Bundesministerium für Justiz

Museumstrasse 7

1070 Wien

 

E-Mail: kzl.b@bmj.gv.at

 

 

ZAHL

DATUM

CHIEMSEEHOF

2001-BG-256/16-2008

13.6.2008

* POSTFACH 527, 5010 SALZBURG

 

 

landeslegistik@salzburg.gv.at

 

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2164

TEL  (0662) 8042 -

2290

 

 

Herr Mag. Feichtenschlager

 

BETREFF

Entwurf eines 2. Gewaltschutzgesetzes; Stellungnahme

Bezug: Zl BMJ-B12.101/0003-I 5/2008

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Zu dem im Gegenstand bezeichneten Gesetzentwurf gibt das Amt der Salzburger Landesregierung folgende Stellungnahme bekannt:

 

I. Allgemeines:

 

1. Das geplante Vorhaben stellt, so die Erläuterungen, „den ersten Teil der Umsetzung der im Ministerrat angenommenen Maßnahmenprogramme zum Schutz von Kindern vor Gewalt im sozialen Nahraum sowie gegen sexuelle Gewalt an Kindern“ dar. Die Ziele des geplanten Vorhabens, den Opferschutz (auch) von Minderjährigen zu verstärken, sind angesichts der jüngst bekannt gewordenen Fälle nachvollziehbar und werden, abgesehen von den im Pkt II und III besprochenen Regelungen begrüßt.

2. Die Darstellung der finanziellen Auswirkungen des geplanten Vorhabens entspricht insgesamt nicht der Vereinbarung zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden über einen Konsultationsmechanismus und einen künftigen Stabilitätspakt der Gebietskörperschaften (im Folgenden als „Vereinbarung“ bezeichnet).

Der den Ländern entstehende Aufwand für die auf Grund der geplanten §§ 78 und 78a StPO zu erwartenden Krisenunterbringungen (siehe dazu Pkt III, 1.6.5) wird erheblich sein. Die Kosten einer einzigen Krisenunterbringung übersteigen die Kosten einer (sonst durchzuführenden) ambulanten Unterstützungsmaßnahme um etwa 3.800 Euro pro Monat; die Mehrkosten bei einer an die Krisenunterbringung anschließenden Unterbringung in einer Sozialpädagogischen Wohngemeinschaft belaufen sich etwa auf 2.600 Euro pro Monat. Bei einer durchschnittlichen Verfahrensdauer eines gerichtlichen Obsorgeverfahren von 9 Monaten – zumindest für diese Dauer wird auch die Unterbringung notwendig werden – verursacht jeder zusätzlicher Fall eine Krisenunterbringung Mehrkosten in der Höhe von mindestens 24.400 Euro. Im Land Salzburg befinden sich derzeit etwa 670 Minderjährige in Maßnahmen der vollen Erziehung und 830 Minderjährige in Maßnahmen der Unterstützung der Erziehung. Jährlich fallen rund 700 Abklärungsverfahren an, die ihre Ursache in Gefährdungsmeldungen mit Hinweisen auf Missbrauch, Misshandlung und ausgeprägtere Formen von Verwahrlosung haben. Würde man nur in 10 % dieser Fälle das Vorliegen eines die Anzeigepflicht auslösenden Sachverhaltes annehmen, so ist mit zumindest 15 zusätzlichen Krisenunterbringungen jährlich zu rechnen. Daraus ergibt sich ein jährlicher Mehraufwand allein für das Land Salzburg in der Höhe von 366.000 Euro.

Diese Prognose berücksichtigt jedoch noch nicht die durch den geplanten § 107b StGB bewirkte Modifikation bzw Erweiterung des Bedeutungsinhaltes des strafrechtlichen Gewaltbegriffs. Soweit der geplante § 107b StGB auch bisher aus strafrechtlicher Sicht vernachlässigbares Verhalten oder „schwarze Pädagogik“ erfasst (siehe dazu Pkt II), ist davon auszugehen, dass für einen sehr erheblichen Teil der in ambulanten Maßnahmen der Jugendwohlfahrt betreuten Minderjährigen statt dessen Maßnahmen der vollen Erziehung einzuleiten wären. Der dadurch verursachte Aufwand wird auf sechs bis zehn Millionen Euro geschätzt.

