Kinderschutz-Zentrum Linz

Langgasse 10

4040 Linz

Leitung

 

 

An das

Bundesministerium für Justiz

Museumstraße 7

1070 Wien

 

Per E-mail

 

                                                                                                       Linz, 8.6.2008

 

Entwurf für 2. Gewaltschutzgesetz

BMJ-B12.101/002-I 5/2008, Begutachtungsverfahren,

Anmerkungen zu §§ 78 Abs 3 und 78a STPO in der Fassung des Entwurfs

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Kinderschutz-Zentren arbeiten als freie Träger der Jugendwohlfahrt seit über 20 Jahren beratend und therapeutisch mit dem Thema familiärer und sexueller Gewalt. Aufgrund ihrer Erfahrung und professioneller Ausstattung sind sie als hoch spezialisierte Einrichtungen nicht nur für Klienten direkt, sondern auch als Fachberater für andere Institutionen tätig. In Oberösterreich sind darüber hinaus alle sechs Kinderschutz-Zentren mit der Prozessbegleitung von minderjährigen Opfern familiärer und sexueller Gewalt beauftragt.

Die folgende Stellungnahme, die sich im wesentlichen auf die geplante Erweiterung der Anzeigepflicht bezieht, wurde aus der Sicht der Kinderschutz-Zentren Oberösterreich verfasst und von diesen unterzeichnet.  

 

Ein grundlegendes und bewährtes Prinzip der Kinderschutzarbeit heißt

„Hilfe vor  Strafe“ und besagt, das Gewalt in Familien nur durch geeignete Hilfsmaßnahmen  beendet und nachhaltig verhindert werden kann. Dies schließt keineswegs aus, das dann, wenn es das Kindeswohl erfordert und zum gegebenen Zeitpunkt eine Anzeige erstattet wird.

 

26 Kinderschutz-Zentren in ganz Österreich arbeiten erfolgreich nach diesem Prinzip.

Kinderschutz-Zentren arbeiten präventiv auf verschiedenen Ebenen:

 

Die erweiterte uneingeschränkte Anzeigepflicht wird die Bereiche der Primär und Sekundärprävention stark behindern und den Zugang von Familien in die Beratungseinrichtung  verhindern. Sie ist deshalb für den Opferschutz von Minderjährigen völlig kontraproduktiv und ungeeignet.

 

Dies soll im Folgenden anhand von Beispielen nachvollziehbar gemacht werden. Dazu möchte ich zunächst den Blick auf diejenigen richten, um die es geht,

auf Kinder und Jugendliche die vor Gewalt dauerhaft geschützt werden sollen. Die Lage von minderjährigen Opfern von sexueller und familiärer Gewalt  ist sehr komplex und kennzeichnet sich ganz wesentlich durch die Abhängigkeit des Minderjährigen von seinem familiären Bezugssystem. Sobald ein Kind/ Jugendlicher die Gewalt, die er innerfamiliär erlebt preisgibt, stellt er sich gegen das System, von dem er existentiell abhängig ist und geht damit ein hohes Risiko ein. Aus diesem Grund ist der Vertrauensschutz, den wir derzeit diesen Opfern gewährleisten können, so existentiell für das Gelingen der Hilfe.

 

Kinderschutz gelingt nur dort, wo wir das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen gewinnen und uns dessen würdig erweisen. Die uneingeschränkte Anzeigepflicht untergräbt dies und geht darüber hinaus über  die professionelle Kompetenz von Experten hinweg, indem sie ihnen sämtliche Ermessensspielräume nimmt.

 

Wann und in welcher Form bei Gewalt in Familien Anzeige erstattet wird, muss unter Einhaltung des derzeit gesetzlich vorgegebenen Rahmens im Ermessen der dafür ausgebildeten Experten in den Beratungseinrichtungen und bei der Jugendwohlfahrt liegen. Die bislang vorhandenen Meldepflichten der Einrichtungen an die Jugendwohlfahrt sind ausreichend (s. § 286 STGB, § 2 STGB, § 80 STPO, § 37 JWG)

Die Jugendwohlfahrt hat die Meldung personenbezogen zu erfassen, zu überprüfen, den Schutz von Kindern/Jugendlichen zu gewährleisten und die Entscheidung zu treffen, ob Anzeige gemäß § 78 STPO zu erstatten ist.

