Österreichische
Arbeitsgemeinschaft für
Rehabilitation (ÖAR)
Dachorganisation der
Behindertenverbände Österreichs

Dr. Christina Meierschitz · DW 119

E-Mail: meierschitz.recht@oear.or.at

 

 

 

 

 

Stellungnahme der

Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR), Dachorganisation der Behindertenverbände Österreichs, zum Entwurf einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über eine bundesweite bedarfsorientierte Mindestsicherung

 

 

 

 

Die ÖAR erlaubt sich, zu oben angeführtem Entwurf folgende Stellungnahme abzugeben:

 

Allgemeines:

 

Die ÖAR begrüßt grundsätzlich die Bestrebungen des Bundes und der Länder, Bestimmungen zur Vereinheitlichung und Verbesserung der Sozialhilfe zu erarbeiten.

Angesichts der bekannten Fakten, dass in Österreich knapp eine Million Menschen „armutsgefährdet“ und 420.000 Menschen (5 % der Wohnbevölkerung) von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, wovon wiederum 90.000 (12 %) Menschen mit Behinderungen sind, erlaubt sich die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR), Dachorganisation der Behindertenverbände Österreichs, zu den vom BMSK angeführten Überlegungen zur „Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS)“ folgende Bedenken einzubringen:

Es fällt auf, dass weder in der 15a Vereinbarung noch in den erläuternden Bemerkungen, Menschen mit Behinderung explizit erwähnt werden, hingegen wird der Genderaspekt ausdrücklich berücksichtigt. Die Lebenshilfe Österreich hat daher angemerkt, dass es nicht klar ersichtlich ist, ob diese Vereinbarung auch für Menschen mit Behinderungen Anwendung findet oder ob spezielle Zusatzregelungen für diese Personengruppe noch ausverhandelt werden (siehe auch die erläuternden Bemerkungen zu Artikel 2, wo vorgesehen wird, dass die übrigen in den Sozialhilfegesetzen geregelten Bereiche durch die Einführung der BMS nicht berührt werden).

Art. 4 der Vereinbarung legt den betroffenen Personenkreis fest. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung kann jedoch geschlossen werden, dass die Bestimmungen über die Bedarfsorientierte Mindestsicherung auch für Menschen mit Behinderungen gelten sollen. Behinderte Menschen haben jedoch in vielen Bereichen ganz spezielle Anforderungen.

Daher ersucht die ÖAR folgende Problembereiche zu beachten:

1) Es sind nach wie vor wesentliche Leistungen, wie die „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ oder die Übernahme der realen Wohnkosten, „Kann-Leistungen“, und nicht mit Rechtsansprüchen ausgestattet. Daher werden Menschen mit Behinderungen weiter in der Rolle der „Bittsteller“ bleiben und massiv von Armut bedroht sein.

2) Die Leistungen, die Menschen mit Lernbehinderungen in Beschäftigungstherapie erbringen, fallen nicht unter den Begriff „Arbeit“ im technischen Sinn und daher erhält diese Personengruppe für diese Tätigkeit kein Entgelt, sondern nur ein geringes Taschengeld, mit der Konsequenz, dass sie auch keinen arbeitsrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Schutz hat. Insbesondere erwirbt sie auch keinen eigenen Pensionsanspruch.
Von der Regierung wurde zugesichert, dass diese Diskriminierung beseitigt werden soll und die Leistungen von Menschen mit Lernbehinderungen in der Beschäftigungstherapie entsprechend anerkannt und abgegolten werden.
Mit der vorliegenden Regelung wird diese Forderung nicht erfüllt.

Die ÖAR fordert daher, Menschen mit Lernbehinderungen in der Beschäftigungstherapie in den arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Schutz einzubeziehen.

3) Menschen mit Behinderungen haben oftmals kaum Aussichten am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Vereinbarung über die Bedarfsorientierte Mindestsicherung erlaubt nicht, zu sparen oder Rücklagen zu bilden. bzw. auch für einen Notfall vorzusorgen und somit von der Armutsgefährdung wegzukommen.


Besonderes:

 

Ad Artikel 1, 2, 7 u. 14:

Der Begriff der „Arbeitsfähigkeit“ ist in der Vereinbarung nicht ausreichend definiert und daher ist für die ÖAR als Interessenvertretung der Menschen mit Behinderungen auch nicht klar ersichtlich, welche Auswirkungen sich aus der Forderung nach dem Einsatz der Arbeitskraft und den Folgen einer „Verweigerung“ derselben ergeben könnten. Nach dem Entwurf sollen hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit sowie der Zumutbarkeit einer Beschäftigung grundsätzlich die selben Kriterien wie bei der Notstandshilfe in der Arbeitslosenversicherung gelten. Dies würde unweigerlich zu einer Schlechterstellung der von uns vertretenen Personengruppe führen.