Keine Aussage enthalten die Erläuterungen zu den Mehrkosten, die durch die im § 52a StPO geplante Überwachung von bedingt entlassenen Rechtsbrechern durch die Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt entstehen werden. Im Fall einer Realisierung dieser Maßnahme ist von einer erheblichen personellen Belastung der Länder als die Träger der Jugendwohlfahrt auszugehen.

Zur Wahrung seiner finanziellen Interessen wird das Land Salzburg daher gemäß Art 2 Abs 1 der Vereinbarung mit gesondertem Schreiben das Verlangen nach Aufnahme von Verhandlungen in einem Konsultationsgremium stellen.   

 


II. Zu Artikel V (Änderungen des Strafgesetzbuches):

 

Zu § 52a:

1. Gemäß dem geltenden § 52 Abs 2 StGB wird dem bedingt Entlassenen ein Bewährungshelfer bestellt, der sein Verhalten überwacht. Gemäß dem geplanten § 52a StGB ist der bedingt Entlassene für die Dauer der Probezeit unter gerichtliche Aufsicht zu stellen, soweit die Überwachung des Verhaltens des Rechtsbrechers notwendig oder zweckmäßig ist, ihn von weiteren solchen mit Strafe bedrohten Handlungen abzuhalten. Im Ergebnis wird damit zu der vor dem Strafrechtsanpassungsgesetz 1974 geltenden Rechtslage zurückgekehrt und das Institut der polizeilichen Aufsicht wieder eingeführt. Gemäß dem geplanten § 52a Abs 2 StGB kann sich das Gericht zur Überwachung des Verhaltens des Rechtsbrechers und der Erfüllung der ihm erteilten Weisungen der Bewährungshilfe, der Sicherheitsbehörden, der Jugendgerichtshilfe oder der Jugendwohlfahrt bedienen.

2.1. Unklar sind zunächst, nach welchen Kriterien das Gericht eine im § 52a Abs 2 StGB genannte Stelle auszuwählen hat, worin die Überwachungstätigkeit der im § 52a Abs 2 StGB angeführten Behörden und Institutionen konkret besteht und welche Befugnisse den mit der Überwachung betrauten Stellen dabei zukommen. Vor dem Hintergrund des Art 18 B-VG bestehen gegen die geplante Regelung der Überwachung von bedingt entlassenen Rechtsbrechern daher erhebliche Bedenken.

2.2. Aus dem zweiten Satz des Abs 2 ergibt sich, dass es sich bei der Überwachung von bedingt entlassenen Rechtsbrechern jedenfalls um eine hoheitliche Tätigkeit handelt, zumal die mit der Überwachung betrauten Stellen dem Gericht „über die von ihnen gesetzten Maßnahmen“ zu berichten haben. Auch dann, wenn sich die Überwachungstätigkeit bloß in der Mitteilung von Wahrnehmungen an das Gericht erschöpft, ist das als „schlichte Hoheitsverwaltung“ dem Bereich der Hoheitsverwaltung zuzurechnen. In kompetenzrechtlicher Hinsicht stützt sich das geplante Vorhaben auf Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG („Strafrechtswesen“; als Kompetenzgrundlage wäre auch Art 10 Abs 1 Z 7 B-VG („Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit“) denkbar); die Vollziehung von Regelungen zur Überwachung von bedingt entlassenen Rechtsbrechern ist daher in jedem Fall eine Angelegenheit des Bundes (vgl dazu auch Art 102 Abs 2 B-VG). Vor dem Hintergrund der Trennung der Vollzugsbereiche zwischen dem Bund und den Ländern ist daher eine Inanspruchnahme von Landesbehörden – „der Jugendwohlfahrt“ (Art 12 Abs 1 Z 1 B-VG) – zur Durchführung der Überwachung verfassungsrechtlich bedenklich.

