Kriseninterventionszentrum für Kinder und Jugendliche

Hilfe für Kinder und Jugendliche in Not

 

Pradlerstrasse 75      ·    A - 6020 Innsbruck

Tel.:  0512 / 58 00 59   ·     Fax: 0512 / 58 00 59 – 9

e-mail: info@kiz-tirol.at  http://www.kiz-tirol.at

 

 

 

 

 

 

An

Bundesministerium für Justiz

Dr. Georg Kathrein

Postfach 63

1016 Wien

 

 

Innsbruck, 3. Juni 2008

 

 

BMJ-B12.101/0002-I 5/2008

Stellungnahme des Kriseninterventionszentrums für Kinder und Jugendliche zum Entwurf für ein 2. Gewaltschutzgesetz:

 

Änderung der Strafprozessordnung 1975

 

 „§ 78a. (1) Besteht auf Grund bestimmter Tatsachen der Verdacht, dass ein Minderjähriger Opfer

einer im § 65 Z 1 lit. a bezeichneten Tat geworden sein könnte, so haben Personen, denen die Pflege und

Erziehung oder sonst die Sorge für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen obliegt,

unverzüglich Anzeige an Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zu erstatten.

(2) Keine Anzeige hat zu erstatten, wer

1. durch die Anzeige sich oder einen Angehörigen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen

würde,

2. von der Tat ausschließlich durch eine Mitteilung Kenntnis erhalten hat, die ihm in seiner

Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist.“

 

Wir sind ein sozialer Dienst der Jugendwohlfahrt Tirol, der sich rund um die Uhr mit Opfern familiärer Gewalt auseinandersetzt. 24 Stunden jeden Tag können bei uns sowohl Beratungsgespräche als auch Aufnahmen in den Wohnbereich bzw. Opferschutzbereich stattfinden. Unser Hauptklientel sind Betroffene zwischen 12 und 18 Jahren, sexualisierte Gewalt ist oft eine der vielen Gewalterfahrungen dieser Jugendlichen. Prinzipiell begrüßen wir jegliche Ausweitung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Schutz potentieller oder tatsächlicher Opfer. Sollten wir jedoch in Zukunft bei begründetem Verdacht auf sexualisierte Gewalt Anzeige erstatten müssen, können wir nicht nur unseren niederschwelligen und offenen Zugang für SelbstmelderInnen als Arbeitsgrundlage verwerfen, wir müssten auch in vielen Fällen nach längst erfolgten sicheren Schutzmassnahmen (Fremdunterbringung usw.) aktiv Retraumatisierungen unterstützen und somit wider dem Kindeswohl handeln. Eine nicht unwesentliche Anzahl unserer betreuten Familien müsste auf die eine oder andere Weise strafrechtlich erfasst werden. In weiterer Folge würden sich voraussichtlich auch wesentlich weniger Opfer und Täter an uns wenden und die Dunkelziffer sexualisierter Gewalt würde weiter ansteigen. Jahre des vorsichtigen und sensibilisierten Zugangs zu dieser Gewaltthematik wären umsonst.

Wir versuchen sehr wohl weitestgehenden Schutz für Opfer zu gewährleisten und wir nutzen dazu jede Möglichkeit, so können wir mittels unserer Bettenkapazitäten in vielen Fällen schneller und umfassender Schutz gewährleisten, als dies Behörden im bloßen Verdachtsfall könnten. Wenn dieser Schutz jedoch nur mittels Polizei und Gericht erzielt werden kann, sind wir auch jetzt dazu verpflichtet, diesen Weg zu gehen – dies betrifft insbesondere weitere gefährdete Familienmitglieder. Sollten jedoch Jugendliche – die oft aus ganz anderen Gründen bei uns und somit auch vor weiterer Gewalt geschützt sind – zu uns Vertrauen fassen und in diesem Vertrauensverhältnis über die vielleicht auch erlittene sexualisierte Gewalt sprechen wollen, wäre eine strafrechtliche Anzeige in vielen Fällen mehr als kontraproduktiv. Erlittene sexualisierte Gewalt im familiären Bereich befindet sich in einem Spannungsfeld von Abhängigkeit, Angst und oft auch familiärer Zuneigung – über diese, in einem gesellschaftlich idealisiertem Intimbereich stattfindende Demütigung zu sprechen, setzt viel Vertrauen und Schutz voraus. Dieses Vertrauen brechen wir, wenn wir behördliche Ermittlungen gegen den Willen dieser Opfer einleiten – an welche professionelle Einrichtung können sich solche Opfer dann noch wenden?

 

Nach unserem Verständnis sind die in Zusammenhang mit obiger Anzeigepflicht stehenden derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen ausreichend, die Verpflichtung der Gewährleistung des Schutzes und das Wohl der Kinder und Jugendlichen stehen im Vordergrund. Werden Schutz und Wohl (sowohl seelisches als auch körperliches Wohl) von den HelferInnen sorgsam betrachtet, kann es kaum eine bessere Alternative zur Unterstützung dieser Opfer geben. Sollte der Schutz und das Wohl der Kinder und Jugendlichen nicht mehr im Zentrum des Trachtens stehen, so wäre eine gesellschaftliche Sensibilisierung bzw. eine Infragestellung der idealisierten Intimsphäre Familie wesentlich sinnvoller als eine Ausweitung der Anzeigepflicht in diesem Ausmaß. Solange die vermutete Dunkelziffer von sexualisierter Gewalt wesentlich höher ist, als die Anzahl der tatsächlich bekannten Fälle, ist eine Erhöhung der Zugangsschwellen durch eine Anzeigepflicht äußerst kontraproduktiv und in vielen Fällen die körperliche und seelische Integrität der Minderjährigen gefährdent.

 

 

 

Mag. Markus Fankhauser