Da Menschen mit Lernbehinderungen in der Regel nicht als arbeitsfähig im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetzes gelten, ist davon auszugehen, dass die langjährige Forderung behinderter Menschen und deren Organisationen, ausreichend Förderungen zu erhalten, um im „ersten“ oder auch regulären Arbeitsmarkt eingegliedert zu werden, auch in Zukunft nicht erfüllt werden wird.

Ad Artikel 2 :

Da die Länder ihre Sozialhilfe unterschiedlich geregelt haben, ist es auch schon bisher vorgekommen, dass, je nach Wohnort, manche Menschen besser gestellt waren, als andere. Da mit der BMS alle Bedarfe mit einem pauschalen Richtsatz abgedeckt sein sollen, muss jedenfalls berücksichtigt werden, dass in einigen Ländern, so zum Beispiel auch in Wien, neben der sogenannten „Dauerleistung“, welche Menschen mit Behinderungen, die sich nicht selbst den nötigen Unterhalt beschaffen können, zusätzlich auch andere Beihilfen (z.B. Wohnbeihilfe) gewährt werden. Dies muss in allen Bundesländern einheitlich geregelt werden. Es ist sicherzustellen, dass das in Artikel 2 Abs. 4 normierte Verschlechterungsverbot auch für künftige AntragstellerInnen Anwendung findet und nicht nur für die bestehenden Rechtsverhältnisse. Eine „Nivellierung nach unten“ soll durch die neue BMS nicht stattfinden.

Ad Artikel 3 :

Für Menschen, die die Sozialhilfe bzw. die BMS als Überganglösung sehen können, ist die neue Regelung eine gute Hilfe zur Überbrückung einer Notsituation. Aber für Menschen mit Behinderungen, die keine Aussicht auf Veränderung ihrer Lebenssituation haben, sind die Geldleistungen viel zu gering, um eine positive Zukunftsperspektive entwickeln zu können. Vor allem da der Betrag von € 708 alle Bedarfsbereiche wie Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und Strom sowie andere persönliche Bedürfnisse wie die angemessene soziale und kulturelle Teilhabe aber auch Unterkunftsbedarf (Aufwand für Miete, allgemeine Betriebskosten und Abgaben), sowie den Sozialschutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung umfasst. Da in den letzten beiden Jahren die Lebenshaltungskosten exorbitant angestiegen sind (Lebensmittelkosten ca. um 25 %) und behinderte Menschen behinderungsbedingt massive Mehrkosten haben, die bei weitem nicht vom Pflegegeld (welches stark an Wert verloren hat) abgefangen werden, besteht bei dieser Personengruppe die Gefahr, dass sie direkt in die dauernde nicht reversible Armutsfalle gerät.

Ad Artikel 7:

Wir weisen noch einmal darauf hin, dass Menschen mit lern- und psychischen Behinderungen in der Regel nicht als arbeitsfähig gelten und somit auch nicht in die Zuständigkeit des AMS fallen und somit auch nicht den gleichen Zugang zu den Dienstleistungen des Arbeitsmarktservices erhalten können.

Das Bundessozialamt mit seinen Landesstellen und den Experten für Menschen mit Behinderungen muss ebenfalls als Anlaufstelle festgeschrieben werden.

Ad Artikel 10:

Es ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen, wenn sie nicht selbsterhaltungsfähig sind, in jedem Fall einen Anspruch auf die volle BMS haben, unabhängig davon, ob sie noch im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern oder bereits selbständig leben.

Ad Artikel 13:

Aus Abs. 1 geht nicht klar hervor, ob bei der Bemessung der BMS auch jener Teil des Einkommens des unterhaltspflichtigen Angehörigen, der 75 % überschreitet, berücksichtigt werden muss, wenn es sich um die Beziehung zwischen einem Elternteil und einem erwachsenen Kind handelt. Es muss sichergestellt sein, dass die Unterhaltsleistungen von Eltern gegenüber ihren erwachsenen Kindern auch im gemeinsamen Haushalt, wie bereits in einigen Ländern z.B. in Wien praktiziert, in Zukunft nicht bei der Bemessung der BMS herangezogen werden.

