UNIVERSITÄT INNSBRUCK

RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT

INSTITUT FÜR STRAFRECHT, STRAFPROZESSRECHT UND

KRIMINOLOGIE

A-6020 Innsbruck, Innrain 52

em. Univ.Prof. Dr. Christian Bertel

o. Univ.-Prof. Dr. Klaus Schwaighofer

ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Venier

 

Innsbruck, am 3.6.2008

 

 

Stellungnahme zum

Entwurf eines 2. Gewaltschutzgesetzes

(BMJ-B12.101/0002-I 5/2008)

 

 

I. Zu Art V (Änderungen des Strafgesetzbuches):

 

1. § 52a Entw (Gerichtliche Aufsicht) ist abzulehnen. Er ermöglicht im Abs 1 die Weisung, eine bestimmte Tätigkeit nicht auszuüben. Eine solche Weisung ist schon nach dem geltenden § 51 StGB möglich, wenn dort auch nicht ausdrücklich genannt. Dennoch wäre es sinnvoll, gerade diese Weisung besonders zu erwähnen. Die Weisung zB, einen bestimmten Beruf nicht auszuüben, greift tief in die Persönlichkeitsrechte des bedingt Entlassenen ein, kann also nur in Frage kommen, wenn ein Rückfall ohne diese Weisung nicht nur möglich, sondern recht wahrscheinlich ist. Gerade das sagt § 52a Abs 1 Entw aber nicht. So ist er ganz überflüssig.

Nach geltendem Recht wird dem bedingt Entlassenen ein Bewährungshelfer bestellt und sein Verhalten durch ihn überwacht (§ 52 Abs 2 StGB). Nach § 52a Entw kann das Gericht den bedingt Entlassenen zB auch durch die Polizei und die Jugendwohlfahrt überwachen lassen. Eine Überwachung durch die Polizei gab es in Österreich in Form der Polizeiaufsicht von 1873 bis 1974. Sie wurde durch das Strafrechtsanpassungsgesetz, BGBl 1974/422, abgeschafft, weil sie sich als resozialisierungsfeindlich und ineffektiv erwiesen hatte. Dass das BMJ im Jahre 2008 auf eine schon seit Jahrzehnten obsolete Einrichtung zurückgreift, ohne das in den Erläuterungen auch nur zu erklären, ist erstaunlich.

Erstaunlich ist auch der Gedanke, dass Einrichtungen der Jugendwohlfahrt bedingt Entlassene überwachen sollen. Diese Einrichtungen leiden ohnehin an Personalmangel. Sollen sie jetzt auch noch Berichte an die Justiz schreiben?

§ 52a Entw erlaubt den Gerichten, bedingt Entlassene durch Polizei, Bewährungshilfe und Jugendwohlfahrt überwachen zu lassen. Diese Häufung von Überwachungsinstanzen ist kontraproduktiv: Wenn die Kriminalpolizei eingreift, hört die Zusammenarbeit der Jugendwohlfahrt mit dem bedingt Entlassenen und den Mitgliedern seiner Familie auf, häufig nehmen auch die Möglichkeiten des Bewährungshelfers ab, auf den bedingt Entlassenen einzuwirken. Man kann die Kriminalpolizei nicht mit der Bewährungshilfe und der Jugendwohlfahrt zusammenspannen. Die Erläuterungen schweigen zu diesem Problem.

Vollkommen überzogen und darum unverhältnismäßig ist, dass die gerichtliche Aufsicht nach § 52a Abs 1 Entw für schlechthin alle Sexualtäter in Frage kommt. Ein Sexualtäter ist zB der junge Mann, der aus dem Internet Kinderpornos auf seine Festplatte herunter geladen hat. § 207a Abs 3 StGB sieht dafür Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vor. Sollte auch dieser junge Mann, falls er tatsächlich zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt und daraus bedingt entlassen wird, unter gerichtliche Aufsicht gestellt werden? Sollte ihm mit Weisung verboten werden, Lehrer zu werden oder an einer Schule vorbeizugehen? Dass aus einem Betrachter von Kinderpornos ein Kinderschänder wird, ist durchaus möglich, wenn auch nicht eben wahrscheinlich – aus einem Betrachter von Kriminalfilmen kann ja auch ein Mörder werden. Und dennoch soll die gerichtliche Aufsicht auf alle Sexualtäter anwendbar sein?

