Eingriff in bestehende Rechtspositionen von einer solchen Art und Intensität, dass er nach der eingangs zitierten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes überhaupt unzulässig wäre, so ist Sitz der Verfassungswidrigkeit nicht eine darauf bezogene Inkrafttretens-, Stichtags- oder Übergangsregelung, sondern die den Eingriff normierende Bestimmung selbst.

II. Zu Vorblatt, Erläuterungen und Textgegenüberstellung:

Das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst weist auf sein Rundschreiben vom 6. November 2007, GZ 600.824/0005-V/2/2007 – betreffend Legistik und Begutachtungsverfahren; Vorblatt und Erläuterungen; Darstellung der Auswirkungen von Rechtssetzungsvorhaben ‑ hin, in denen insbesondere um eine detailliertere Strukturierung der Darstellung der Auswirkungen von Rechtssetzungsvorhaben im Vorblatt ersucht wurde, unter anderem im Hinblick auf Auswirkungen in umweltpolitischer, konsumentenschutzpolitischer sowie sozialer Hinsicht und geschlechtsspezifische Auswirkungen.

Unter „Alternativen“ wären andere Wege zur Erreichung der angestrebten Ziele als die im Gesetzesentwurf gewählten Lösungen anzugeben (vgl. das Rundschreiben des Bundeskanzleramtes-Verfassungsdienst vom 6. November 2007, GZ 600.824/0005-V/2/2007, Pkt. 7); in diesem Sinne kommt die Beibehaltung der geltenden Rechtslage nicht als zur Zielerreichung geeignete, und daher auch nicht als im Vorblatt anzugebende, Alternative in Frage.


Diese Stellungnahme wird im Sinne der Entschließung des Nationalrates vom 6. Juli 1961 u.e. auch dem Präsidium des Nationalrats zur Kenntnis gebracht.

 

12. April 2008

Für den Bundeskanzler:

Georg LIENBACHER

 

 

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