Abs. 4 Z 4 bestimmt den Freibetrag. Die vorgesehene Höhe scheint zu gering bemessen, da Menschen mit Behinderungen kaum Möglichkeiten haben, Mittel anzusparen und somit Eltern bestraft werden, die für ihre Kinder „Notgroschen“ angelegt haben.

Dem Abs. 4 soll eine Z 6 angehängt werden:

"6. Gegenstände die aufgrund einer Behinderung zur Bewältigung des Lebensalltages dienen."

Ad Abs. 5

Da für behinderte Menschen die BMS oft keine Übergangslösung darstellt, sondern dies dauerhaft auf diese Hilfe angewiesen sind, sollte diese Bestimmung für Menschen mit Behinderungen eine Ausnahmebestimmung enthalten. Ein Wechsel des Wohnbedarfes bedeutet für behinderte Personen oft eine unüberwindbare Härte. Daher soll bei dieser Gruppe die Verwertung und auch grundbücherliche Sicherstellung von unbeweglichem Vermögen nicht vorgesehen werden.

Ad Artikel 14:

In Abs. 3 Z 3 muss die Beschränkung auf die Pflegegeldstufen ab der Stufe 3 ersatzlos gestrichen werden. Für jene unter diese Bestimmungen fallenden Eltern, vor allem für Mütter, ist die Aufnahme einer Tätigkeit oft nicht möglich, wenn sie ein Kind zu betreuen haben, das älter als die in Z 2 berücksichtigten 3 Jahre ist und das eine Behinderung hat, auch wenn dafür „nur“ die Pflegegeldstufe 1 oder 2 gewährt wird. Wie allen Entscheidungsträgern bekannt sein muss, wird Kindern das Pflegegeld selten in der, der Behinderung entsprechenden Höhe zugesprochen. Die Gründe dafür sind hauptsächlich in der durch den OGH begründeten Spruchpraxis zu suchen, nach der nur der Mehraufwand an Pflege und Betreuung berücksichtigt werden darf, den nichtbehinderte Kinder nicht haben würden. Dass allerdings der Aufwand für ein behindertes Kind für Tätigkeiten, die auch ein nichtbehindertes Kind nicht ohne Unterstützung oder Hilfe erledigen kann, ungleich höher ist und wesentlich mehr Zeit und Aufwand in Anspruch nimmt, wird nicht berücksichtigt. Hinzu kommt, dass unerlässliche Zeiten, wie der wesentlich erhöhte Beaufsichtigungsbedarf, überhaupt nicht einbezogen wird. Zeitaufwendige Arzt- oder Therapiebesuche, sowie die zu Hause durchgeführten Übungen zur Verbesserung der körperlichen oder geistigen Entwicklung und der damit eventuell verbundenen zukünftigen Verringerung des Pflegeaufwandes zählen ebenfalls nicht als behinderungsbedingter Mehraufwand, der mit dem Pflegegeld für Kinder abgegolten werden soll.

Aus diesem Grund sollen Personen, die einen behinderten Angehörigen pflegen und keine passende Möglichkeit haben, diesen in gleichem Ausmaß wie daheim betreuen zu lassen, nicht dem Druck ausgesetzt werden, dass sie ihren kargen Lebensunterhalt zu 50 % verlieren können, wenn sie eine angebotene Tätigkeit nicht annehmen. In unbestimmten Sonderfällen (in besonderen Fällen und ausnahmsweise) könnte die Mindestsicherung ganz „gestrichen“ werden, wobei sich die Frage erhebt, wie diese Familie dann überleben soll.

Ad Artikel 17:

Ausschlaggebend im Zusammenhang mit der Gewährung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung kann nicht nur die Arbeitsfähigkeit und die Arbeitswilligkeit sein, sondern es muss ebenfalls die konkrete Arbeitsmöglichkeit miteinbezogenen werden. Wenn die gleichen Kriterien wie bei der Notstandsunterstützung gelten sollen, besteht die Gefahr, dass das letzte Auffangnetz für manche Menschen nicht mehr seinen Sinn erfüllen wird, nämlich die Grundbedürfnisse für ein menschenwürdiges Dasein zumindest minimal abzudecken, unabhängig von allen widrigen Umständen.

Ad Artikel 18:

In die Statistiken sind unbedingt Daten betreffend Menschen mit Behinderungen, vor allem von Menschen mit Lernbehinderungen, aufzunehmen.

Ad Artikel 19:

In den Arbeitskreis für Bedarfsorientierte Mindestsicherung sind jedenfalls auch Vertreter von Menschen mit Behinderungen aufzunehmen.

 

 

Wien, am 15. Mai 2008