3. Der geplante § 52a StGB erlaubt es den Gerichten, die Jugendwohlfahrt mit letztlich auch artfremden Tätigkeiten zu betrauen: Aufgabe der Jugendwohlfahrt ist, für die Betreuung der Mütter, der werdenden Mütter und ihrer Leibesfrucht von der Empfängnis an sowie der Säuglinge und ihrer Eltern zu sorgen und die Entwicklung Minderjähriger durch Hilfen zur Pflege und Erziehung zu fördern und erforderlichenfalls durch Erziehungsmaßnahmen zu sichern. Im Mittelpunkt der Tätigkeit der Jugendwohlfahrt steht daher das Kind und dessen Förderung, primär durch Stützung des familiären Systems, allenfalls auch durch die Herausnahme des Kindes aus dem Familiensystem, wenn die Eltern bzw die sonstigen Obsorgeberechtigten dem Wohl des Kindes schaden oder keinen entsprechenden Schutz des Kindeswohles gewährleisten können. Die Jugendwohlfahrt hat aber weder einen Auftrag zur Abwehr allgemeiner, von bedingt entlassenen Rechtsbrechern möglicherweise ausgehenden Gefahren noch die dazu erforderlichen fachlichen Instrumente und Handlungsmöglichkeiten.

4. Eine zusätzliche Konzentration der Tätigkeit der Jugendwohlfahrt auf die Täterarbeit würde auch mit der von der Bundesministerin für Justiz angestrebten Trennung von Opferschutz- und Täterarbeit kollidieren. Mit der Begründung einer Kollision von Opferschutz- und Täterarbeit wurde dem Verein Neustart die Opferschutzarbeit entzogen; es ist nicht einsichtig, warum die dieser Entscheidung zu Grunde liegenden, fachlich berechtigten Bedenken gerade für die Arbeit der Jugendwohlfahrtsträger keine Berechtigung haben sollten.

Zu § 107b:

Den Erläuterungen folgend wird der geltende strafrechtliche Gewaltbegriff insoweit in seinem Bedeutungsgehalt erweitert, als „auch die Ausübung psychischer Gewalt (…) zur Kriminalisierung nach § 107b StGB führen kann“. Für die Tätigkeit der Jugendwohlfahrt ist eine Klarstellung dahingehend unverzichtbar, ob auch dauerhafte „pädagogische Maßnahmen“ zur Erzielung bestimmter gewünschter Verhaltensweisen (wie etwa ein wiederholter Entzug des Essens oder Zimmerarrest) oder auch bestimmte, als Vernachlässigung zu qualifizierende Handlungen (wie regelmäßig fehlende Verpflegung, unterlassene ärztliche Versorgung oder generell fehlende Förderung) als Ausübung psychischer Gewalt im Sinn des § 107b StGB zu qualifizieren sind. Sollte der geplante § 107b StGB tatsächlich auch solche Handlungen erfassen, würde dies faktisch eine nahezu vollständige Verlagerung des Kinderschutzes von der Jugendwohlfahrt zur Strafrechtspflege bedeuten.

 

III. Zu Art VI (Änderung der Strafprozessordnung):

 

Zu den §§ 78 und 78a:

1. Vorbemerkung:

1.1. Ziel der geplanten §§ 78 und 78a ist den Erläuterungen folgend eine stärkere Betonung der Funktion der Anzeige als „in manchen Fällen notwendige Schutzmaßnahme für das Opfer“. Der Schutz des Vertrauensverhältnisses – so die Erläuterungen weiter – hat in diesem Fall gegenüber dem Schutz des Opfers vor weiterer Gefährdung und damit dem Schutz der Gesundheit als höherwertige Güter zurückzutreten. Vor dem Hintergrund des Kindeswohls sollte die entscheidende Frage jedoch sein, welche Institution – die Jugendwohlfahrt oder die Strafgerichte – das Kind wirksamer schützen kann.

