Wiener Neustadt, am 07.05.2008

 

Ergeht an:

 

Präsidentin des Nationalrats Mag. Barbara Prammer

2. Präsident des Nationalrats Dr. Michael Spindelegger

3. Präsidentin des Nationalrats Dr. Eva Glawischnig-Pieczek

Bundeskanzler Dr. Alfred Gusenbauer

Vizekanzler Mag. Wilhelm Molterer

Bundesministerin Dr. Maria Berger

Bundesministerin Dr. Andrea Kdolsky

Bundesminister Günther Platter

durchschriftlich an die Landesfachgruppenobleute des Sonderfaches Kinder- und Jugendheilkunde

und das Präsidium der Öst. Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde

 

 

Betrifft: Änderung der Anzeigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung bzw. -missbrauch

 

 

Im Ministerialentwurf zum Gewaltschutzgesetz findet sich folgende Änderung der bisherigen Vorschriften:

 

3. § 78 Abs. 3 lautet:

„(3) Die Behörde oder öffentliche Dienststelle hat auch in den Fällen des Abs. 2 Z 1 alles zu

unternehmen, was zum Schutz des Opfers oder anderer Personen vor Gefährdung notwendig ist und

Anzeige zu erstatten, insbesondere soweit die konkrete Gefahr besteht, dass eine Person neuerlich Opfer

einer im § 65 Z 1 lit. a bezeichneten Tat wird.“

4. Nach dem § 78 wird folgender § 78a eingefügt:

§ 78a. (1) Besteht auf Grund bestimmter Tatsachen der Verdacht, dass ein Minderjähriger Opfer

einer im § 65 Z 1 lit. a bezeichneten Tat geworden sein könnte, so haben Personen, denen die Pflege und

Erziehung oder sonst die Sorge für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen obliegt,

unverzüglich Anzeige an Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zu erstatten.

(2) Keine Anzeige hat zu erstatten, wer

1. durch die Anzeige sich oder einen Angehörigen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen

würde,

2. von der Tat ausschließlich durch eine Mitteilung Kenntnis erhalten hat, die ihm in seiner

Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist.“

 

Damit wird die bisherige Regelung, dass betreuende ÄrztInnen von einer absoluten Anzeigepflicht ausgeschlossen sind, offensichtlich außer Kraft gesetzt.

 

Als Vertreter der österreichischen FachärztInnen des Sonderfaches Kinder- und Jugendheilkunde muss ich vor dieser offensichtlichen Fehlentwicklung warnen. Der traurige Anlassfall des kleinen Luca zeigt nämlich bei genauer Betrachtung, dass im ärztlichen Bereich keine Fehlleistung passiert ist. Wenn von einer solchen gesprochen werden kann, sind dies Falscheinschätzungen von Jugendämtern bzw. Verständigungsprobleme zwischen den regional zuständigen Ämtern der Jugendwohlfahrt. Eine absolute Anzeigepflicht kann letztlich für quälende Angehörige nur verhindern betreuende ÄrztInnen aufzusuchen, womit vor allem den betroffenen Kindern kein guter Dienst erwiesen wird.

In den letzten Jahren wurden flächendeckend an den stationären Versorgungseinheiten für Kinder und Jugendliche dem Gesetz entsprechend Kinderschutzgruppen etabliert, die hervorragende Arbeit leisten. Leider wurden aber etwa in Wien die in diese Schutzgruppen eingebundenen SozialarbeiterInnen wie es heißt aus Kostengründen abgezogen. So sieht leider die Realität aus.

Es sollte tatsächlich im Sinne der bedrohten Kinder großzügiger als bisher investiert werden. Weiters muss es in einem Staat, der insgesamt weniger Einwohner hat als die Stadt Paris, möglich sein den immer wieder gepriesenen Föderalismus – der sich hier einmal mehr als „Kantönligeist“ entlarvt – im Bereich der Jugendwohlfahrt per Verordnung ein wenig einzubremsen, damit möglich wird, dass über die Grenzen eines Bundeslandes hinaus eine vernünftige Versorgung durch die Jugendwohlfahrt erreicht wird.

Ein weiterer Grund, warum sich die geplante Verschärfung der Anzeigepflicht ad absurdum führt ist der, dass es nicht immer sehr gut ist, wenn Beamte der Exekutive – vielleicht noch in Uniform – sofort  zu recherchieren beginnen. Gerade in einem sozial so diffizilem Umfeld können die zuständigen Jugendämter wesentlich effizienter eingreifen, vorausgesetzt, sie sind personell entsprechend ausgestattet, was im Sinne der immer wieder beteuerten Spargesinnung leider selten genug der Fall ist.

Verpflichtende jährliche Vorstellungen zur Vorsorgeuntersuchung, die eine regelmäßige Kontrolle des Zustandes von Kindern ermöglichen, hat der Gesetzgeber durch die Quasientwertung des MKP – ebenfalls ganz im Sinn des Spargedankens – schon vor mehr als zehn Jahren offensichtlich für nicht wirklich notwendig erachtet.

Eine Verschärfung der Anzeigepflicht ist eine für die Bevölkerung zwar plausibel zu erklärende, populistische Maßnahme, letztendlich aber sicher nicht das geeignete Mittel um Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch zu erschweren oder zu verhindern.

Ich darf daher aus oben genannten Fakten ersuchen, diese geplante Verschärfung der Anzeigepflicht im Sinn der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu überdenken.

 

 

Hochachtungsvoll

 

MR Dr. Dietmar Baumgartner