Die sorgfältige Prüfung, wann Anzeige zu erstatten ist, hat sowohl ermittlungstechnische Überlegungen (z.B. bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch), als auch die Tatsache, dass für betroffene Opfer die Gewalt mit der Strafanzeige meist nicht endet, sondern lediglich andere Formen der Unterdrückung annimmt, zu berücksichtigen

 

Alle Opfer, die sich nicht in der Lage sehen, die Konsequenzen einer Strafanzeige einzuschätzen und zu tragen, sind durch die uneingeschränkte Anzeigepflicht zukünftig von jeglicher Beratungsmöglichkeit abgeschnitten, da sie mit der Anzeigeerstattung durch die Beraterin rechnen müssen.

 

Betroffene Opfer sind meist nur unter der Zusicherung von Vertraulichkeit zum sprechen bereit, es bedarf oft längerer Zeit, bis Opfer bereit und in der Lage sind, eine Strafanzeige zu machen. Sie müssen sich vor der Entscheidung zur Anzeige mit ihren Ängsten hinsichtlich der emotionalen Bindung innerhalb der Familie, mit den befürchteten Konsequenzen und ihrer Hoffnung, das Problem doch noch selbst lösen zu können auseinandersetzen. Dieser Prozess braucht Zeit und professionelle Begleitung. Die Erfahrungen in der Prozessbegleitung zeigen, dass  Kinder und Jugendliche ohne diese Vorbereitung dem Druck ihrer inneren Konflikte erliegen, die Aussage verweigern, oder sie zurücknehmen.

 

Die Prozessbegleitung würde durch die uneingeschränkte Anzeigepflicht unweigerlich in ihren Möglichkeiten beschnitten, da eine Anzeige gegen den Willen des Opfers eine neuerliche Grenzüberschreitung und einen Vertrauensbruch darstellt, der die weitere Beratungsbeziehung behindert.

 

Bsp. 1):  Eine 13jährige erlebt seit Jahren sexuelle Übergriffe durch den Stiefvater. Sie ist sich nicht gewiss, dass die Mutter ihr glauben wird,  Drohungen des Stiefvaters schüchtern sie ein. Als ihre Qual zu groß wird, wendet sie sich Rat und Hilfe suchend an die Lehrerin, die daraufhin das Kinderschutz-Zentrum einschaltet. Im Beratungsprozess wird Vertrauen aufgebaut, der Schutz des Mädchens vor weiteren Übergriffen sichergestellt und schließlich die Mutter mit einbezogen. Die Arbeit mit der Mutter ergibt, dass diese nach anfänglichen Zweifeln bereit ist, ihren Mann im Kinderschutz-Zentrum zu  konfrontieren und sich von ihm trennt. Da nun der äußere Rahmen für die Tochter genügend und verlässlich abgesichert ist, kann sie sich nun auch mit einer Strafanzeige gegen den Stiefvater einverstanden erklären. Die Anzeige wird von der Mutter mit Unterstützung durch Prozessbegleitung erstattet, auch das Mädchen wird in der Folge von ProzessbegleiterInnen unterstützt.

 

Die Angst vor den Konsequenzen einer unterlassenen  Anzeigepflicht und das Bedürfnis, sich der eigenen Verantwortungsübernahme in schwierigen Verdachtsfällen bei sexuellem Missbrauch oder anderen Formen von Gewalt in Familien zu entziehen, führt oft zu vorschnellen und falschen Entscheidungen, die eine sorgsame Arbeit und eine fachgerechte Interventionsplanung zur Abklärung verhindern.

 

Die uneingeschränkte Anzeigepflicht führt zu ungeplanten vorschnellen Entscheidungen und  behindert den nachhaltigen Schutz von Kindern

 

Entsprechend könnte sich das Szenario mit der uneingeschränkten Anzeigepflicht wie folgt  ändern:

a)      Die Lehrerin  erstattet gegen den Willen des Mädchens Anzeige. Die ermittelnde Polizei konfrontiert die Mutter  völlig unvorbereitet, sie kann  ihrer Tochter nicht glauben. Der Stiefvater bestreitet die Vorwürfe, kommt zwar kurzfristig in Haft, wird jedoch wieder freigesetzt, da das Mädchen, dass den Druck nicht aushält, ihre Vorwürfe völlig eingeschüchtert  zurückzieht. Das Verfahren wird eingestellt. Das Mädchen lebt weiter in der Familie und ist den Drohungen und Gefährdungen des Stiefvaters ungeschützt ausgesetzt.

 

Kinderschutz-Zentren bemühen sich in der Zusammenarbeit mit der Jugendwohlfahrt und allen für Kinder und Jugendliche bedeutsamen Bezugspersonen seit Jahrzehnten erfolgreich um eine fachgerechte Interventionsplanung, die auch die Strafanzeige zum gegeben Zeitpunkt einschließt. Diese Fälle verlaufen in der Regel gut und weniger spektakulär und werden daher der Öffentlichkeit nicht bekannt.