1.2. Eine generelle Bewertung des geplanten Vorhabens ergibt jedoch, dass dessen Auswirkungen auf das seit Jahrzehnten etablierte und laufend weiterentwickelte zentrale Kinderschutzinstrument der Jugendwohlfahrt nicht ausreichend bedacht wurden. Vor allem die aktuellen Bemühungen einer Verbesserung des Systems der Meldepflichten an die Jugendwohlfahrt als der zentralen Schaltstelle des Kinderschutzes werden durch die geplanten §§ 78 und 78a unterlaufen und in Frage gestellt.

1.3. Die Übertragung des aus dem Bereich des familiären Gewaltschutzes bekannte und bewährte Modell des Opferschutzes auf den Bereich der Minderjährigen berücksichtigt die doch erheblichen Besonderheiten der Opfergruppe der Minderjährigen nicht ausreichend: Die zentrale Schaltstelle des Kinderschutzes ist der jeweilige Jugendwohlfahrtsträger, der Hinweise auf allfällige Gefährdungslagen von Minderjährigen zu prüfen hat. Dabei hat der Jugendwohlfahrtsträger von einem weiten Gefährdungsbegriff auszugehen, der einen weiteren Personenkreis als Schutzsubjekte erfasst als der im § 65 Z 1 STPO verwendete Begriff des Opfers. Im Rahmen eines Abklärungsverfahrens, das der Jugendwohlfahrtsträger nach jeder Gefährdungsmeldung einzuleiten hat, wird nach der Feststellung eines Übergriffes selbstverständlich auch die Frage nach der Erstattung einer Strafanzeige gestellt und ein allfälliges Absehen von einer Strafanzeige auch schriftlich begründet. Da Kinder in aller Regel – trotz negativer Erlebnisse und schädigender Einflüsse im Elternhaus – eine intensive Beziehung und vor allem auch Bindung zu den Eltern haben und auch ihr Zuhause nicht verlieren möchten, versucht die Jugendwohlfahrt mit einer an den Bedürfnissen der Minderjährigen orientierten lösungsorientierten Sichtweise zu arbeiten. Ziel ist, nach Möglichkeit die Lebensbedingungen der betroffenen Minderjährigen in der Familie zu verbessern und den Abbruch von familiären Bindungen nur dort vorzunehmen, wo es der Schutz der Minderjährigen erfordert. Diese Zielsetzungen werden durch die geplanten §§ 78 und 78a StPO unterlaufen, wobei ausdrücklich zu betonen ist, dass es keinesfalls darum geht, strafrechtlich relevante Vergehen oder gar Verbrechen zu verschleiern, sondern – abhängig vom Einzelfall - unnötige Bindungsabbrüche zu vermeiden und das für die Arbeit als Jugendwohlfahrt nötige Vertrauensverhältnis vor allem und zuerst mit dem betroffenen Minderjährigen, aber auch mit dem sonstigen Familiensystem zu erhalten.

1.4. Die geplanten §§ 78 und 78a scheinen von der Vorstellung auszugehen, dass die minderjährigen Opfer von (familiärer) Gewalt und sexuellem Missbrauch grundsätzlich die gleiche persönliche Reife und Fähigkeit hätten, Beziehungen ausreichend zu reflektieren und sich aus schädlichen Beziehungen ohne gröbere Schäden zu lösen, wie volljährige Personen und dass durch die strafrechtliche Verfolgung von Tätern im Familienkreis in jedem Fall der Schutz von Kindern gewährleistet werden kann. Bekannt ist jedoch, dass bereits schon jetzt nur ein kleiner Teil der angezeigten Sexualstraftäter tatsächlich verurteilt wird (so liegt die Quote der Verurteilen bei den Delikten der §§ 206 und 207 StGB seit Jahren deutlich unter einem Drittel).