 

2. § 107b Entw (Beharrliche Gewaltausübung) ist entschieden abzulehnen. Er bedroht mit Strafe, wer längere Zeit hindurch fortgesetzt jemanden misshandelt (Abs 2). Unter Misshandlung versteht die hM[1] „jede üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht ganz unerheblich beeinträchtigt“. Die Erläuterungen verweisen auf § 115 StGB: Die Judikatur sieht bereits derbes Anfassen, das Herunterreißen einer Kopfbedeckung und das Anschütten mit Wasser als tatbildliche Misshandlung an.[2] Auch bloße Drohungen sollen „Gewalt“ iSd § 107b Entw sein.

Die Begriffe „längere Zeit hindurch fortgesetzt“ begegnen im § 107a StGB. Als beharrliche Verfolger werden zB Männer verurteilt, die ihre Angebetete während zwei bis drei Tagen insgesamt fünf bis sechsmal angerufen haben; die Eignung, die Lebensführung des Opfers unzumutbar zu beeinträchtigen, die § 107a Abs 2 StGB auch verlangt, gilt mit den fortgesetzten Anrufen über längere Zeit als selbstverständlich gegeben.

Der neue § 107b StGB wird ebenso ausgelegt werden. Wer seine Frau über mehrere Tage bis zu einer Woche insgesamt fünf bis sechsmal stößt oder „derb anfasst“, hat nach § 107b Abs 1 Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu erwarten. Bisher waren nicht öffentliche Misshandlungen ohne Verletzungen überhaupt nicht strafbar. Wie kann man auf den Gedanken kommen, sie plötzlich mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen?

Das wollen hoffentlich auch die Gesetzesverfasser nicht. Leider sind die Erläuterungen nicht im Stande, wenigstens ein Beispiel für einen strafwürdigen Fall „häuslicher Gewalt“ zu nennen, für den das neue Strafgesetz bestimmt ist und an dem sich die Auslegung des Gesetzes orientieren könnte. Das ist der beste Beweis, dass § 107b entbehrlich ist. Wenn man einen neuen Tatbestand schaffen will, muss man sich zunächst darüber klar werden, was man überhaupt bestrafen will. Den in den Erläuterungen genannten Fall des Pflegers, der einen Pflegling immer wieder misshandelt, kann man schon jetzt nach § 92 StGB bestrafen. Und für den Schüler, der einen Klassenkameraden terrorisiert, ist das Strafrecht nicht das geeignete Mittel.

§ 107b Entw verstößt im Übrigen gegen das Bestimmtheitsgebot, weil der Tatbestand übermäßige viele unbestimmte Gesetzesbegriffe enthält, die man so oder anders auslegen kann. Diese Bedenken bestehen schon gegenüber § 107a StGB,[3] und sie verstärken sich im Fall des § 107b Entw, weil nicht einmal die Erläuterungen Beispiele für die richtige Anwendung der Bestimmung geben können. Ein Strafgesetz, bei dem nicht gesagt werden kann, was konkret strafbar sein soll, öffnet der Willkür Tür und Tor. Deutschland kennt keine ähnliche Strafbestimmung. In der Schweiz gibt es eine Bestimmung (Art 126 schwStGB), die „Tätlichkeiten“ lediglich mit Geldstrafe (Busse) bedroht. Man sieht: Der Entwurf verlässt den Boden dessen, was international üblich ist.

