1 Präs. 1614-2352/08f

 

 

 

Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs

zum Entwurf für ein 2. Gewaltschutzgesetz

 

 

I. Zu den vorgeschlagenen Änderungen der Exekutionsordnung, der Zivilprozessordnung, des Außerstreitgesetzes und des Gerichtlichen Einbringungsgesetzes 1962

 

 

              Zu Art II Z 5 („Vernehmung minderjähriger Personen“)

 

Im neu zu schaffenden § 289b ist vorgesehen, dass von der Vernehmung eines Minderjährigen auf Antrag oder von Amts wegen sogar zur Gänze abgesehen werden kann, wenn durch die Vernehmung das Wohl des Minderjährigen unter Berücksichtigung der geistigen Reife, des Gegenstands der Vernehmung und des Naheverhältnisses zu den Prozessparteien gefährdet würde. Allenfalls kann das Gericht die Vernehmung durch einen Sachverständigen vornehmen lassen. Gegen derartige Anordnungen ist kein Rechtsmittel vorgesehen. Diese Regelung bedeutet - wie auch den Erläuterungen zu entnehmen ist -, dass die Parteien des Verfahrens, soweit dies erforderlich ist, auch Eingriffe in die Stoffsammlung im Rahmen des Beweisverfahrens dulden müssen, weil die Vernehmung des Minderjährigen und damit die Nutzung eines möglicherweise für den Verfahrensausgang essenziellen Beweismittels vom Gericht verweigert wird. Ob ein derartiger Eingriff in die Rechte einer Partei - noch dazu unter Ausschluss jedes Rechtsmittels - dem Art 6 MRK entspricht, darf bezweifelt werden.

 

Gegen die in den Art I, III und IV vorgeschlagenen Änderungen bestehen keine inhaltlichen Bedenken; soweit die Änderungen rechtspolitischer Natur sind, äußert sich der Oberste Gerichtshof dazu nicht.

 

 

 

II. Zu den vorgeschlagenen Änderungen des Strafgesetzbuchs, der Strafprozessordnung 1975 und des Tilgungsgesetzes 1972

 

              Zu Art V Z 1 (Änderung der §§ 11, 92 Abs 1 und 205 Abs 1 StGB)

 

Der Ersatz des vom Entwurf als Synonym angesehenen Begriffs „Schwachsinn“ durch „geistige Behinderung“ wird in den Erläuterungen mit einer Angleichung an medizinische Terminologie begründet. Damit scheint der Nutzen die mit erneut mehrfacher Änderung des StGB verbundenen Nachteile wohl nur dann zu überwiegen, wenn § 107b (wo der Begriff in Abs 3 Z 1 verwendet wird) Gesetz werden sollte, weil inhaltlich eingestandenermaßen kein Änderungsbedarf besteht und der im Gesetz stehende Begriff ohnehin allgemein verstanden wird.

 

              Zu Art V Z 2 und 3 (Verlängerung der Probezeit und zwingende Anordnung der Bewährungshilfe bei Sexualdelinquenz)

 

Gegen die vorgeschlagene Veränderung besteht kein Einwand.

 

              Zu Art V Z 4 und 5 („Gerichtliche Aufsicht bei Sexualstraftätern und sexuell motivierten Gewalttätern“)

 

Die Einführung dieser als neuartig dargestellten und jedenfalls so bezeichneten Maßnahme erscheint unzweckmäßig. Das geltende Instrumentarium der Erteilung von Weisungen und Anordnung von Bewährungshilfe (§ 50 StGB) ermöglicht zwanglos all jene Aufsichtsmaßnahmen, welche nunmehr eigens geregelt werden sollen, sodass kein Änderungsbedarf besteht. Dem Gericht erforderlich erscheinende Berichte hat der Bewährungshelfer schon jetzt nach § 52 Abs 2 Z 1 StGB zu erstatten, nicht erforderliche periodische Berichte stellen nur unnötigen administrativen Aufwand dar, zumal mit den Berichten keine Konsequenzen verbunden sind. Denn bei Vorliegen des Widerrufsgrundes mutwilliger Nichtbefolgung von Weisungen oder beharrlicher Entziehung aus dem Einflussbereich des Bewährungshelfers (§ 53 Abs 2 StGB) ist ohnehin nach § 52 Abs 2 Z 1 StGB zu berichten.