Durch die auf Grund der geplanten Anzeigepflicht zu erwartende Erhöhung der Zahl der Strafanzeigen ist aber keine Erhöhung der Quote der Verurteilungen im gleichen Ausmaß zu erwarten, vielmehr werden nunmehr auch solche Fälle zur Anzeige gelangen, bei denen die Beweislage noch dürftiger ist. Der Einräumung des Vorrangs des Strafanspruchs des Staates vor dem dauerhaften Schutz- und Entwicklungsinteresse des minderjährigen Opfers kann daher vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten des Beweisverfahrens und im Wissen um die (familiären) Probleme nach dem Abschluss eines Strafverfahrens nicht beigepflichtet werden. Das Problem des Kinderschutzes in der Familie ist und bleibt die potentielle Rückkehr des Täters in die Familie, sei es nach dem Ende einer Haftstrafe oder der Untersuchungshaft, nach dem Ende einer Wegweisung, einer Einstellung des Strafverfahrens oder gar nach einem Freispruch. Insbesondere in den Fällen einer Verfahrenseinstellung oder eines Freispruchs wird es der Jugendwohlfahrt weitaus schwerer fallen, die für eine Kooperation und Unterstützung des minderjährigen Opfers und der Familie unbedingt nötige Akzeptanz zu finden. Nahezu ausgeschlossen wird dies sein, wenn die Anzeige durch die Jugendwohlfahrt selbst erfolgt ist, obwohl der Schutz der minderjährigen Person auch auf eine andere – aus fachlicher Sicht mehr Erfolg versprechende – Weise hätte gewährleistet werden können. Vor dem Hintergrund der zu erwartenden Erschwernisse für die Jugendwohlfahrt, einigermaßen vertrauensvolle und tragfähige Arbeitsbeziehungen mit dem Opfer und seinem familiären Umfeld aufzubauen, stellt sich doch die grundsätzliche Frage, ob die geplante Ausweitung der Anzeigepflicht tatsächlich eine Verbesserung des Opferschutzes für alle Opfergruppen erwarten lässt. Unter den Fachexperten der Jugendwohlfahrt und der kooperierenden Helfersysteme besteht nahezu einhellig die Meinung, dass wirklicher und nachhaltiger Opferschutz von Minderjährigen auch hinsichtlich der Frage einer Anzeigeerstattung mit all ihren Konsequenzen eine an den konkreten Umständen des Einzelfalles orientierte Entscheidung erfordert. Der geltende § 78 StPO erlaubt im Gegensatz zu den geplanten §§ 78 und 78a StPO eine Bedachtnahme auf diese Umstände.

1.5. Die in den Erläuterungen zum Ausdruck gebrachte Erwartung, dass die offenbar durch die mangelnde Präzision des geltenden § 78 StPO bedingten Fehleinschätzungen durch die geplante generelle Anzeigepflicht vermieden werden können, wird nicht geteilt: Ein Großteil der Probleme des Kinderschutzes wird sich lediglich auf einer anderen Ebene manifestieren, neue Probleme, insbesondere in der Zusammenarbeit aller Helfersysteme, die Strafrechtspflege eingeschlossen, oder durch den Verlust von Handlungsoptionen werden überhaupt erst neu entstehen.

1.6. Ob die geplante Ausweitung der Anzeigepflicht tatsächlich auch einen Mehrwert für den und im Bereich des Kinderschutzes bewirken kann, wird auch aus folgenden Gründen massiv bezweifelt:

1.6.1. Die Pflicht zur unverzüglichen Anzeige erlaubt keine im Interesse des minderjährigen Opfers notwendige ausreichende Abwägung der Erfolgsaussichten einer strafgesetzlichen Verfolgung. Im Ergebnis werden daher etliche Minderjährige von einem Strafverfahren berührt, obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Täters gering ist und die Minderjährigen vor allem in den Fällen einer Verfahrenseinstellung oder eines Freispruchs weiterhin mit dem Täter im Familiensystem verbunden sein werden. Retraumatisierung und Loyalitätskonflikte für die betroffenen Opfer sind die Folgen. Das minderjährige Opfer wird im verbleibenden Familiensystem oft auch als Grund für den Zerfall der Familie gesehen und in weiterer Folge gelegentlich auch so behandelt.