 

Auch die Qualifikationen des § 107b Abs 3 Entw sind äußerst vage: Die Z 1 ist im Hinblick auf § 92 StGB entbehrlich und schafft nur unnötige Abgrenzungs- und Konkurrenzprobleme. Zur Z 2 schweigen sich die Erläuterungen wieder aus, was unter einer „umfassenden Kontrolle“ und einer „erheblichen Einschränkung der autonomen Lebensführung“ verstanden werden soll. Vermutlich handelt es sich bei der umfassenden Kontrolle um eine Steigerung der Alternative „erhebliche Einschränkung der autonomen Lebensführung“, dann ist diese erste Variante aber entbehrlich. Und wann liegt nach den Vorstellungen der Gesetzesverfasser eine „erhebliche Einschränkung der autonomen Lebensführung“ vor? Die Erläuterungen wiederholen nur die Formulierung des Abs 3 anstatt Beispiele zu nennen, an denen sich die Rechtsprechung orientieren könnte. Erläuterungen ohne Beispiele haben keinen Wert.

 

 

II. Zu Art VI (Änderungen der Strafprozessordnung):

 

1. § 78 Abs 3 Entw ist entschieden abzulehnen. Nach § 78 Abs 2 StPO können die Jugendämter von der Anzeige auch schwerer Misshandlungen mit Verletzungen und von der Anzeige von Sexualdelikten absehen, wenn sie davon vertraulich erfahren haben. Eine Mutter erzählt Mitarbeitern des Jugendamtes, dass ihr Lebensgefährte mit ihrer 12-jährigen Tochter Geschlechtsverkehr hat oder sie immer wieder verprügelt, und bittet um Rat und Hilfe. Das Jugendamt versucht dann mit seinen Mitteln, die Verhältnisse zu ändern, zB dem Täter dieses oder jenes zu verbieten, ihn zu einer Therapie zu bewegen. Die Täter sind durchaus bereit, mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten; das Jugendamt erfährt vom Opfer, von der Mutter und den Geschwistern sehr schnell sehr viel mehr als die Kriminalpolizei erfahren könnte; dem Täter ist klar, dass er auf eine Anzeige des Jugendamtes hin eine schwere Strafe nicht vermeiden kann.

§ 78 Abs 3 Entw erweckt den Anschein, als seien die Jugendämter in solchen Fällen künftig zur Anzeige verpflichtet. Dann beschränkt § 78 Abs 3 Entw die Anzeigepflicht doch wieder auf Fälle, in denen eine konkrete Gefahr besteht, dass eine Person wieder Opfer von Gewalt oder eines Sexualdeliktes wird. Angenommen, der Stiefvater in dem Beispiel vorhin wäre zu einer Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bereit. Müsste ihn das Jugendamt nach dem neuen § 78 Abs 3 anzeigen oder brauchte es das nach § 78 Abs 2 nicht zu tun? Ja und nein: Es kommt darauf an, ob eine konkrete Gefahr besteht, dass der Stiefvater wieder einen Übergriff begeht. Möglich ist es immer, dass der Stiefvater das Mädchen wieder schlägt oder sich wieder an ihm vergeht, aber nicht jede Möglichkeit ist eine konkrete Gefahr. Und wann wird eine Möglichkeit zu einer konkreten Gefahr? „Wenn infolge des Verhaltens des Verdächtigen eine Situation geschaffen oder aufrechterhalten wurde, die nicht bloß allgemein, sondern auch und gerade im besonderen Fall die Möglichkeit der Begehung einer weiteren vorsätzlich begangenen Straftat bietet“, so die Erläuterungen. Ein Beispiel, das diesen sehr abstrakten Satz verdeutlichen würde, geben die Erläuterungen nicht. Wie soll ein Jugendamt damit arbeiten?