An dieser Stelle sei auch dringend verwiesen auf die Novellierung des Bundesjugendwohlfahrtsgesetzes, welches u. a. die notwendigen Meldepflichten an die Jugendwohlfahrt neu regelt und weiter optimiert.

 

Nach  U.Sachsse,  Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen, haben Menschen  „die Tendenz, Dinge auszublenden, die sehr schwierige Handlungen erzwingen würden“. Dies ist u. a. einer der Gründe, weshalb Mütter den Missbrauch ihrer Töchter oft so lange übersehen. Desgleichen spielt sich auf der Ebene von Kinder- und Jugendbetreuern, Lehrern, Sozialarbeitern u. a. ab, die die Konsequenzen einer Strafanzeige scheuen und die Signale der Kinder deshalb mehr oder weniger bewusst übersehen.

Obiges Beispiel könnte dementsprechend wie folgt weitergehen:

b)      Die Lehrerin spürt nach der Mitteilung des Mädchens  die Last  der Anzeigefolgen und scheut die eigene Verantwortungsübernahme. Sie blendet die Problematik des Mädchens aus, hört nicht wirklich  

     zu und reagiert  nicht auf die Mitteilung. Das Mädchen fühlt sich im

    Stich gelassen und zieht sich wieder zurück.

 

Die uneingeschränkte Anzeigepflicht fördert die Aufmerksamkeit für die Not von Kindern nicht, sondern führt eher zum wegschauen.

 

Bsp.2):  Eine Frau ruft im Kinderschutz-Zentrum an, weil sie mitbekommt, dass ihr Nachbar immer wieder die Kinder schlägt. Sie weiß von der Mutter der Kinder, dass diese nicht wagt, Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie vor Eingriffen des Jugendamtes Angst hat. Erst durch die Zusicherung einer vertraulichen Beratung lässt sich die Nachbarin überzeugen, die Hilfe des Kinderschutz-Zentrums in Anspruch zu nehmen. Im ersten Gespräch werden die Fakten und der Straftatbestand der Gewalt an Kindern mit der Möglichkeit der Strafanzeige  mit der Mutter erörtert. Es wird dann eine geeignete Vorgangsweise zur Beendigung der Gewalt und zum nachhaltigen Schutz der Kinder besprochen und mit Einverständnis der Mutter  die zuständige Jugendwohlfahrtsbehörde eingeschaltet. Eine Meldung an die Jugendwohlfahrtsbehörde würde erfolgen, wenn der Eindruck bestünde, dass eine weitere Gefährdung der Kinder nicht nachhaltig und verlässlich  abgewendet werden kann.

 

Vorgangsweisen dieser Art  haben sich in den Kinderschutz-Zentren seit Jahren sehr bewährt.

Allein im Kinderschutz-Zentrum Linz haben sich im Jahr 2008 315 Personen Rat gesucht, wie  mit Verdacht oder beobachteter Gewalt umzugehen ist. Dies ist das Resultat von präventiver Öffentlichkeitsarbeit mit der Kinderschutz-Zentren immer wieder zum Hinschauen und handeln aufrufen.

Wenn die Anzeige zwangsläufig das Resultat von Aufmerksamkeit ist, sind wir dem „vernadern“ sehr nah, wer das nicht will, schaut lieber wieder weg. Kinder in Not bleiben somit wieder ungesehen.

 

Bsp. 2)

Stellen sie sich eine Mutter vor, die aufgrund ihrer Überlastung mit drei kleinen Kindern in beengten Wohnverhältnissen ausrastet und ihre Kinder  schlägt.

Der Zugang dieser Mutter zur frühzeitigen Beratung in einer Familienberatungsstelle, Kinderschutzeinrichtung oder bei der Jugendwohlfahrt würde beschnitten, wenn sie mit einer Strafanzeige rechnen muß.

 

Vielfach gelangen wir nur dann in Kenntnis von strafbaren Handlungen, weil sich Menschen durch die Zusicherung der Schweigepflicht Hilfe suchend an uns wenden, dies war die Intention und ist der Erfolg des Strafprozessänderungsgesetzes von 1993.

 

Die uneingeschränkte Anzeigepflicht bedeutet einen Rückschritt hinter die Errungenschaften von 1993 und verhindert den frühzeitigen Zugang von Eltern in Not zur Beratung.