1.6.2. Derzeit ist es der Jugendwohlfahrt bei Sexualstraftaten möglich, den Schutz des betroffenen Minderjährigen durch eine Versorgung und Betreuung außerhalb der Familie sicherzustellen und eine Strafanzeige erst dann – auch Jahre später – zu erstatten, wenn sich der betroffene Minderjährige auch persönlich in der Lage sieht, im Verfahren zu bestehen. Die geplanten §§ 78 und 78a StPO beseitigen diese dem Interesse der Minderjährigen weitgehend Rechnung tragende Möglichkeit. Um eine Anzeige zu vermeiden, muss das minderjährige Opfer die Tatsache eines Übergriffes gegenüber dem Helfersystem verschweigen, was eine unverantwortbare psychische Belastung für den betroffenen Minderjährigen bedeutet und diese in weiterer Folge auch von den Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten, insbesondere auch von Therapieangeboten, ausschließt. Es wird in verstärktem Ausmaß zu Anzeigen und Strafverfahren – auch gegen den ausdrücklichen Willen des minderjährigen Opfers – kommen, in denen das minderjährige Opfer mit all den für ihn bekannten negativen Folgen von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht. Wem – außer einer Verwirklichung des staatlichen Strafanspruches – dient in solchen Fällen die Strafverfolgung?

1.6.3. Da die geplante Anzeigepflicht alle Personen trifft, „denen die Pflege und Erziehung oder sonst die Sorge für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen obliegt“,  ist einerseits zu befürchten, dass die Betreuungs- und Beratungsangebote gerade von Problemfamilien vorbeugend nicht mehr in Anspruch genommen werden und dass andererseits misshandelte oder missbrauchte Kinder nicht mehr einer ärztlichen Behandlung zugeführt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass etliche Misshandlungs- oder Missbrauchsfälle, für die derzeit entsprechende Hilfestellungen angeboten werden können, eben weil sie bekannt geworden sind, künftig unerkannt bleiben werden.

1.6.4. Die Handlungsmöglichkeiten der Jugendwohlfahrt werden durch die Anzeigepflicht erheblich eingeschränkt: Zum einen muss unter erschwerten Bedingungen eine Vertrauensbasis zur Familie (wieder) erarbeitet werden, was in vielen Fällen gar nicht mehr möglich sein wird, zum anderen kann die Kooperationsbereitschaft der Familie auch nur mehr schwer eingefordert werden, insbesondere dann, wenn ein auf Grund
einer Anzeige der Jugendwohlfahrt eingeleitetes Strafverfahren mit einer Einstellung
oder einem Freispruch geendet hat. Der Jugendwohlfahrt wird auch die Möglichkeit, eine Kooperation mit dem „sanften“ Hinweis auf eine andernfalls einzuleitende strafrechtliche Verfolgung einzufordern, aus der Hand genommen.

1.6.5. Die Verpflichtung zu einer unverzüglichen Anzeigeerstattung wird auch zur Folge haben, dass in wesentlich mehr Fällen als bisher minderjährige Opfer wegen vermeintlicher Gefahr im Verzug aus der Familie herausgenommen werden, insbesondere dann, wenn der Verdächtige weiterhin im Familienverband verbleiben kann oder zumindest Zugang dazu hat und Zweifel an der Fähigkeit des anderen Elternteiles bestehen, das Opfer adäquat beschützen zu können. Dem die Jugendwohlfahrt bei Interventionen in Familiensysteme beherrschenden Gebot des Einsatzes des gelinderen Mittels kann im Hinblick darauf nicht mehr voll entsprochen werden; Eingriffe in das Familiensystem geraten so auch in das Spannungsfeld zu Art 8 MRK. Es ist daher auch mit der Zunahme von Anträgen gemäß § 215 ABGB an die Pflegschaftsgerichte zu rechnen. Die jetzt schon lange Verfahrensdauer in Obsorgeangelegenheiten wird sich daher zum abermaligen Nachteil der betroffenen Minderjährigen nochmals erhöhen.