Es wäre für die Arbeit der Jugendämter verhängnisvoll, wenn auch nur der Eindruck entstünde, die Jugendämter seien regelmäßig zur Anzeige verpflichtet und man könne sich auf die Vertraulichkeit von Mitteilungen an das Jugendamt nicht mehr verlassen. Dann würden Angehörige und Opfer nicht mehr zum Jugendamt gehen, weder das Jugendamt noch die Kriminalpolizei könnten etwas zum Schutz des Opfers tun. Der Entwurf ist leider geeignet, eben diesen Eindruck zu erwecken.

In den Erläuterungen ist davon die Rede, der Schutz des Kindes sei wichtiger als der Schutz von Vertrauensverhältnissen, das Recht des Kindes auf staatlichen Schutz und Strafverfolgung müsse im Vordergrund stehen. In Wahrheit kann es doch nur darum gehen, wer das Kind wirksamer schützen kann, das Jugendamt oder die Kriminalpolizei. Nach dem Urteil so gut wie aller Fachleute ist das Jugendamt dafür besser geeignet, und nach dem Urteil aller Betroffenen auch; denn sonst gingen die Betroffenen gleich zur Kriminalpolizei und nicht zum Jugendamt.

In der „Arbeitsgruppe behördlicher Kinderschutz“ der Tiroler Landesregierung waren sich denn auch alle Experten einig, dass eine über den geltenden § 78 StPO hinausgehende Anzeigepflicht nur kontraproduktiv wäre. Eine Ausweitung der Anzeigepflicht wurde einhellig abgelehnt (Endbericht S 8). Auch international dürfte die vorgeschlagene Anzeigepflicht einzigartig sein. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt zur Anzeige in solchen Fällen verpflichtet. Das Gesetz erlaubt ihnen die Anzeige, aber es zwingt sie nicht dazu. Der deutsche Gesetzgeber verzichtete erst unlängst darauf, die Anzeigepflicht nach § 138 dStGB auf sexuellen Missbrauch von Kindern auszudehnen. Kinder- und Jugendgerichtshilfe[4] sowie Opferschutzverbände hatten das Vorhaben als kontraproduktiv abgelehnt[5]. Der Entwurf vernachlässigt nationale und internationale Erfahrungen und er vernachlässigt den Stand der Wissenschaft.

 

2. Entschieden abzulehnen ist auch die neue Anzeigepflicht des § 78a Entw. Danach sind Taten anzuzeigen, durch die ein Minderjähriger Gewalt, gefährlicher Drohung ausgesetzt oder in seiner sexuellen Integrität beeinträchtigt worden sein könnte. Zur Anzeige verpflichtet sind Personen, denen die Pflege und Erziehung des minderjährigen Opfers anvertraut sind oder die sonst für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen zu sorgen haben. Die Erläuterungen nennen Eltern, Pflegeeltern, Kindergärtnerinnen, Kinder- und Schulärzte, Erzieher.

Auf den ersten Blick zeigt sich, dass die Anzeigepflicht lächerlich überspannt ist: Zwei 14-jährige Buben raufen in der Schule, der eine wird leicht verletzt. Er ist durch die Tat Gewalt ausgesetzt worden, der Schularzt müsste den 14-jährigen Verletzer anzeigen. Ob sich Kriminalpolizei und Justiz über solche Anzeigen freuen werden?

Und auf den ersten Blick lässt sich sagen, dass diese Anzeigepflicht nicht viel bringen wird. Über Delikte an Kindern in der Familie wissen Eltern und Geschwister am besten Bescheid, sie aber sind nicht verpflichtet, sich oder Angehörige der Gefahr eines Strafverfahrens auszusetzen (Abs 2 Z 1). Die vorhin erwähnte Mutter muss ihren Lebensgefährten nicht anzeigen, wenn er mit ihrer 12-jährigen Tochter Geschlechtsverkehr hat. Sie wird sich an das Jugendamt wenden, das aber nur, wenn sie sicher sein kann, dass das Jugendamt nicht oder nur im Notfall anzeigen wird.