 

Im Vordergrund jeder Entscheidung, ob die Verschwiegenheitspflicht  gebrochen wird, steht das Wohl des Kindes und der Schutz vor weiterer Gefährdung. Kann der Schutz eines Kindes durch Maßnahmen der Beratungseinrichtung und Jugendwohlfahrt nicht gewährleistet werden, ist ohnehin nach der bestehenden Rechtslage Anzeige zu erstatten (vgl. § 78 Abs.3 STPO). Mit § 37 Abs. 1 Jugendwohlfahrtsgesetz 1989 besteht bereits jetzt eine Meldeverpflichtung bei Gefährdung des Kindeswohls an den Jugendwohlfahrtsträger, welche die berufsrechtlich und dienstvertraglich festgelegten Verschwiegenheitspflichten überlagert, wenn die Meldung zur Abwendung weiterer Gefährdung notwendig erscheint.

Die derzeitige Gesetzeslage ermöglicht in Fällen von Gewalt in der Familie ein fachgerechtes stufenweises Vorgehen, in dem die Strafanzeige durchaus als Druckmittel, sich auf das Betreuungsangebot einzulassen, sinnvoll angewendet werden kann.

 

Wir verweisen auch auf das Round-Table Gespräch  „ Anzeigepflichten im Fall des Verdachts von Gewalt an Kindern im sozialen Nahraum“ am 5.3.2008 im Justizministerium (s. Protokoll), bei dem die uneingeschränkte Anzeigepflicht vom eingeladenen Expertenkreis in eindeutig überwiegender Mehrheit abgelehnt wurde.

 

 

Zusammenfassend lässt sich feststellen:

Jegliche Vorgehensweise muss sich am Kindeswohl orientieren, Ziel ist die nachhaltige Beendigung der Gewalt. Die Entscheidung, was im Einzelfall dem Kindeswohl dienlich ist, wird heute und sollte auch in Zukunft von den fachlich dafür qualifizierten Personen im Bereich der Jugendwohlfahrt getroffen werden. Sie sind dafür ausgebildet, sie haben dafür geeignete Kooperations- und Vernetzungsstrukturen und sie können bei familiärer Gewalt umfassend handeln und entscheiden, zu welchem Zeitpunkt die Strafanzeige Ziel führend  für das Kindeswohl ist. Die Jugendwohlfahrtsbehörde muss mit ihren Einrichtungen in diesem Sinn die zuständige Behörde für das Kindeswohl und den Kinderschutz bleiben.

 

-         Verfrühte Anzeigen sind sowohl für den Opferschutz, als auch für das Kindeswohl kontraproduktiv, weil sie das Kind verstärktem Druck und Gefahr aussetzen und das Vertrauen in ein hilfreiches Helfersystem zerstören.

-         Die positiven Errungenschaften der Prozessbegleitung von Opfern werden durch die uneingeschränkte Anzeigepflicht zunichte gemacht: Der Zugang zur Erstberatung mit dem Ziel der Information, Klärung und Orientierung wird erschwert, das Opfer seiner Entscheidungsmöglichkeiten beraubt.

-         Das bestehende System der Melde- und Anzeigepflichten ermöglicht ein dem Opfer angemessenes, stufenweises Vorgehen, führt zur Akzeptanz und Unterstützung der Strafanzeige durch das Opfer und erhöht somit die Aussichten der Strafverfolgung effektiv.

-         Es kann und darf nicht sein, dass die derzeit noch unzureichende finanzielle Ausstattung der Jugendwohlfahrt dazu führt, dass die Sicherung des Kindeswohls Aufgabe von Polizei und Justiz wird. Alle Ministerien sind Resort übergreifend dazu aufgerufen hier  geeignete Bedingungen zu schaffen.

-         Oben angeführte Erwägungen zeigen, dass die vorgeschlagene erweiterte, verpflichtende Anzeige einen Rückschritt für den Opferschutz darstellt.

-         Die Positionen der Interventionsstellen zur erweiterten Anzeigepflicht entsprechen nicht der Sicht der Experten aus dem Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

 

Die Kinderschutz-Zentren Oberösterreich lehnen die verschärfte Anzeigepflicht in der vorliegenden Fassung entschieden ab.

 

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Barbara Künschner

Leiterin Kinderschutz-Zentrum Linz

 

Im Namen von:                        Kinderschutz-Zentrum Wigwam Steyr

                                               Kinderschutz-Zentrum Tandem Wels

                                               Kinderschutz-Zentrum Impuls Vöcklabruck

                                               Kinderschutz-Zentrum Känguru Bad Ischl

                                               Kinderschutz-Zentrum Innviertel