 

 

§ 52a scheint zudem gesetzestechnisch nicht gelungen:

1.      Statt „einer solchen Handlung“ müsste es, um begrifflich eindeutig - wie offenbar beabsichtigt - die verwirklichte rechtliche Kategorie anzusprechen, lauten: „einer solchen mit Strafe bedrohten Handlung“.

2.      Das Gesetz spricht bei einer oder mehreren strafbedrohten Handlungen subsumierbaren historischen Geschehen sonst - insbesondere in der neu formulierten StPO - regelmäßig von Straftat oder Tat, sodass es in § 52a Abs 1 Z 2 statt „wenn diese Handlung“ lauten müsste: „wenn diese Straftat“ (der Begriff der Handlung bezieht sich zumeist auf das Agieren einer vom Täter verschiedenen Person; § 69 StGB verwendet den Begriff „Handlung“, um damit gezielt auch nicht vom Täter ausgehende Aktivitäten zu erfassen, zB einen nach § 189 Abs 2 Z 2 StGB „öffentlichen Gottesdienst“).

3.      Da eine § 260 Abs 2 und 3 StPO vergleichbare Bestimmung fehlt und die zu § 52a Abs 1 Z 2 genannte überschießende Innentendenz (zum Begriff vgl L/St3 § 7 RN 22) „um sich geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen“ in keinem der Tatbestände des ersten und dritten Abschnitts des Besonderen Teils des StGB enthalten ist (vgl aber §§ 100 f, 104a Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 und Abs 3 StGB), solcherart keine entscheidende Tatsache und auch keinen vom Gesetz genannten Straferschwerungsgrund darstellt, demnach in den Entscheidungsgründen eines Strafurteils keinen sicheren Platz hat (vgl § 270 Abs 2 Z 5 StPO zum Inhalt der Entscheidungsgründe und zum Gebot, diese bloß gedrängt darzustellen), wäre es Sache des Vollzugsgerichts, die dazu notwendigen Sachverhaltsannahmen zu treffen, was schon aus prozessualen Gründen unsachgemäß wäre. Denn weder StVG noch StPO sehen ein geregeltes Beweisverfahren dafür vor; eine Bindung an den Akteninhalt ohne Überprüfungs- und Ergänzungsmöglichkeit aber wäre höchst problematisch.

 

              Zu Art V Z 6 und 7 (Einführung eines neuen Tatbestands der beharrlichen Gewaltausübung und Verjährungshemmung für eine qualifizierte Form derselben)

 

Der vorgeschlagene Tatbestand erscheint angesichts der fast vollständigen Erfassung sämtlicher darin genannter Merkmale durch das geltende StGB unzweckmäßig. Er führt weitgehend nur zu rechtlichen Schwierigkeiten und mit Blick auf die geltenden Strafsätze der infrage kommenden Tatbestände und den bereits geltenden Erschwerungsgrund des § 33 Z 1 StGB regelmäßig auch wohl kaum zu einer - offenbar angestrebten - höheren Straflast für den Täter. Für den Eintritt einer Körperverletzung genügen bereits geringfügige pathologische Veränderungen (vgl Burgstaller/Fabrizy in WK2 § 83 Rz 6), wobei auch bloß mit Misshandlungsvorsatz handelnde Täter eine Fahrlässigkeitshaftung trifft (§ 83 Abs 2 StGB). Schon der Grundtatbestand nach § 83 StGB ist mit bis zu einjähriger Freiheitsstrafe bedroht, bei einer - auch durch ein Psychosyndrom verwirklichten - Gesundheitsschädigung von über 24 Tagen ist bereits der in § 107b Abs 1 genannte Strafsatz erreicht, ohne dass es schwer zu bestimmender und mit Blick auf das im Strafrecht geltende strenge Gesetzlichkeitsprinzip bedenklicher Ausdrücke wie „längere Zeit“ in - gesetzlich nicht näher determinierter - Verbindung mit „fortgesetzt“ bedarf. Schon der Grundtatbestand der Freiheitsentziehung weist den für § 107b Abs 1 vorgeschlagenen Strafsatz auf, die in den Fällen dieser vorgeschlagenen Bestimmung wohl stets verwirklichte schwere Nötigung nach § 106 Abs 1 Z 2 oder 3 StGB hat einen Strafsatz, der sogar bis zu fünf Jahren reicht.