1.6.6. Letztlich besteht auch die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass die der Anzeigepflicht gemäß § 78a StPO unterliegenden Personen in Obsorge- und Nachbarschaftsstreitigkeiten instrumentalisiert werden; die Jugendwohlfahrt hat schließlich allen einschlägigen Hinweisen, auch anonymen, nachzugehen. Wird die unverzügliche Anzeige unterlassen, so setzen sich die einzelnen Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt dem Vorwurf des Amtsmissbrauches aus.

1.7. Die geplanten §§ 78 und 78a StPO sind nicht mit dem im Bereich des Kinderschutzes bereits etablierten Anzeige- und Meldesystem abgestimmt. So bleibt für Ärzte die eingeschränkte Anzeigeverpflichtung gemäß § 54 ÄrzteG unberührt. Unklar ist daher, inwieweit die Ärzte, im besonderen Allgemeinmediziner, von der im § 78a StPO geplanten Anzeigepflicht erfasst werden oder ob diese Bestimmung nicht doch von der spezielleren Bestimmung des § 54 ÄrzteG verdrängt wird. Unklar ist auch, welche Funktion die derzeit bestehenden Meldepflichten der verschiedenen Berufsgruppen und der im Auftrag der Jugendwohlfahrt tätigen Personen (§ 37 JWG, § 48 SchUG) an die Jugendwohlfahrt noch haben können.

Im Interesse eines verbesserten Kinderschutzes ist eine besser strukturierte Meldeverpflichtung an die Jugendwohlfahrt vordringlich. Die in den §§ 78 und 78a geplante Anzeigepflicht wird dagegen abgelehnt, vielmehr sollte die derzeit geltende Regelung beibehalten werden.

2. Zu § 78:

Gemäß dem geltenden Abs 2 Z 1 besteht eine Pflicht zur Anzeige dann nicht, wenn die Anzeige eine amtliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf. Diese Einschränkung der Anzeigepflicht ist im Interesse eines nachhaltigen Opferschutzes für Minderjährige notwendig und auch sachgerecht (vgl dazu auch die diesbezüglichen, unverändert zutreffenden Ausführungen in den Erläuterungen zum Strafprozessänderungsgesetz 1993, BlgNR 924, XVIII. GP, sowie den Erlass des Bundesministers für Justiz vom 9. Dezember 1999, Zl 415.003/58-II.3/1999). Gemäß dem geltenden Abs 3 hat die Behörde oder öffentliche Dienststelle alles zu unternehmen, was zum Schutz des Opfers oder anderer Personen vor Gefährdung notwendig ist und „erforderlichenfalls auch in den Fällen des Abs 2 Anzeige zu erstatten“. Diese Bestimmung trägt dem Schutzinteresse des Opfers weitgehend Rechnung.

Der geplante Entfall des Wortes „erforderlichenfalls“ im Abs 3 dehnt die Anzeigepflicht in einer sachlich nicht notwendigen Weise aus und engt im Gegensatz dazu den Beurteilungsspielraum der Behörde ein. Der geplante Wortlaut des Abs 3 geht auch über die Erläuterungen hinaus, die davon sprechen, dass eine Anzeigepflicht nur dann bestehen soll, wenn „nur durch ein Einschreiten von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft der Opferschutz sichergestellt werden kann“. Diese Einschränkung ist durchaus sinnvoll, kommt im Text des geplanten Abs 3 aber nicht zum Ausdruck.

3. Zu § 78a:

3.1. Die neue Bestimmung des § 78a StPO verpflichtet alle Personen, „die von Rechts wegen eine Schutzpflicht zugunsten der körperlichen oder seelischen Integrität des Minderjährigen trifft“, zur unverzüglichen Anzeigeerstattung an die Kriminalpolizei oder an die Staatsanwaltschaft, wenn „auf Grund bestimmter Tatsachen der Verdacht [besteht], dass ein Minderjähriger Opfer einer im § 65 Z 1 lit a bezeichneten Tat geworden sein könnte“. Den Erläuterungen folgend hat § 78a StPO primär die Eltern, Pflegeeltern, Kindergärtnerinnen, Erzieher und Schulärzte im Auge, allerdings trifft die Anzeigepflicht auch die Jugendwohlfahrtsträger in den Angelegenheiten der Privatwirtschaftsverwaltung. Im Gegensatz zum § 78 StPO enthält der geplante § 78a StPO keine Möglichkeit einer Bedachtnahme auf ein bestehendes Vertrauensverhältnis und auch keine weitere, auf die Wahrung des Kindeswohls abzielende Einschränkung der Anzeigepflicht.