Zur Anzeige verpflichtet sind nach den Erläuterungen Kinderärzte. Warum gerade sie und nicht auch praktische Ärzte, die ja auch Kinder behandeln können? Für Ärzte gibt es im § 54 ÄrzteG eine besondere Anzeigepflicht, die sich von der des neuen § 78a E mehrfach unterscheidet. Soll § 78a Entw den § 54 ÄrzteG ersetzen? Der Entwurf sieht keine Änderung des ÄrzteG vor. Gilt also § 78a Entw für Ärzte nicht? Gehören Ärzte nicht zu den Personen, „denen die Sorge für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen obliegt“? Dann aber kann § 78a Entw auch für Kinderärzte nicht gelten. Die Anwendbarkeit des § 78a Entw auf Ärzte ist eine wichtige Frage: Dass der Entwurf dazu nicht Stellung nehmen will, ist unbegreiflich. Alle Ärzte sollten in den in § 54 ÄrzteG genannten Fällen nur dem Jugendamt Meldung machen müssen. Der Jugendschutz und das Kindeswohl sind dort viel besser aufgehoben als bei der Kriminalpolizei, davon waren auch die Verfasser dieser Bestimmung überzeugt[6].

Wie steht es mit Sozialarbeitern, die für das Jugendamt oder für Einrichtungen tätig sind, denen das Jugendamt bestimmte Aufgaben übertragen hat? Haben sie „für die körperliche und seelische Integrität Minderjähriger zu sorgen“? Auf den ersten Blick möchte man das bejahen. Heißt das, dass sie nach § 78a Entw Strafanzeige erstatten müssen? Aber nach § 37 JugendwohlfahrtsG haben sie dem Jugendamt zu berichten, wenn es gilt, Gefahren für ein Kind zu vermeiden oder abzuwehren. Das Jugendamt entscheidet, ob der Verdacht einer Straftat vorliegt und ob eine Strafanzeige notwendig ist. Sollen Sozialarbeiter künftig gleich zur Kriminalpolizei laufen? Aber dann machen sie dem Leiter des Jugendamtes die Erfüllung einer seiner Aufgaben unmöglich. Soll in der Jugendwohlfahrt Chaos herrschen?

Ähnliche Probleme ergeben sich für die Lehrer. Sie sind doch wohl verpflichtet, „für die körperliche und seelische Integrität“ ihrer Schüler zu sorgen. Ist also § 78a Entw auf sie anwendbar? Aber nach § 48 SchulunterrichtsG hat der Schulleiter dem Jugendamt zu berichten, wenn die Erziehungsberechtigten ihre Pflichten offenbar nicht erfüllen. Der Lehrer könnte zwar selbst die Eltern anzeigen, aber idR ist er froh, dass er die heikle Entscheidung, ob der Verdacht einer Straftat vorliegt und ob eine Anzeige notwendig ist, dem Jugendamt überlassen kann. Müssen Lehrer künftig gleich zur Kriminalpolizei laufen, wenn sie eine Straftat für möglich halten, eine Straftat wohlgemerkt nicht nur der Eltern, sondern auch anderer, zB von Mitschülern? Das wäre offensichtlicher Unsinn. Also gehören Lehrer doch nicht zu den Personen, „denen sonst die Sorge für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen obliegt“? Gesetzestext und Erläuterungen schweigen.

§ 78a Entw wird zur Verfolgung von Sexual- und Gewalttaten von Eltern an ihren Kindern wenig oder gar nichts beitragen, und die Polizei wird mit zahlreichen unbegründeten Anzeigen oder Anzeigen von Bagatellen behelligt werden. In der vorliegenden Fassung, die seinen Anwendungsbereich offen lässt, ist er nicht zu verantworten.