 

Durch Einbeziehung nicht auf Gewalt bezogener strafbarer Handlungen des dritten Abschnitts des Besonderen Teils des StGB wird dem Gewaltbegriff Gewalt angetan. Per definitionem gewaltlose Handlungen als Gewalt zu bezeichnen, verkennt den Appellcharakter von Strafvorschriften und die Wichtigkeit gleichsinniger Verwendung ein- und desselben Begriffs in ein- und demselben Gesetz, schon um die Bindungskraft solcher Ausdrücke zu gewährleisten.

Wird der Täter zwischen den einzelnen von § 107b Abs 2 angesprochenen Straftaten abgeurteilt, kommt der Tatbestand ohnehin nicht zur Anwendung; der gesteigerte Handlungs- und Erfolgsunwert wiederholter gleichartiger Straftaten aber wird durch den Erschwerungsgrund des § 33 Z 1 StGB abgedeckt.

Körperliche Misshandlungen gegen von § 107b Abs 3 erfasste Personen werden regelmäßig von § 92 StGB hinreichend poenalisiert, während die Strafsätze des zehnten Abschnitts des Besonderen Teils des StGB die zweite Alternative des § 107b Abs 4 ebenso regelmäßig mit keiner geringeren als der vorgeschlagenen Strafe sanktionieren (vgl erneut § 33 Z 1 StGB). Die erste Alternative des § 107b Abs 4 wird sachgerecht von §§ 99 Abs 2, 106 Abs 1 Z 2 StGB abgedeckt. Auch Abs 5 der vorgeschlagenen Bestimmung erscheint mit Blick auf die geltenden Strafsätze verzichtbar.

Nicht zuletzt wird angesichts der im Entwurf verwendeten auslegungsbedürftigen Begriffe (wann handelt der Täter zB „wiederholt“ iSd Abs 4?) auch mit Blick auf die Tatsache, dass die Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 10 StPO) es ermöglicht, die rechtliche Unterstellung unter eine mit gleicher Strafdrohung versehene strafbare Handlung mit Nichtigkeitsbeschwerde zu reklamieren, gehäuft mit Urteilsaufhebungen zu rechnen sein, was gerade in dem von § 107b erfassten Kriminalitätssegment zu hoher Belastung aller Beteiligten führt, sodass von der Einführung der neuen Bestimmung abgeraten wird.

 

Übrigens weisen auch die Erläuterungen zu § 107b dogmatische Ungereimtheiten auf:

Zum einen wird - ebenso wie übrigens zu Art V Z 3 bis 5 - für einen Sachverhalt statt des Begriffs „Straftat“ oder „Tat“ (vgl aber statt vieler die zentralen Bestimmungen der § 28 Abs 1 StGB, § 260 Abs 1 Z 1 StPO) der für rechtliche Kategorien vorgesehene Begriff der strafbaren Handlung verwendet („durch die Notwendigkeit der ... vorsätzlichen strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben oder gegen die Freiheit“), zum anderen können definitionsgemäß (§ 28 Abs 1 StGB, § 312 Abs 2 StPO) stets nur strafbare Handlungen konkurrieren, entweder ideell (also in einer Tat) oder real (also tatmehrheitlich), sodass nicht Taten durch andere Taten konsumiert werden können. Das solcherart dogmatisch unsauber angesprochene Scheinkonkurrenzverhältnis wäre weiters nicht jenes der Konsumtion, vielmehr jenes der Spezialität, da Gewaltausübung iSd § 107b Abs 2 zweiter Fall („vorsätzliche strafbare Handlungen gegen Leib und Leben oder gegen die Freiheit“) neben der Gesamtheit der von der jeweils begangenen strafbaren Handlung genannten Tatbestandsmerkmale auf von § 107b genannte weitere abstellt, sodass die strafbaren Handlungen im Verhältnis von Art und Gattung stehen und das Scheinkonkurrenzverhältnis demnach nicht auf bloßer Wertung, sondern begriffslogischer Abgrenzung durch den Lex-specialis-Grundsatz beruht.

 

              Zu Art VI  Z 1 und 2 (Prozessbegleitung für eine weitere Opferkategorie)

 

Grundsätzlich besteht gegen die vorgeschlagene Änderung kein Einwand. Hingewiesen wird jedoch erneut auf den bereits bei der Begutachtung des Strafprozessbegleitgesetzes I (Präs. 1619-1/07) hervorgehobenen Umstand, dass weder ein subjektives Recht auf Prozessbegleitung noch - trotz Kostenersatzpflicht nach § 381 Abs 1 Z 9 StPO - eine wirksame Beschwerde dagegen besteht.

 

 

 

 

 

 

              Zu Art VI  Z 3 (Klarstellung der Anzeigepflicht)

 

Die vorgeschlagene Bestimmung erscheint überflüssig, weil sich deren Inhalt aus dem geltenden Recht (§ 78 Abs 3 StPO) ohnehin klar ergibt.

 

              Zu Art VI  Z 4 (Anzeigepflicht für Obsorgepflichtige)

 

Die Vorschrift ist zu begrüßen. Die Einleitung zu § 78a Abs 2 sollte aber zur Vermeidung von Missverständnissen lauten: „Keine Pflicht zur Anzeige trifft eine Person, welche“. Ergänzend sollte, wie in den Erläuterungen problematisiert, das Aussageverweigerungsrecht nach § 157 Abs 1 Z 3 StPO in dem von der Anzeigepflicht erfassten Umfang entfallen.

 

              Zu Art VI  Z 7 (Abbrechung im Opferinteresse)

 

Die Vorschrift erscheint überflüssig und steht in einem - vom BMJ auch nicht übersehenen - echten Spannungsverhältnis zum Beschleunigungsgebot des Art 6 Abs 1 MRK. Dazu kommt, in den Erläuterungen ebenfalls zu Recht erwähnt, die nicht zu unterschätzende Gefahr einer unter Umständen berechtige Verteidigungsinteressen verletzenden Einflussnahme auf das während dieser Zeit einer Vernehmung entzogene Opfer und damit verbundene Beeinträchtigungen eines fairen Verfahrens und der Wahrheitsfindung insgesamt. Übrigens wäre das Wort „gegebenenfalls“ in § 197a Abs 1 als überflüssig zu streichen.

 

              Zu Art VI  Z 8 (Inkrafttreten verschiedener Bestimmungen)

 

In § 514 Abs 3 sollte statt „für die Verfolgung von strafbaren Handlungen gemäß § 20a Abs. 1“ gesagt werden: „für strafbare Handlungen gemäß § 20a Abs. 1“.

 

              Zu Art VII Z 1 (Gerichtliche Verlängerung der Tilgungsfrist)

 

Hier sollte klargestellt werden, ob unter einer unbedingten Strafe auch ein unbedingter Strafteil zu verstehen ist.

 

 

 

              Zu Art VII Z 2 (Erweiterung der Auskunftsberechtigten)

 

Die Vorschrift ist zu begrüßen.

 

Wien, am 13. Juni 2008

Hon.-Prof. Dr. Griss