Die §§ 78 und 78a StPO unterscheiden daher in Bezug auf die (Bedingtheit der) Anzeigepflicht danach, ob der Jugendwohlfahrtsträger hoheitlich oder privatrechtlich handelt: Im ersten Fall sind zumindest Bereiche denkbar, in denen eine Anzeigepflicht nicht besteht, dagegen besteht im zweiten Fall eine unbedingte Anzeigepflicht. Diese Unterscheidung ist nicht nur sachlich nicht nachvollziehbar, sie steht auch einer Österreich weit einheitlichen Anzeigepflicht entgegen, zumal es der jeweilige Gesetzgeber in der Hand hat, durch die Festlegung der Handlungsformen des Jugendwohlfahrtsträgers eine unbedingte oder eine nur bedingte Anzeigepflicht zu begründen.

3.2. Unter „Gewalt“ im Sinn des § 65 Z 1 lit a StPO ist jede Form von körperlicher Misshandlung zu verstehen. Es sollte jedoch klar gestellt werden, ob eine Anzeigepflicht gemäß § 78a StPO auch im Fall eines konkreten Verdacht, dass in einer Familie „beharrlich“ (§ 107b StGB) „Erziehungsmittel“ der „g'sunden Watsch'n“ gegriffen wird, besteht. Derartiges ist zwar als Erziehungsmittel untauglich und sollte nur in diesem Sinn als Gewalt gewertet werden, ansonsten gerade eine gegenteilige Wirkung die Folge sein könnte, aber als Gewalt in diesem Sinn gewertet wenn anderenfalls eingeleitete Strafverfahren etwa aus dem Grund einer mangelnden Strafwürdigkeit der Tat eingestellt werden. Darüber hinaus wird zu bedenken gegeben, dass in den weniger gravierenden Fällen der Schutz der Kinder und das Kindeswohl insgesamt wohl besser durch den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses des Helfersystems zur Familie, durch Überzeugungsarbeit, Hilfsangebote und durch die Arbeit mit dem Täter gefördert werden können. Eine Pflicht zur Anzeige an die Sicherheitsbehörden oder an die Staatsanwaltschaft durch den Jugendwohlfahrtsträger würde dies dagegen in etlichen Fällen wesentlich erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen.

 

Gleichschriften dieser Stellungnahme ergehen ue an die Verbindungsstelle der Bundesländer, an die übrigen Ämter der Landesregierungen, an das Präsidium des Nationalrates und an das Präsidium des Bundesrates.

 

 

Mit freundlichen Grüßen

Für die Landesregierung:

Dr. Heinrich Christian Marckhgott

Landesamtsdirektor

 

 

Ergeht nachrichtlich an:

1. – 8. E-Mail an: Alle Ämter der Landesregierungen

9.       E-Mail an: Verbindungsstelle der Bundesländer vst@vst.gv.at

10.     E-Mail an: Präsidium des Nationalrates begutachtungsverfahren@parlinkom.gv.at

11.     E-Mail an: Präsidium des Bundesrates peter.michels@parlament.gv.at

12.     E-Mail an: Bundeskanzleramt vpost@bka.gv.at

13.     E-Mail an: Institut für Föderalismus institut@foederalismus.at

14.     E-Mail an: Büro Landesrätin Erika Scharer

15.     E-Mail an: Abteilung 2 zu do Zl 202-164/61-2008

16.     E-Mail an: Abteilung 3 zu do Zl 20300-2/610/25-2008

17.     E-Mail an: Abteilung 8 zu do Zl 20801-47.218/14-2008

zur gefl Kenntnis.