Der Entwurf widerspricht sich im Übrigen selbst. Die Erläuterungen begründen die neue Anzeigepflicht damit, dass „die Skepsis gegenüber Strafverfahren“ durch die „Schaffung eines opfergerechten Strafverfahrens weitgehend an Berechtigung verloren“ habe. Für das Opfer ist das Strafverfahren demnach nicht mehr (so) belastend. Aber bei § 197a Entw behaupten die Erläuterungen das glatte Gegenteil. Dort sind es gerade die mit dem Strafverfahren „verbundenen Belastungen“, die einen Abbruch des Verfahrens gerechtfertigt erscheinen ließen. Das Opfer wird also doch durch das Strafverfahren belastet, umso unbegreiflicher ist die neue Anzeigepflicht des § 78a Entw.

 

3. § 197a Entw (Abbrechung des Verfahrens im Opferinteresse) ist abzulehnen. Danach kann das Verfahren für längstens 6 Monate abgebrochen werden, wenn einem minderjährigen Opfer die mit dem Verfahren verbundenen Belastungen nicht zugemutet werden können. Die Erläuterungen halten dies für nötig, weil durch die Anzeigepflicht des § 78a Entw neue Belastungen auf die Opfer zukommen. Der Entwurf rechnet offenbar mit mehr Anzeigen und mehr Strafverfahren als bisher. Wenn § 78a Entw entfällt, wofür wir nachdrücklich eintreten (siehe 2.), ist auch § 197a überflüssig.

Nach Art 6 Abs 1 MRK hat der Beschuldigte ein Recht auf Durchführung des Verfahrens „innerhalb einer angemessenen Frist“. Auch für den Beschuldigten ist ein Strafverfahren mit vielen Belastungen – zB beruflichen und sozialen Diskriminierungen – verbunden, die Untersuchungshaft ist nicht die einzige, nur die schwerste Form der Belastung. Der Entwurf nimmt nur auf die Belastung durch die Untersuchungshaft Rücksicht, das widerspricht Art 6 Abs 1 MRK.

Die Abbrechung ist zulässig, „soweit … eine verhängte Untersuchungshaft gegebenenfalls gegen gelindere Mittel aufgehoben werden kann“. Darf das Verfahren auch dann abgebrochen werden, wenn die Untersuchungshaft „gegebenenfalls“ nicht durch gelindere Mittel aufgehoben werden kann? Das verstieße gegen Art 5 Abs 4 MRK („ehetunlich“). Die Untersuchungshaft müsste bei einer Abbrechung immer aufgehoben werden.

 

4. Auch die weitere Ausdehnung der Prozessbegleitung (§ 66 Abs 3, § 67 Abs 7 Entw) erscheint überzogen und wird abgelehnt. Man wird immer wieder ein Delikt finden, wo ein Opfer im Einzelfall traumatisiert worden sein könnte. Die Prozessbegleitung für jeden Einbruchsdiebstahl anwendbar zu machen geht zu weit, verursacht unverhältnismäßige Kosten und verkompliziert das Strafverfahren. Für den Freigesprochenen zeigt der Gesetzgeber wesentlich weniger Verständnis: Er muss den Großteil seiner Kosten noch immer selbst tragen.

 

 

 

            em. Univ.-Prof. Dr. Christian Bertel eh.

            o. Univ.-Prof. Dr. Klaus Schwaighofer eh.

            ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Venier eh.

 

 



[1] Kienapfel/Schroll, Strafrecht BT I2 (2008), § 83 Rz 65 (mit weiteren Nachweisen).

[2] Foregger, WK2 § 115 Rz 14.

[3] Schwaighofer im WK-StGB2 § 107a Rz 7.

[4] Anschaulich die Stellungnahme des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. vom 12.2.2003 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften (BT-Drucksache 15/350).

[5] BT-Drucksache 15/1311 Seite 23; dort kann man weitere Literarturangaben finden.

[6] ErlRV 1386 BlgNR 21. GP 95.